Soweit Spitzbergens Asphalt reicht
Für viele Läufer ist der New-York-Marathon am kommenden Wochenende das große Ziel. Mehr als 50.000 Menschen gehen an den Start. Das völlige Gegenteil dazu ist der nördlichste Straßen-Marathon der Welt im norwegischen Spitzbergen – mit 60 Teilnehmern.
Kein Haus, kein Weg, kein Steg sind aus dem Flugzeugfenster zu erkennen: Über Kilometer und Kilometer erstreckt sich die menschenleere Eis- und Felslandschaft von Spitzbergen. Und dann folgt doch unerwartet die Landung in der Zivilisation: Ein kleiner Flughafen, eine Straße und dann ein Dorf: Longyearbyen, die größte Siedlung der arktischen Inselgruppe. Rund 2000 Menschen leben und arbeiten hier. Es gibt Geschäfte, Restaurants, Museen, Kindergärten - und eine Sporthalle.
Es ist Freitagabend, Anfang Juni. Die Mitglieder vom "Svalbard Turn", dem örtlichen Sportverein, haben Tische aufgestellt, an denen sie Startnummern herausgeben für den Spitzbergen-Marathon, der am nächsten Tag starten soll.
Andreas: "Hi, Hello. So, this are our marathon-starters from our group."
Frau: "Yes, I saw your names."
Andreas Kämper kennt das alles schon, er ist bereits zum achten Mal da. Der 54-Jährige organisiert und betreut Laufreisen und ist seit knapp einer Woche mit einer siebenköpfigen Reisegruppe auf Spitzbergen. Aber kleine Überraschungen gibt es auch für alte Hasen. Von der freundlichen Norwegerin bei der Anmeldung erfährt Andreas, dass es in diesem Jahr einen neuen Streckenverlauf gibt.
"Es hat sich ein bisschen geändert. Waren Sie letztes Jahr hier? In den Jahren davor ging es bis weit nach draußen zum Flughafen. Das ist jetzt anders. Ihr lauft dafür auf der anderen Seite länger ins Adventstal hinein."
Eine vernünftige Laufstrecke zu finden, ist hier nicht einfach. Das kleine Longyearbyen rühmt sich zwar, den nördlichsten Straßenmarathon der Welt auszurichten, aber eigentlich ist das vorhandene Straßennetz nicht groß genug. Deshalb hat man einen Kurs ausgetüftelt, der zweimal gelaufen werden muss. Eine Runde entspricht genau einem Halbmarathon, für den man sich übrigens auch anmelden kann. Die Engländerin Charlotte zum Beispiel will mit ihrer Freundin Natascha auf dieser Distanz antreten. Die beiden jungen Frauen arbeiten seit ein paar Monaten auf einer Berghütte in Nord-Norwegen. Und irgendwie wurden sie dort mit dem Lauf-Virus infiziert.
"Wir wollten einen Halbmarathon laufen und wir brauchten ein Ziel am Ende der Saison, also haben wir gegoogelt, welche Halbmarathon-Veranstaltungen es in Norwegen gibt. Ja, und Spitzbergen fällt ja unter Norwegen, aber uns war erst gar nicht klar, wo das ist und als wir es denn gegoogelt hatten, dachten wir okay, lass es uns machen."
Bis zum Nordpol sind es nur noch 1200 Kilometer
Irgendwo in Norwegen wollten sie also laufen und sind dann hier in der Hocharktis gelandet - bis zum Nordpol sind es nur noch 1200 Kilometer. Charlotte und Natascha sind auf dem Campingplatz von Longyearbyen untergekommen. Spitzbergen ist teuer und das ist die günstigste Übernachtungsmöglichkeit. In den ersten Nächten machte ihnen allerdings die Kälte etwas zu schaffen.
"Wir schlafen besser, seit wir uns noch zwei Schlafsäcke, eine weitere Isomatte und eine Daunenjacke besorgt haben."
