Suki Kim: "Without You There is no Us: My Time with the Sons of North Korea's Elite"
Crown Publishing, 2014
304 Seiten, je nach Ausgabe zwischen 8,00 und 20,00 Euro
Ohne Dich - kein Wir
Im Sommer 2011 fährt die gebürtige Südkoreanerin Suki Kim nach Pjöngjang, um dort als Lehrerin zu arbeiten. Ihre wahre Mission: die Journalistin beobachtet die Nordkoreaner. "Without You There is no Us" ist eine bedrückende Momentaufnahme geworden.
Wer eine Reise macht, der sucht den Kontakt zu einer anderen Wirklichkeit. Wer nach Nordkorea reist, der begegnet am Ende nur sich selbst. So hat Suki Kim es erlebt, und so erklären sich vielleicht manche der Merkwürdigkeiten ihres Berichts, die schon beginnen mit der Merkwürdigkeit des Titels: "Without You There is no Us", "Ohne Dich gibt es kein Wir". Rückhaltloser, aber auch bedrückender kann sich niemand zu einem Diktator bekennen, als es die Studenten an der Pjöngjang University for Science and Technology, der Kaderschmiede für Naturwissenschaftler und Techniker in der nordkoreanischen Hauptstadt tun, wenn sie sich dreimal täglich versammeln, um ihrem geliebten Führer, damals dem Machthaber Kim Jong-il, im Chorgesang zu huldigen.
Wie ein eingegossenes Insekt habe sie sich in solchen Momenten gefühlt, gesteht die in Südkorea geborene Amerikanerin: gefangen in einem unbarmherzigen Vakuum, in dem nichts sich bewegt. In dem keine Farbe aus dem trostlosen Grau hervorspringt, kein Schritt nach draußen eine Abwechslung bietet, keine Meinung sich von den anderen abhebt. Was Suki Kim erlebte, war ein Land, in dem jeder Ort und jeder Mensch das perfekte Abbild des Ganzen zu sein scheint. Und jeder Tag deshalb eine in vollkommener Monotonie erstarrte Ewigkeit.
"Die Stille ist befremdlich, denn wohin auch immer man in Pjöngjang kommt, nirgends werden die Sinne in Frieden gelassen. Aus Lautsprechern scheppert Musik; mal ist es ein Liebeslied, mal ein Marsch – aber immer Propaganda. Jedes Gebäude trägt einen Slogan, jeder Bildschirm zeigt das Bild des großen Führers. Und hinter all dem Lärm öffnet sich eine schreckliche Stille. Seit Jahrzehnten ist das Land verstummt."
Vom 4. Juli bis zum 20. Dezember 2011 lebte Kim auf dem Campus der Universität am Stadtrand von Pjöngjang: eine alleinstehende, noch junge Frau, die gekommen war, offiziell, um Englischunterricht zu geben. Merkwürdig, dass ihre journalistische Arbeit – auch aus früheren Besuchen im Lande – den allgegenwärtigen Kontrolleuren irgendwie entgangen sein musste. Hätte sie sonst ein Visum bekommen?
Finanziert von evangelikalen Christen
Merkwürdig, dass auch die anderen Fremdsprachenlehrer aus einer Tarnung heraus arbeiteten. Denn die Universität wird finanziert mit Millionen Dollars von evangelikalen Christen aus dem Ausland, obwohl doch jede Form von Einflussnahme, zumal religiöser, unter den als gottgleich gefeierten Diktatoren im Gulag endet. Die Dozenten, meist aus den USA, drehten also die Musik lauter und flüsterten, wenn sie offen miteinander reden wollten. Und die Autorin musste sich doppelt tarnen, denn nicht einmal die heimlichen Missionare durften wissen, dass sie in einer ganz anderen Mission unterwegs war – als Reporterin nämlich, die erleben wollte, wie das System seine Eliten bildet.
"Später am Nachmittag ging ich in die Bibliothek und warf einen Blick durch das Fenster des Internet-Raumes. Ein paar Studenten aus dem zweiten Jahr der Graduiertenklasse saßen vor den Computern, daneben ein Kollege aus meiner Klasse, der zuvor Dekan gewesen war. Die Gruppe schien zu lernen, wie eine Google-Anfrage funktioniert. Ich ging hinein, um dem Kollegen Hallo zu sagen. Er hatte gerade einen Begriff eingegeben, für den mehr als 600.000 Treffer angezeigt wurden. Einer der Studenten erläuterte ihm, dies sei die Anzahl der Stellen, die für diesen Begriff im Netz gefunden worden seien. Der frühere Dekan war perplex. ´Mehr als 600.000`, murmelte er. Die Zahl überforderte sein Vorstellungsvermögen. Ich wüsste gern, ob er dazu abgestellt war zu überwachen, welche Begriffe die Studenten in die Suchmaschine eingaben."
Die Tage vergingen in einer Mischung aus Neugier und Skepsis, aus Befremden über eine unüberbrückbar große Distanz und Funken von Herzlichkeit, wenn sich für Augenblicke doch so etwas wie ein Individuum zu erkennen gab. Suki Kim ertappte sich in Grübeleien über ihre eigenen, oft komplizierten Beziehungen zu Männern und über die Frage, wo denn nun ihre Heimat liege: in den USA, wo sie Freiheit erlebe? Oder in Korea, Südkorea, das sie als Kind mit ihrer Familie in einer Zeit wirtschaftlicher Bedrängnis verlassen musste?
Ein Gefühl von allumfassender Fremdheit
Bisweilen war es ein Gefühl von allumfassender Fremdheit, das sie ergriff. Wie konnte die naturwissenschaftliche Elite eines Landes, das die Welt durch Hacker-Angriffe bedroht, staunend vor einem Computer stehen, der ihr einen vorsichtigen Blick ins Internet öffnete? Und warum lernten ihre Studenten so eifrig Englisch, wenn sie zugleich in vollem Ernst fragten, ob es wirklich wahr sei, dass alle Menschen auf der Welt Koreanisch sprechen?
"Ich begann, ein Muster in meiner Beziehung zu den Studenten zu entdecken: Sobald ich das Gefühl hatte, dass wir in unserem Unterrichtsstoff einen Fortschritt gemacht hatten und ich mich ein wenig entspannte, zogen sie sich zurück, unweigerlich. Mir kam das so vor, wie ich auch die notorisch unvorhersagbare – und gerade darin paradoxerweise vorhersagbare – Politik des Nordens erlebte, die immer wieder gerade dann neue Feindseligkeiten gegenüber ihren Landsleuten in Südkorea zeigte, wenn es so aussah, als könnten sich die Beziehungen zwischen beiden Seiten ein wenig entspannen."
Am 19. Dezember 2011, am letzten Morgen vor ihrer Abreise, zeigte Suki Kim ihren Studenten zum Abschied einen Film, "Harry Potter und der Gefangene von Askaban". Die künftigen Vertreter der Elite eines Landes, das den Rest der Welt immer wieder mit Atomkriegsdrohungen einzuschüchtern versucht – sie freuten sich wie Kinder. Am Mittag desselben Tages wurde der Bevölkerung von Nordkorea der Tod ihres großen und geliebten Führers Kim Jong-il mitgeteilt. Die Verzweiflung, die das Land daraufhin ergriff, so erinnert sich die als Englischlehrerin unter getarnten Missionaren getarnte Reporterin, die Tränen und die Trauer jedes einzelnen ihrer Studenten – das alles war tief empfunden und wahr.