Norman Ohler: Harro und Libertas. Eine Geschichte von Liebe und Widerstand
Kiepenheuer und Witsch, Köln 2019
496 Seiten, 24 Euro
Ein Liebespaar kämpft gegen den Naziterror
11:27 Minuten
Die Gestapo nannte ihre Widerstandsgruppe die "Rote Kapelle". Dabei kämpften mit dem Paar Harro und Libertas Schulze-Boysen Freunde aus ganz verschiedenen politischen Lagern gegen das NS-Regime. Norman Ohler rekonstruiert ihre Geschichte quellentreu.
Andrea Gerk: "Eine Geschichte von Liebe und Widerstand" erzählt der Schriftsteller Norman Ohler in seinem neuen Buch "Harro und Libertas". Es ist die Geschichte von Harro Schulze-Boysen und seiner Frau Libertas – ein ungewöhnliches Liebespaar und zwei unerschrockene Kämpfer gegen den Naziterror. Herr Ohler, Sie sind schon bei den Recherchen für Ihren Bestseller "Der totale Rausch" auf diese Geschichte gestoßen. Wie war das, wie haben Sie das entdeckt?
Norman Ohler: Ich habe im Institut für Zeitgeschichte in München Unterlagen über das Reichsluftfahrtministerium eingesehen. Göring war ja ein großer Drogennutzer, und als ich verschiedenste Dokumente da durchsah, fiel mir auch ein Mensch auf namens Harro Schulze-Boysen, von dem ich vorher noch nie gehört hatte. Und ich hatte dann plötzlich einen Brief von ihm in der Hand, der mich so gerührt hat, weil er emotional so intensiv war und gleichzeitig auch überzeugt hat, weil er stilistisch so gut geschrieben war, dass ich dachte, was ist das für ein interessanter Mensch?
Ein Netzwerk von Freunden stellt sich gegen die Diktatur
Dann fing ich an, ein bisschen über ihn zu recherchieren. Ich fand heraus: Er hatte mit Drogen nichts zu tun – das war erst mal eine Enttäuschung, in "Der totale Rausch" kommt er deshalb nicht vor. Aber er hatte sehr viel zu tun mit Widerstand gegen die Diktatur. Das fand ich spannend, vor allen Dingen, weil ich noch nie von Harro und dann auch seinen Freunden, seinen vielen Freunden, diesem Netzwerk gehört hatte.
Gerk: Vielleicht können Sie uns dieses Netzwerk mal vorstellen? Das ist natürlich schwierig, Sie machen das auf vielen Hundert Seiten sehr packend, man kann das Buch gar nicht mehr weglegen, wenn man einmal damit angefangen hat. Aber was hat dieses Netzwerk ausgezeichnet? Die Gestapo hat es ja die "Rote Kapelle" genannt, das war aber nicht der Name, den sie sich selbst gegeben haben. Was waren das für Leute?
Ohler: Es waren intelligente Leute wie wir heutzutage, kulturell offene, es waren Schriftsteller, bildende Künstler, aber auch Arbeiter. Es war eigentlich ein bunt gemischte Gruppe, so wie der Freundeskreis, den man hat, ja auch bunt gemischt ist. Harros Idee war es, zusammen mit seiner Frau Libertas jeden zweiten Donnerstag Partys zu veranstalten in ihrer schönen großen Wohnung am Ku’damm, und bei diesen Partys hat er dann geschaut, mit wem kann ich politisch reden?
Austausch geheimer Informationen
Er hat das dann angesprochen und hat dann gemerkt, der oder die könnte vielleicht auch dran interessiert sein, Widerstand zu leisten, und dann gab es weitere Treffen. Und so langsam hat sich dann herauskristallisiert, wer von den Freunden wirklich etwas tun wollte gegen die Nazis und wer nicht, den hat man dann in Ruhe gelassen. Und so hat sich im Laufe der Jahre jene Art Netzwerk gebildet in Berlin von über hundert Leuten.
Harro hat eigentlich auch ein bisschen die Idee des sozialen Netzwerkes mitentwickelt. Es war keine organisierte Gruppe, die hatte auch keinen Namen. Das waren einfach Freunde, die sich vertraut haben und die untereinander Informationen ausgetauscht haben über die Diktatur, die ja immer auf Propaganda und Lüge gebaut ist, und vor allen die NS-Diktatur war dies. Und so hat sich während der NS-Diktatur in Berlin so ein Kreis von Freidenkern erhalten, der immer größer wurde.
Gerk: Und er ist ja jetzt nicht so bekannt wie andere Widerstandsbewegungen – die "Weiße Rose" ist ja zum Beispiel viel bekannter als die "Rote Kapelle". Woran liegt das, warum sind die so relativ unbekannt?
