Bizarre Eindrücke aus einem bizarren Land
Lange Zeit hatte Nordkorea sich vor den Augen der Welt abgeschottet, doch in den vergangenen Jahren hat sich das Land ein wenig geöffnet. ARD-Korrespondent Jürgen Hanefeld sah Wasserskiläufer auf dem Tae-Dong-Fluss und ein Fußballstadion, das wie ein Ufo ausschaute.
Wasserski. Ich stehe im 38. Stock des Yanggakdo-Hotels in Pjöngjang und traue meinen Augen nicht. Da unten, auf dem Tae-Dong-Fluss, fährt jemand Wasserski. Ein Hirngespinst? Eine Vision? Oder nur wieder einer dieser bizarren Eindrücke in diesem bizarren Land...
Große Parade zu Ehren des 70. Jahrestages der Nordkoreanischen Arbeiterpartei. Die Nationalhymne wird intoniert. Ich stelle meinen allgegenwärtigen Bewachern eine einfache Frage: "Wie heißt die Nationalhymne?"
Nach einigem Hin- und Her erfahre ich: Die Nationalhymne heißt - Nationalhymne. Angeblich marschieren gerade 30.000 uniformierte Frauen und Männer an mir vorbei, auf klirrenden Ketten folgen Panzer und Raketenwerfer, Kampfflugzeuge, die wirken wie aus Pappmaché, Soldaten im Stechschritt mit dem schwarz-gelben Atomsymbol auf Brust und Rücken. Biene Maja im Angriffsmodus. Wo bin ich hier?
"Unsere revolutionäre Streitmacht ist bereit, jede Art von Krieg zu führen, die von den US-Imperialisten vom Zaun gebrochen wird."
Das ist Kim Jong-un, hoch über mir auf dem Balkon: "Großer Nachfolger" genannt, "Respektierter Führer" oder auch nur kurz "Marschall". Ist er es wirklich?
Fanatismus in den Augen
Er ist es - wirklich. Und wirklich ist auch der frenetische Jubel, der dem Jungdiktator entgegenschlägt. Tausende und Abertausende vor Glück weinender Menschen ziehen an der Tribüne vorbei, alle sind - bis in die Wortwahl hinein - derselben Meinung:
"Geführt von Marschall Kim Jong-un wird uns niemand besiegen."
"Die Parade zeigt, wie stark unser Volk und unsere Armee sind. Wir stehen einmütig zu unserem Führer Kim Jong-un, unsere Macht kann nie gebrochen werden."
"Ich bin überzeugt, dass wir immer siegreich sein werden, solange uns der respektierte Führer Marschall Kim Jong-un an unserer Spitze steht."
"Mit der großen Parade zeigen wir der Welt, wie mächtig wir sind."
Alles Fassade? Oder glauben die Leute an die gestanzten Parolen? Der Fanatismus in ihren Augen lässt vermuten: Sie glauben daran. Kein Zweifel. Oder doch?
Aus meinem Hotelzimmer im 38. Stock sehe ich ein UFO. Wieder stelle ich mir die Frage: Wo bin ich? Ist das Wirklichkeit oder Illusion? Ausatmen. Es ist kein UFO. Es ist das gerade renovierte Fußballstadion, das größte der Welt, das von Ferne in der Morgensonne glitzert. Von hier oben kann man weit blicken - aber wenig erkennen.
Auch aus dem Busfenster ist die Sicht eingeschränkt. Weil alle Ampeln auf Grün geschaltet sind, rumpelt das Gefährt ungebremst durch die sechsspurigen Straßen der Hauptstadt. Kein Halt, kein Foto-Stopp und fast kein Auto. Statt dessen ein paar Fahrräder, viele Fußgänger, einige mit schweren Lasten auf dem Rücken. Trauben von Menschen sammeln sich nur an Bushaltestellen. Flankiert werden die Prachtstraßen von pompösen Parteigebäuden, jedes mit den gewaltigen Porträts von Kim 1 und Kim 2, Großvater und Vater des amtierenden Kim 3. Den verstorbenen Führern sind riesige Altäre gewidmet, vor denen sich Arbeiterinnen und Arbeiter nach der Schicht verbeugen und Blumen niederlegen. Bunte Plastikblumen, dieselben, die auch die Balkons der Wohnblocks schmücken. Die Führer lieben Blumen, zwei sind sogar nach ihnen benannt: Kimilsungia und Kimjongilia. Kein Witz.
Bei der abendlichen Revue unter freiem Himmel schmücken diese Orchideen-Hybriden die Breitwandbühne. Es herrscht klirrende Kälte, es gibt keine Versorgung, weder mit Getränken noch mit Toiletten. Aber das scheint niemanden zu stören. Die handverlesenen Zuschauer des fünfstündigen Spektakels tragen dünne Mäntel, die Mitwirkenden bunte Polyesterfummel, aber niemand friert.