Keine Probleme haben die beiden damit, dass es auch nachts taghell ist. Die Sonne macht um diese Jahreszeit hier 24 Stunden keine Pause:
"Ach, das stört uns nicht, weil wir ja schon vorher in der Arktis gelebt haben. Wir schlafen einfach."
Die zwei jungen Frauen sind nicht die einzigen, die auf dem eiskalten Boden ihr Zelt aufgeschlagen haben. Am nächsten Morgen sitzen zwölf Leute im Aufenthaltsraum des Campingplatzes, fast alle sind Läufer. John Moloney aus dem irischen Waterford hat gerade sein Frühstück beendet. Der 42-Jährige will heute den Marathon laufen und fühlt sich:
"Halbwegs ordentlich. Ich habe die letzte Nacht mehr geschlafen, als zusammen in den drei Nächten davor. Das ist ja immerhin eine Verbesserung."
Die Nacht war kalt und windig, doch im Verlauf des Morgens sind die meisten Wolken weggepustet. Um halb zehn sind es an diesem arktischen Sommertag immerhin schon vier Grad plus. Das kleine Longyearbyen mit seinen bunten Holzhäusern wirkt noch ziemlich verschlafen. Erst kurz vor der Schule, am anderen Ende des Ortes, ist es vorbei mit der Stille, aus Lautsprecher- Boxen dröhnt Musik. Auf dem Platz vor der Turnhalle werden noch letzte Instruktionen an die Helfer verteilt, die Läufer treffen ein. Die Stimmung ist wie meist vor solchen Wettkämpfen aufgekratzt.
Kurz vor zehn stehen dann 60 Männer und Frauen am Start. Die Namen der Marathonläufer werden einzeln aufgerufen. Der Halbmarathon und ein 10-Kilometerlauf, starten später. Die Marathon-Teilnehmer sind vor allem Amateure. Welcher Profi kommt schon an den Rand der Welt, wenn es kein Preisgeld gibt.
"Noch zweieinhalb Minuten", gibt der Ansager durch. Publikumswirksam fahren vier Frauen auf Geländefahrzeugen vor. Sie tragen Gewehre auf dem Rücken und sollen am Rand der Strecke nach Eisbären Ausschau halten.
Der erste Kilometer ist steil
Die Eisbären-Ladies sind auf ihren Quads davon geknattert, der Countdown beendet. In einer Schleife geht es um die Turnhalle herum. Vor den Läufern erhebt sich der Sarkophagen – ein mächtiger schneebedeckter Berg, der seinen Namen seiner charakteristischen Form verdankt. Der erste Kilometer ist steil, doch dann geht es leicht bergab.
Läufer:
"Herrlich!"
"Ideales Laufwetter."
"Das geht schnell mit den ersten Kilometern."
Etwa zwei dutzend weiße Kreuze ragen windschief aus dem grauen Geröllfeld am Berghang – der alte Friedhof von Longyearbyen. Heutzutage darf niemand mehr auf Spitzbergen begraben werden.
Läufer: "Ist ja auch schön dahinten mit der Kirche. Auf der rechten Seite hängt noch so ne Glocke, damit haben sie bestimmt den Gottesdienst eingeläutet."
Am Fahnenmast vor der Kirche flattert die norwegische Flagge. Die arktische Inselgruppe wird seit 1920 von Norwegen verwaltet.
Läufer: "So, nur noch 40 Kilometer."
Die Strecke führt vorbei an den hohen Holzmasten einer alten Grubenseilbahn. Oben am Hang sieht man den Eingang zu einer stillgelegten Kohlenmine. Überall stößt man hier auf Relikte aus vergangenen Bergbau-Tagen.
Läufer: " ...da stehen noch ein paar Loren und so."
Läufer mit ähnlicher Geschwindigkeit suchen und finden sich.
Läufer 1: "Zwischen 4.15 und 4.30."
