Es könnte in Gewalt münden
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Die britische Regierung verhandelt mit der EU erneut über das Nordirland-Protokoll. In dem britischen Landesteil gelten zum Ärger von Premier Johnson weiterhin die EU-Regeln. Eine Abkehr könnte wieder in Gewalt münden.
"Jeder irische Bürger begrüßt erleichtert und dankbar die heute verkündete Entscheidung von einem Ende der 25-jährigen IRA-Kampagne. Das ist ein Tag, von dem viele schon geglaubt haben, ihn nicht mehr zu erleben. Ein langer Albtraum geht zu Ende."
Irlands Ministerpräsident Albert Reynolds begrüßt am 31. August 1994, dass die IRA – die Irisch-Republikanische Armee – alle militärischen Aktionen einstellen will. Die Republik Irland und Großbritannien hatten sich zuvor auf Friedensgespräche verständigt und darauf, den politischen Arm der IRA, die Sinn Féin-Partei, dabei voll einzubeziehen.
„Wir glauben, dass eine gerechte und dauerhafte Vereinbarung getroffen werden kann“, sagt mit verfremdeter Stimme ein anonymer Sprecher der IRA zum Waffenstillstand. Und dann: „Es ist unser Wunsch, zu einem Klima beizutragen, in dem das möglich ist. Wir mahnen jeden, die neue Situation mit Energie, Entschlossenheit und Geduld anzugehen.“
Brexit bringt gelöstes Problem wieder hervor
Vier Jahre später unterzeichnen der britische Premier Tony Blair und der irische Ministerpräsident Bertie Ahern nach langem Ringen das Karfreitagsabkommen. Es sichert bis heute den Frieden in Nordirland, nach Jahrzehnten blutiger Auseinandersetzungen zwischen katholischen Republikanern und protestantischen Unionisten, zwischen Pro-Iren und Pro-Briten. Er könne die Hand der Geschichte auf seiner Schulter fühlen, sagte 1998 Tony Blair.
Der Brexit stellt alles wieder in Frage, sagt 2021 Bertie Ahern: „Der Brexit hat das alte Problem wieder heraufbeschworen, das wir 1998 gelöst glaubten: Die Identitätsfrage. Dass man nur britisch oder irisch sein kann und nicht beides. Diesen Streit haben wir erfolgreich geschlichtet zwischen 1998 und dem Brexit-Referendum. Und nun ist er wieder da.“
Taxi-Tour mit Ex-Bombenleger Gerard
Identität in Nordirland: Was das nach dem Brexit bedeutet, was es vor dem Karfreitagsabkommen bedeutet hat und wie die Menschen damit umgehen – dafür bietet Nordirlands Hauptstadt reiches Anschauungsmaterial.
In Belfast hat sich Yellow Umbrella Tours auf historische Stadtführungen für Touristen spezialisiert. Die Idee: Zeitzeugen fahren mit ihren Gästen im Taxi an Schauplätze der Troubles, der Unruhen, und erzählen ihnen, wie es war und wie es ist, in Nordirlands immer noch geteilter Hauptstadt zu leben. Die Touren bestehen aus zwei Fahrten: Eine führt durch katholische, die andere durch protestantische Wohnviertel.
„Ich heiße Gerard und meine Vorgeschichte ist einfach“, sagt der erste Taxi-Fahrer zu Beginn der Tour mit seinem etwas klapprigen traditionellen Black Cab. Gerard ist 59, klein, schmal, ziemlich faltig. Seinen Nachnamen möchte er nicht nennen. Er stellt sich als irischer Republikaner vor und hat mit der Waffe gegen die britische Seite gekämpft. Zweimal saß er dafür im Gefängnis.