Ohler: Es gibt jetzt ein neues Standardwerk über den Widerstand, das heißt "Im Widerstand" von Wolfgang Benz, da konstatiert er, dass die Gruppe um Harro und Libertas wichtiger sei als die "Weiße Rose". Ich kann mich dem nur anschließen. Natürlich ist die "Weiße Rose" auch wichtig, aber im Vergleich zu ihr haben Harro und Libertas und ihre Freunde viel mehr getan, über einen sehr viel längeren Zeitraum.
Daher ist natürlich Ihre Frage genau die richtige: Warum sind sie nicht so bekannt? Oder: Warum sind sie noch nicht so bekannt? Ich hoffe natürlich, dass sich das ändern wird. Es hängt mit der harten Strafe zusammen, die Hitler persönlich gegen die Gruppe ausgesprochen hat, als die Gruppe 1942 aufflog. Die Strafe richtete sich nämlich nicht nur gegen die Personen, sondern auch gegen das Andenken.
Die Legende von der Sowjet-Spionage wirkt lange nach
Hitler persönlich hat angeordnet, dass diese Geschichte ausgelöscht werden soll, von daher sind sehr viele Akten zerstört worden. Und vor dem Gericht - es wurde angeordnet, dass diese Gruppe nicht als Widerstandsgruppe betrachtet und behandelt wird, sondern dass sie als Sowjetspione denunziert werden, was sie nicht waren.
Und so hat sich auch nach dem Krieg erst mal diese Legende von den Sowjetspionen, von der sogenannten "Roten Kapelle" im Osten wie im Westen gehalten, und keiner hat geguckt, was für eine Geschichte hier wirklich dahintersteckt. Das hat sich erst Anfang der 90er-Jahre geändert, als man aus Sowjetarchiven klar ersehen konnte: Es waren keine Sowjetspione - und erst seitdem entfaltet sich langsam die wahre Geschichte um Harro und Libertas.
Gerk: War denn diese Instrumentalisierung in Ost und West auch ein Grund, warum Sie sich so streng an Fakten gehalten haben, denn Sie schreiben ja: Das ist alles wahr, nichts ausgedacht. War Ihnen das auch deshalb so wichtig?
Ohler: "Harro und Libertas" ist ja ein sogenanntes erzählendes Sachbuch, das ist ein sehr interessantes Genre. Es ist zumindest in meinem erzählenden Sachbuch "Harro und Libertas" tatsächlich nichts erfunden. Es gibt noch Quellen, man kann Quellen finden, und ich habe mich dann sehr eng an diese Quellen gehalten, weil es mir eben wichtig war, keine weitere Legendenbildung vorzunehmen, sondern tatsächlich herauszufinden: Was waren das für Menschen? Wie haben die gelebt?
So nah wie möglich an der historischen Wahrheit
Dadurch entsteht natürlich auch ein Bild: Wie hat man damals gelebt in Berlin? Das war mir auch sehr wichtig, das zu begreifen und das anschaulich darzustellen: Wie sind die in Restaurants gegangen? Wo sind die abends hingegangen? Wie haben die untereinander ihre Beziehung organisiert? Das ist alles in dem Fall Recherche.
Ich glaube auch, dass ein Roman über Harro und Libertas völlig fehl am Platze wäre, weil man dann als Leser nie wüsste: War das jetzt wirklich so, oder hat das jetzt der Autor erfunden? Hier wollen wir, glaube ich, wirklich die reale Geschichte erfahren, so nah, wie es nur irgendwie geht, an der historischen Wahrheit dranbleiben. Das habe ich mir vorgenommen.
Gerk: Das war ja erst letztes Jahr eine große Debatte, dieses Thema: Wie kann man mit historischen Fakten umgehen? Wenn wir da an Takis Würgers Roman "Stella" denken, da haben Sie offenbar eine ganz klare Haltung, was man nicht machen kann.
Ohler: Auf jeden Fall. Ich habe einen Mentor, der ist in Großbritannien, das ist Sir Antony Beevor, ein sehr erfolgreicher Sachbuchautor, der sagte zu mir: Don’t invent anything. Ich schreibe ja auch Romane, und in Romanen erfindet man natürlich, aber in diesem Fall, wenn es um ein solch sensibles historisches Thema geht, ist, glaube ich, das Sachbuch ein sehr angemessenes Genre.
Kein Dialog wurde erfunden
Und da sollte man nichts erfinden, da sollte man auch zum Beispiel keine Dialoge erfinden. Also, man sollte immer gucken: Gibt es für einen Satz auch eine Quelle, wo genau dieser Satz steht? Das ist natürlich eine umfangreiche Recherchearbeit, aber das gehört beim Sachbuchschreiben einfach dazu.