Läufer 2: "Naja, da bin ich ja hier gut aufgehoben..."
Pace-Maker, also Schrittmacher, die im Läuferfeld Orientierung geben für bestimmte Zielzeiten, so etwas gibt es bei diesem kleinen Marathon nicht.
Läufer 2: "Nicht, dass ich in der völlig falschen Gruppe unterwegs bin."
Läufer 1: "Insgesamt sehe ich gerade, sind wir noch ein bisschen zu schnell. Da müssen wir noch Geschwindigkeit rausnehmen, damit man sich am Schluss nicht so quälen muss."
Runter geht es ins Zentrum von Longyearbyen; am Straßenrand stehen vier Zuschauer. Ein roter Pfeil auf der Fahrbahn weist den Weg durch den Ort, vorbei am Svalbard Hotel, am Kulturhuset und an Geschäften für Sport- und Outdoor-Kleidung. Holger Friedrich hatte vor seiner Reise einiges über Spitzbergen gelesen, ein modernes Dorf hier mitten in der Arktis aber hatte er nicht erwartet.
"Also, du kannst viel lesen, aber wenn du dann hier bist, wirkt das dann noch mal ganz anders. Ich hatte es mir auch anders vorgestellt, muss ich sagen. Ich hätte gar nicht gedacht, dass hier alles so gut erschlossen ist, innerhalb des Ortes, hier gibt es ja alles."
Ab Kilometer sechs bleiben die letzten Häuser zurück
Ein Auto fährt an den Läufern vorbei. Die meiste Zeit des Jahres liegt hier Schnee, dann sind Motorschlitten, das bevorzugte Fortbewegungsmittel. Zu hunderten stehen die Schneescooter überall im Ort herum und warten auf den nächsten Winter. Auf der anderen Seite des schmalen Adventfjordes erhebt sich der Hjortfjellet, das markante Wahrzeichen von Longyearbyen. An seinen Hängen sind nur noch ein paar weiße Flächen zu sehen. Jetzt im Juni schmilzt der Schnee in rasender Geschwindigkeit.
An der kleinen Universität biegen die Läufer nach rechts auf eine lange gerade Straße, die am Fjord entlang führt. Ab Kilometer sechs bleiben die letzten Häuser zurück. Ein paar Eiderenten wackeln über die Fahrbahn; sie brüten zu hunderten direkt neben einer Station zur Zucht von Schlittenhunden. Weit hinten breiten sich die schneebedeckten Gipfel aus. Der landschaftlich schönste Teil der Strecke beginnt. Jaqueline Messerschmidt aus Magdeburg sucht nach Worten:
" Ich kann das gar nicht beschreiben: das ist alles so massiv, dieses Üppige, Große..."
Irgendwo hinter der Bergkette liegt die "Grube Sieben", die einzige Kohlemine, die in der Gegend noch in Betrieb ist. Hier draußen weht ein kalter Wind.
Andreas: "Ja, aber ist schön. Die Sicht ist phantastisch. Besser als jeder Wetterbericht, den wir für heute hatten. Jetzt wird es kühl... aber Gott, herrlich!"
Am Straßenrand: ein Verkehrsschild, das vor Eisbären warnt, - ein beliebtes Fotomotiv von Touristen. Und nicht weit davon entfernt kommt die erste Verpflegungsstation. Hier hat auch Kirstin, eine der vier Frauen von der Schutzstaffel, Position bezogen. Es könnte tatsächlich sein, dass ein Eisbär auftaucht, hatte Kirstin vor dem Start erzählt, dann aber schnell versichert:
"Hoffentlich, werden wir keine sehen. Wir hatten seit vielen Jahren keine mehr. Aber man muss immer vorbereitet sein."
Rund 3500 Eisbären leben auf und rund um Spitzbergen und gar nicht so selten kreuzen sich ihre Wege mit denen der Menschen. Deshalb gilt:
"Wenn Du wandern, wenn du in die Berge gehen willst, dann solltest du wissen, wie man mit einer Waffe umgeht."