„Das erste Mal haben sie mich gekriegt, als ich eine Bombe im Stadtzentrum gelegt habe. Wir haben sie an der Zentrale der Unionist Party deponiert. Die hatten da gerade eine Versammlung. Und wir haben versucht, sie alle auf einen Schlag zu töten.“
Anfang der 80er-Jahre war das, kurz nach dem Hungerstreik von IRA-Gefangenen, bei dem sieben Männer starben. Es sind republikanische Helden. Ihre Konterfeis schmücken zahlreiche Häuserwände rund um die katholische Falls Road in Belfast. Gerard zeigt den Touristen die Wandmalereien. Und er fährt sie zu den Peace Lines: viele Meter hohe Zäune und Mauern, die bis heute die republikanischen von den royalistischen Vierteln trennen.
Gerard hat Jahre gebraucht, um den Krieg innerlich hinter sich zu lassen. Heute versteht er sich als Friedensarbeiter, deshalb macht er die Taxi-Touren. Trotzdem käme es ihm nie in den Sinn, auf der unionistischen Seite ins Pub zu gehen oder einzukaufen. Wir verkehren einfach nicht miteinander, sagt er. Es herrsche kein Frieden in Belfast, bloß Abwesenheit von Gewalt.
Im Taxi des pro-britischen Kämpfers Frank
Nach einer guten Stunde stoppt Gerard sein Taxi an der letzten Peace Line auf seiner Strecke. Dort wartet schon ein anderes Taxi: Das von Frank. Sein Job ist es, den Touristen die andere Seite zu zeigen, das unionistische Belfast, die Viertel um die protestantische Shankill Road. Die beiden Männer wechseln ein paar Worte. Mehr nicht. Obwohl sie für dasselbe Unternehmen arbeiten, haben sie sich nicht viel zu sagen.
Frank ist 62 Jahre alt, grauer als Gerard, etwas fülliger. Sein Taxi ist neuer, leiser und komfortabler. In den Unruhen hat er auf der britischen Seite gekämpft. Beim Militär. Aber er lässt durchblicken, dass er auch bei unionistischen Paramilitärs aktiv war. Hat er jemanden getötet? Könne er nicht sagen.
Franks Taxi-Tour ist mit Leichen regelrecht gepflastert. Jeder Halt auf der Fahrt durch die mit zahlreichen Union Jacks beflaggten Straßen markiert Anschläge der IRA. Viele der Opfer hat Frank persönlich gekannt. Als er ein Schulkind war, wurde auf ihn geschossen. Er ist mehrmals nur knapp mit dem Leben davongekommen.
Wie Gerard war Frank voller Hass auf die andere Seite. Auch er hat lange gebraucht, um sich für friedliche Koexistenz in seiner Stadt einzusetzen. Wie Gerard bleibt Frank trotzdem lieber auf seiner Seite der Peace Lines.
Die erste davon hat Franks Onkel, ein Parlamentsabgeordneter, festgelegt. 1969 war das. Die Briten gaben ihm eine Landkarte, eine andere gaben sie der IRA. Die beiden Männer sollten die Grenze zwischen einem katholischen und einem protestantischen Wohnviertel einzeichnen:
„Sie sagten: Wir wissen nicht, wo die Trennung verläuft. Zeichnet ihr es ein. Und wir trennen die beiden Gemeinden dann für 48 Stunden. 51 Jahre später ist die Grenze immer noch da.“
Jugendliche randalieren wieder in Belfast
An einer dieser Grenzen haben im Frühjahr Jugendliche randaliert.
Von der unionistischen, also britischen Seite flogen Brandbomben über den Zaun zu den Republikanern. Die Polizei brauchte Tage, um die Lage wieder zu beruhigen. Das gesamte Königreich war alarmiert.
Zwar hat es seit dem Karfreitagsabkommen immer mal wieder politische Gewalt gegeben in Nordirland. Aber das hier war anders. Es war größer und hatte einen sehr grundsätzlichen Anlass: Das Nordirland-Protokoll. Jenes komplizierte Konstrukt, das eine harte Grenze auf der irischen Insel auch nach dem Brexit ausschließen soll und deshalb eine Handelsgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien in der Irischen See geschaffen hat.
