Norman Lewis: Neapel ’44. Ein Nachrichtenoffizier im italienischen Labyrinth.
Aus dem Englischen übersetzt von Peter Waterhouse.
Folio Verlag. Wien/Bozen 2016. 238 Seiten, 22, 90 Euro
Die Kehrseite militärischer Befreiung
Norman Lewis hat ein ganz außergewöhnliches Tagebuch verfasst mit scharfen, erhellenden Beobachtungen, Beschreibungen und Analysen des Lebens im Nachkriegsitalien. Lewis setzt dabei den Fokus auf die ersten Monate nach der Landung der Alliierten in Salerno.
Am 8. September 1943 kapitulierte Italien und schloss mit den Alliierten einen Waffenstillstand. Wenige Stunden später gingen bei Salerno englische und amerikanische Truppen an Land. Der Brite Norman Lewis, Jahrgang 1908, schildert in seinem Tagebuch das Chaos an der Küste vor Paestum: pokerspielende Feldwebel, Soldaten, die größtenteils noch nie eine Schusswaffe bedient haben, widersprüchliche Befehle, versehentlicher Beschuss durch die eigene Armee.
Statt Panzern und Stacheldraht finden die Männer am Strand Berge von Büromöbeln für das zukünftige Hauptquartier vor. "Ich werde nie verstehen, was die Deutschen davon abhielt, uns zu erledigen", hält Lewis lakonisch fest. Der Brite, der in den fünfziger Jahren einer der bekanntesten angelsächsischen Reiseschriftsteller werden sollte, ist wegen seiner Italienischkenntnisse schon bald nach Neapel als Nachrichtenoffizier abgestellt. Fasziniert nimmt er die fremde Stadt mit ihren komplizierten Umgangsformen in Augenschein und taucht tief ein in das südliche Land. Unter der Bevölkerung herrscht in den ersten Wochen bittere Not, auf die man in Neapel aber seit jeher mit Gewitztheit zu reagieren weiß.
Neuauflage eines kleinen Bozener Verlages
"Neapel ´44", im Original 1978 erschienen und jetzt in einer sorgfältig gestalteten Neuausgabe in dem kleinen Bozener Verlag Folio herausgekommen, ist ein eindrucksvolles Dokument. Das liegt zum einen an dem brisanten Stoff, zum anderen an der packenden, lebendigen Erzählweise. Lewis kommt als Besatzer in das geschundene Neapel, idealisiert die Praktiken der Alliierten aber keineswegs.
Den amerikanischen Befehl, deutsche Soldaten sofort mit dem Gewehrkolben zu erschlagen, findet er ebenso fragwürdig wie viele der Verhaftungen neapolitanischer Kleinganoven, die wegen des Kupfers Telefonleitungen kappen und im Dienst größerer Banden stehen. Gerichtsverfahren entpuppen sich als Farce. Ein tölpelhafter Schrotthändler, der die Kabel auf seinem Karren transportiert, landet hinter Gittern, während ein Camorra-Boss wie Vito Genovese nicht nur entlassen, sondern mit einer mächtigen Position in der Militärregierung ausgestattet wird. Von den Camorristi, die eine Alternative zum Verwaltungspersonal der Faschisten zu sein scheinen, verspricht man sich die Befriedung des Territoriums – tatsächlich aber stärkt man vorhandene kriminelle Strukturen.
Eine Chronik voll eindrucksvoller Bilder
Lewis schließt Freundschaft mit kultivierten verarmten Adligen, die Innereien auf Silbertabletts servieren. Der Fischbestand des berühmten napolitanischen Aquariums ist längst verzehrt. Mütter bieten ihre geschlechtsreifen Töchter feil, junge Frauen bemühen sich um Eheschließungen mit alliierten Soldaten, der Schwarzmarkt boomt.
Lewis, 2003 mit 95 Jahren gestorben, liefert in seiner Chronik einprägsame Bilder aus der Halbdistanz. Man kann "Neapel ´44" als erhellende Ergänzung zu Curzio Malapartes auftrumpfendem Neapel-Roman "Die Haut" (1949) lesen. Noch aufregender sind die Erkenntnisse über die Kehrseite militärischer Befreiungszüge. Norman Lewis ist am Ende voller Bewunderung für die Menschlichkeit und Kultur in Neapel: Sollte er wiedergeboren werden, wäre Italien das Land seiner Wahl.