An diesem Tag aber sind keine Eisbären in Sicht; nur ein Rentier sucht auf dem kargen Tundraboden nach Futter und schaut kurz auf, als die Läufer vorbeitraben. Manch einer wäre sicher gern weiter gelaufen, hinein in die weite, arktische Landschaft, doch schon kommt der Wendepunkt. Auf der geraden Straße zurück in den Ort ist das Läuferfeld weit auseinander gezogen. Ein paar Minuten nach den beiden schnellsten Frauen kommt Andreas Kämper.
"Die Mädels habe ich besser laufen lassen, die waren mir zu schnell."
Der 54-Jährige ist gut in Form, Laufen ist schließlich sein Beruf. Alle drei Wochen läuft Andreas einen Marathon, meist mit Reisegruppen, am liebsten irgendwo im Norden. Die Arktis, vor allem Spitzbergen, hat es ihm besonders angetan:
"Ich kenne keinen Ort, wo ich bisher war, wo ich so gut den Akku aufladen kann. Hier kommste echt entspannt nach Hause."
Eine kurze Schleife durch den Ort gedreht und dann die Straße raus in Richtung Flughafen. Ab und an überholt ein Auto, ansonsten kein Mensch weit und breit, der die Läufer anfeuern könnte.
"Ja, ja, aber ich liebe das ja. Ich brauche hier keine 50-tausend Zuschauer. Die, die großen Stadtläufe laufen, die lieben das ja, den ganzen Karneval, in Köln und anderswo. Ich mag das hier. Hier kannste abschalten, brauchst nicht aufpassen, dass du irgendwem in die Hacken trittst und einfach für dich laufen und die Szenerie genießen."
Lagerhäuser, Container und Euro-Paletten
Die Szenerie ist auf diesem Streckenabschnitt allerdings sehr speziell: Rechts liegt der Hafen: Lagerhäuser, Container und Euro-Paletten säumen den Weg. Wendet man den Blick nach links, sieht man erst ein Heizkraftwerk, dann eine nackte Felswand, darüber die alte Grubenseilbahn mit ihren rostigen Loren. Weit in der Ferne leuchten die unberührten, schneebedeckten Berge. An der nächsten Verpflegungsstation geht es von der Straße runter. In einer scharfen Kehrtwende nach links führt der Weg über schwarzen, verwüsteten Boden nach oben.
"Du läufst jetzt auf 'ner Kohlehalde, hat auch was," sagt Andreas und nimmt den Anstieg in Angriff. Zehn Minuten später passiert auch Holger Friedrich die Stelle.
"Absolut genial. Vor allem das Stück raus hinten zum See, wunderschön. Es war ja wirklich dann gegen die Sonne, fast kein Wind. Gänsehaut pur. Ich mein', du merkst das schon, Kilometer 17 und es wird von Kilometer zu Kilometer immer schwerer, aber die Landschaft entschädigt. Das ist jetzt hier auch der gemeinste Berg."
Ein paar Schritte hinter Holger läuft John Moloney. Glänzend aufgelegt plaudert er mit einem Landsmann aus Dublin über das Wetter.
"Oh, nice day for a walk! As we say in Ireland it's good drying."
Wenn die Wäsche trocken wird, dann ist für Iren das Wetter schön und die Welt in Ordnung. Einen Marathon zu laufen, das braucht seine Zeit. Vier bis fünf Stunden sind Freizeitläufer unterwegs, und wenn man ein kommunikativer Typ ist - wie John Moloney - dann vertreibt man sich diese Zeit auch gern mit einem kleinen Plausch. Gerade erzählt John von einem seltsamen deutschen Sänger, den er durch seine Arbeit als Bibliothekar entdeckt hat.