Die nordirischen Pro-Briten fühlen sich abgetrennt vom Rest des Königreichs, verraten von London. Wie der 19-jährige Joel, der bei den Frühlingsunruhen dabei war.
„Sinn Féin gewinnt. Die Republikaner gewinnen. Und unsere Identität ist unter Beschuss.“
Joel klingt bitter, als er das sagt. So hört es sich an, wenn die Identitätsfrage in Nordirland wieder auf dem Tisch liegt. Erst kürzlich haben vermummte Unionisten zwei Busse entführt, die Passagiere herausgetrieben und die Fahrzeuge dann angezündet. Busse in lodernden Flammen – so sieht es aus, wenn das Identitätsproblem die Nordiren wieder akut umtreibt.
Hollywood-Star Liam Neeson als Unterstützer
In seinem Wahlkreisbüro in Ballymena, eine halbe Autostunde nördlich von Belfast, erzählt Ian Paisley Jr. Geschichten zu den Fotos, mit denen alle vier Wände gepflastert sind. Der Raum hat keine Fenster. Durch die hätten im Nordirland-Konflikt Heckenschützen schießen können. Ein Foto zeigt den prominenten unionistischen Politiker neben einem noch prominenteren Mann: dem Hollywood-Star Liam Neeson.
Liam Neeson stammt aus Ballymena und kommt oft zu Besuch. Er ist ein einflussreicher Förderer der 30.000-Einwohner-Stadt im Wahlkreis North Antrim, den Paisley Jr. als Abgeordneter im britischen Unterhaus vertritt.
Ian Paisley gehört der Demokratischen Unionisten-Partei an, der DUP, die sein Vater, der protestantische Hardliner gleichen Namens, vor 50 Jahren gründete. – Ob Liam Neeson die Paisley-Partei wählt?
Er glaube nicht, dass Neeson jemals DUP gewählt habe, aber das sei schon okay. Solange seine Partei die Mehrheit habe.
DUP will keine Sonderregeln für Nordirland
Ian Paisleys Problem ist, dass die DUP keine Mehrheit mehr hat. Nach zwei Jahrzehnten, in denen das anders war. Die nächsten regulären Wahlen sind für den kommenden Mai angesetzt. Und in den jüngsten Umfragen führt die pro-irische Partei Sinn Féin stabil mit drei bis vier Prozent der Stimmen.
Ian Paisley und seine Parteigenossen argumentieren, ihre pro-britischen Anhänger seien enttäuscht von dem, was die Politiker in London und Brüssel aus dem Brexit gemacht hätten. Die meisten Unionisten in Nordirland haben 2016 für den EU-Austritt gestimmt. Innerhalb Nordirlands waren sie damit in der Minderheit. Aber das spielt für Ian Paisley keine Rolle.
„Wir haben keinen richtigen Brexit in Nordirland. Egal, ob die Leute dafür oder dagegen waren – Tatsache ist, dass das Vereinigte Königreich dafür gestimmt hat, die Europäische Union zu verlassen. Und Nordirland ist Teil des Königreichs. Aber das Protokoll wurde eingesetzt, nur um den EU-Binnenmarkt zu schützen. Leider scheint das wichtiger zu sein, als den britischen Binnenmarkt zu schützen.“
Das Nordirland-Protokoll muss weg, davon sind Ian Paisley und die DUP überzeugt. Von Anfang an waren sie dagegen. Seit es eingeführt wurde, verlangen sie von London, Artikel 16 in dem verhassten Abkommen zu aktivieren und es damit faktisch abzuschaffen.