Ein Modellbetrieb - mit fließend warm Wasser
Nordkoreaner seien hart im Nehmen, sagt man mir. Der tausend Stimmen starke Chor rühmt die Heldentaten der Armee, und immer, wenn die verstorbenen Kims auf der Leinwand erscheinen, spendet das Publikum rauschenden Applaus. Tief in der Nacht brennt ein Feuerwerk ab, so großartig wie in Singapur oder Tokio. Wirklich? Unwirklich?
Am nächsten Morgen rumpelt der Bus raus aus der Stadt. Durch abgeerntete Felder geht es zu einer Musterfarm mit Wohnsiedlung knapp außerhalb von Pjöngjang. Auf dem "Jang Chun - Gemüsehof" im Sadong-Distrikt leben und arbeiten 1.300 Erwachsene, darunter 450 Frauen, die 950 Kinder geboren haben, referiert Kim Hak-su, der Vize-Vorsitzende des Kollektivs.
Ein Modellbetrieb. In den Häusern gebe es Heizung und "fließend warm Wasser", erhitzt durch Sonnenkollektoren auf den Dächern. Die Mosaikwand in Fußballtorformat zeigt Staatsgründer Kim Il-sung, wie er lächelnd auf die Farm deutet. Kim Hak-su berichtet, wann und wie häufig der Ewige Führer die "Jang Chun" - Farm besucht und die Arbeiter zu Höchstleitungen angespornt hat, sogar sonntags!
"Der 'Ewige Präsident', Genosse Kim il Sung, ist persönlich in dieses Feld gegangen und hat die Pflanzen einzeln gewogen. Aber auch Kim Jong-un, der respektierte Führer, ist schon zweimal hier gewesen und hat die Farm zum Musterbetrieb erklärt. Auf seine Anweisung hin haben die Arbeiter die Siedlung in kürzester Zeit frisch gestrichen und renoviert."
Kein munteres Erntelied auf den Lippen
Die dreiköpfige Kim-Dynastie soll wirken wie aus einem Guss. Auf den Propaganda-Plakaten werden sie einander immer ähnlicher. Dabei hat der amtierende Kim die Wirtschaftspolitik seiner Vorgänger geradezu auf den Kopf gestellt. In einem Gewächshaus erklärt der technische Direktor des Betriebs, Jo Yong-Ponn, die neue Richtung:
"Jede Arbeitseinheit meldet ihr Planziel der Regierung. Auf dieser Basis kalkuliert der Staat, welche Erträge zu erwarten sind. Wenn das Kollektiv mehr erwirtschaftet, kann es den Überschuss privat verkaufen. Das waren auf dieser Farm schon mal 30 Prozent der gesamten Ernte, das heißt, das Plansoll war mit 70 Prozent erfüllt."
Traum oder Wirklichkeit? UFO oder Wasserski? Oder anders gefragt: Ist das noch Nordkorea?
"Der Preis wird von Angebot und Nachfrage bestimmt. Die Bauern können frei entscheiden, was sie anbauen wollen. Wenn es zum Beispiel in einem Jahr eine sehr gute Gurkenernte gibt, dann kann es sein, dass der Preis für Gurken auf dem privaten Markt höher ist als der staatliche. Im allgemeinen ist das auch so: Die Preise in den Staatsläden sind viel günstiger als die auf den privaten Märkten."
Das System, sagt der Direktor, gebe es seit 3 Jahren. Es habe die Erträge um 15 Prozent gesteigert.
Ich drehe mich um. Alte Frauen werfen mit rissigen Händen Kohlköpfe auf die Pritsche eines schütteren Kleinlasters. Kein Lächeln, kein munteres Erntelied auf den Lippen. Kann es sein, dass diese Anweisung vergessen wurde? Ein Fehler der Regie? Wo man uns doch gerade erklärt hatte, dass wir mit den Bewohnern der Landarbeitersiedlung leider keine Interviews führen können, weil Sonntag sei und sie frei hätten. Frei? Als eine unerschrockene Kollegin sagt, "dann können wir sie ja Zuhause besuchen", steht den Bewachern der Angstschweiß auf der Stirn. Das sei unmöglich, hören wir, keiner sei Zuhause, alle machten Picknick. - Picknick? Ohne ihre Kinder?
Dutzende davon toben vor der Kita herum - die einzigen Nordkoreaner, die ohne jede Scheu auf mich zulaufen und fröhlich grüßen. Wahn oder Wirklichkeit? Die Kinder wenigstens - sind echt.