Gerk: Ganz am Anfang des Buchs entwerfen Sie eine Szene, wo Sie als Kind mit Ihrem Großvater im Garten sitzen, und der Großvater soll Ihnen eigentlich etwas erzählen von früher, wie wir das alle als Kind zu unseren Großeltern gesagt haben. Und dann sagt er was – er war bei der Reichsbahn, und er hat durchaus mitgekriegt, was für Züge da nach Auschwitz fuhren, aber er sagt, er hätte Angst gehabt vor der SS. Sind dann solche Figuren wie Harro und Libertas auch ein Beleg dafür, dass man auch anders damit umgehen konnte, dass Widerstand möglich war? Ich fand ganz interessant, dass Libertas ja sogar anfangs in der NSDAP war. Führen Sie da auch für sich selbst quasi so ein bisschen den Beweis, dass man auch anders sein konnte als manche in unseren Familien?
"Wie wäre ich damals gewesen?"
Ohler: Es gab so eine Zeit in meinem Leben, da hab ich immer überlegt: Wie wäre ich eigentlich damals gewesen? Wäre ich strammer Nazi gewesen, weil ich irgendwie leistungsorientiert bin und gerne erfolgreich bin - was ich ja bin? Oder hätte ich gehandelt wie Harro, der ja auch leistungsorientiert war und gerne Karriere gemacht hat und sich am Leben gefreut hat - der aber dann doch gesagt hat: Nein, hier mache ich eben nicht mit, ich finde meine eigene, meine andere Karriere, nämlich meine Karriere quasi im Widerstand? - Wie wäre ich gewesen? Das ist natürlich eine spannende Frage.
Mein Großvater hat die Frage quasi mit Nein beantwortet oder seine Angst vor Repressalien zuvorderst gestellt, was ich auch nicht verurteile, das ist seine Entscheidung. Natürlich ist es auf eine Art verurteilenswert, ich hätte ihn sicherlich noch mehr gemocht, wenn er ein glorreicher Widerstandskämpfer gewesen wäre. Aber die Gefahren damals waren natürlich auch sehr hoch. Von daher ist es auch interessant, in "Harro und Libertas" nachzulesen, wie hoch die Gefahren tatsächlich waren, wie schwer es wirklich war, und wie es aber dann dennoch Leute gab, die keine Lust hatten zu schweigen, die keine Lust hatten zu nicken.
Von daher ist natürlich "Harro und Libertas" auch eine Geschichte, die motivieren kann, auch zu gucken, wie man sich heute positioniert. Wir haben ja auch heute existenzielle Fragen, denen wir uns – und zwar jeder Einzelne von uns – zu stellen haben.
Parallelen mit dem Rechtspopulismus von heute
Gerk: Man hat auch ein ganz starkes Echogefühl, wenn man Ihr Buch liest, da sind ja durchaus Parallelen, die da ständig aufscheinen – die unglaublich hohen Mieten und die Krise der Volksparteien und was weiß ich. Also, man kann sich dann während der Lektüre auch fragen: Wie verhalte ich mich künftig, oder?
Ohler: Ich glaube, das Spannende an historischen Büchern im Schreibprozess für den Autor ist natürlich, auch die Zeit zu reflektieren, in der man sich gerade selbst befindet. Und es gibt einfach viele Parallelen, die aufkommen: natürlich der aufkommende Rechtspopulismus in Deutschland, das war ja damals jetzt nicht ganz verschieden, als Harro, noch in der Weimarer Republik, ein freier Mensch war, aber die Rechten immer mehr aufkamen, und dann schon überlegt wurde: Wie verhalte ich mich denen gegenüber? - Und als dann die Rechten plötzlich an der Macht waren: Wie verhalte ich mich dann? Ich finde das natürlich gerade spannend, und das soll sich natürlich auch auf den Leser übertragen.
Gerk: Und bleiben Sie noch im Thema? Das hat Sie ja offenbar gepackt, diese Zeit.
Ohler: Ich kenne ich in der Zeit mittlerweile sehr gut aus. Ich habe tatsächlich seit letzter Woche eine Idee, die noch einmal in dieser Zeit spielt, und mit dieser Idee gehe ich jetzt noch ein bisschen schwanger, um zu gucken, ob mich diese Idee tatsächlich noch packt in ein, zwei Wochen, denn wenn man ein Buch schreibt, dann muss man sich ja dafür mehrere Jahre lang interessieren. Im Moment scheint es mir so, dass ich noch etwas sehr Interessantes hier gefunden habe.
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