Boris Johnson hat früh darauf reagiert. Als es im Frühjahr wegen der neuen Vorschriften zu Waren-Ausfällen in Nordirland kam, stoppte der britische Premier kurzerhand sämtliche Einfuhrkontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland. Mit Duldung Brüssels sind sie bis heute nicht wieder in Kraft. Zugleich profitieren Nordirlands Bürger davon, immer noch Teil des EU-Binnenmarkts zu sein.
Sinn-Féin ist froh über EU-Binnenmarkt
„Mein Büro liegt in einem Einkaufszentrum mit einem großen Supermarkt und vielen anderen Geschäften,“ sagt Paul Maskey von der Sinn Féin, Unterhaus-Abgeordneter in London für den Wahlkreis West-Belfast.
„Die Regale sind voll, die Menschen können alles kaufen, die Tankstelle nebenan hat genug Benzin, die Leute kommen und gehen wie sie wollen. Warum sollte irgendjemand diese Schutzvorkehrungen abschaffen wollen?“
Zu den „Schutzvorkehrungen“, von denen Maskey spricht, gehören LKW-Fahrer und volle Laster, die es in Nordirland wie in der EU ausreichend gab, während die Briten zu Beginn der Versorgungskrise vor leeren Supermarktregalen standen und sich an Tankstellen um knappen Treibstoff balgten. Der große EU-Binnenmarkt ohne aufwändige Warenkontrollen, dafür mit Arbeitskräften, die grenzüberschreitend arbeiten dürfen, zahlt sich aus für die Nordiren.
Abstimmung über Vereinigung mit Irland
Für die Republikaner unter ihnen ist der Zugang zum Binnenmarkt zugleich das wirkungsvollste Argument für ihr politisches Ziel: Die Vereinigung mit der Republik Irland. Wenn die Mehrheit der Bürger lange genug sagt, dass sie ein Referendum darüber möchte, dann muss London eines ansetzen. So ist es im Karfreitagsabkommen vereinbart.
Im Supermarkt unter Paul Maskeys Abgeordnetenbüro fiebern viele Kunden einer solchen Abstimmung bereits entgegen.
„Wir wollen für ein Vereinigtes Irland stimmen. Es wird passieren. Wahrscheinlich schon in den nächsten zehn Jahren.“
„Wenn wir der Republik Irland beitreten, sind wir zurück in Europa.“
Großzügige Umsetzung des Protokolls
Die Sonderstellung ihres Landes zwischen Großbritannien und der Europäischen Union macht immer mehr Nordiren Lust auf ein geeintes Irland und damit auf den Abschied vom Königreich. Genau darauf haben die nordirischen Republikaner gehofft. Und genau das fürchten die Unionisten wie der Teufel das Weihwasser.
Die einen setzen deshalb auf das Protokoll, die anderen auf einen Brexit ohne Sonderregeln für Nordirland. Es ist ein politischer Streit, der sich in der Auseinandersetzung zwischen der EU und Großbritannien spiegelt. Boris Johnsons Regierung droht immer wieder, das Nordirland-Protokoll mit Artikel 16 auszuhebeln. Die Europäische Kommission versucht das mit großzügigen Umsetzungsregeln abzuwenden.
Wenn sie sich nicht einigen, droht als Konsequenz ein Handelskrieg zwischen Europäern und Briten. Manche Beobachter raten deshalb mittlerweile allen Beteiligten, es einfach laufen zu lassen und nicht so genau hinzusehen.
In seinem Büro über dem Supermarkt in West-Belfast gibt sich Paul Maskey gelassen. Die Zeit arbeitet für seine, für die republikanische Seite. Davon ist der Sinn Féin-Politiker überzeugt. In spätestens 20 Jahren seien Irland und Nordirland vereint.
„Es wird ein Land sein, in dem die Menschen zusammenarbeiten. Eine Insel, die jeden willkommen heißt. Ein Land, das nach Konflikten über viele Generationen nach vorn schaut. Ich glaube, wir werden ein Vorbild für viele andere Staaten in der Welt sein. Und ich finde das gut.“