"Er ist ein Singer-Songwriter aus Bayern und er ist die Verkörperung von Kitsch. Er ist mehr was für die Alten. Er trägt eine schwarze Brille und sieht aus wie ein Bösewicht aus einem Bond-Film. Eines seiner Alben aus den Sechzigern heißt 'Liebe Mutter'."
John Moloney sieht nicht aus wie ein Heino-Fan. Er trägt Stirnband und einen trendigen Bart, die langen schwarzen Haare hat er zu einem Zopf zusammengebunden. Der 42-Jährige singt in einer Bluesband und ist immer auf der Suche nach neuen musikalischen Inspirationen - Heino ist so eine. Irgendwann ist auch der schwierige, steile Schotterweg bewältigt, die Schule von Longyearbyen erreicht und es heißt:
"Half a way. Mr. Burke from Ireland ..."
Gute 20 Kilometer noch
Den halben Weg geschafft hat auch Jaqueline Messerschmidt. Gute 20 Kilometer liegen noch vor ihr, aber bisher läuft alles rund:
"Das Wetter ist gut. Prima. Könnte gar nicht besser sein. Die Kulisse natürlich überhaupt nicht zu toppen. Und so, ich fühl mich auch noch gut. Wenn nicht irgendetwas reißt ..."
An fünf Marathonläufen im Jahr nimmt die große, schlanke Frau mit den kurzen blonden Haaren teil. Soweit angereist sind sie und ihr Mann allerdings noch nie. Es hat Jahre gedauert, bis Jaqueline das Laufen für sich entdeckte.
"Ja, ich bin Späteinsteiger. Mein Mann, der ist immer schon gelaufen und ich habe dann immer nur gedacht, bist jetzt in 'nem gewissen Alter, hast vier Kinder, musst mal was machen. Ja, man verwelkt zu schnell. Und mein Mann, der ist dann immer schon mal los und ich habe gedacht, ach nee, so öffentlich, das ist nichts für mich. Bis ich dann einmal einen kleinen Stadtlauf gemacht habe, fünf Kilometer und dann wurden es jedes Jahr mehr."
Inzwischen hat sich Jaqueline an das Laufen in der Öffentlichkeit gewöhnt. Wer achtet schon auf einen einzelnen Läufer in der großen Masse beim Marathon, dachte sie sich irgendwann.
"Es interessiert eigentlich keinen so. Und wenn man versagt, ist auch egal. Man muss es einfach für sich machen und los und bis jetzt habe ich jeden Marathon, den ich angetreten bin, auch durchgehalten."
Hier in Longyearbyen auf Spitzbergen hält sich das öffentliche Interesse am Marathon ohnehin in Grenzen, nur wenige Zuschauer stehen am Straßenrand. Dafür sind jetzt mehr Läufer zusehen, weil inzwischen auch der Zehnkilometerlauf und der Halbmarathon gestartet sind. Charlotte, die junge Engländerin, hat gerade die schöne Strecke ins Adventdalen hinter sich:
"Sonne im Gesicht, klar, überall Schnee – ich fühle mich großartig."
Andreas Kämper ist nicht mehr so gut drauf, aber er ist schließlich auch schon doppelt so lange unterwegs wie Charlotte. Kilometer 34 - eine schwierige Phase für viele Läufer:
"Zuviel Straße, ich mag das nicht. Oh, hier ist das jetzt echt..."
Schmerzen im rechten Fußballen
Es sind erstaunlich viele Autos unterwegs; dabei ist das Straßennetz von Longyearbyen nur 40 Kilometer lang. Oben, über dem Fjord dröhnt ein Hubschrauber. Andreas hofft, dass sich die Schmerzen im rechten Fußballen wieder legen.
"Wenn erst mal hier das Ding bis oben geschafft ist, dass es sich dann wieder einrollt. Aber im Augenblick, hier hoch ist gerade Kampf."
Unter vier Stunden will der 54-Jährige diesen Marathon schaffen und er weiß aus Erfahrung, wie er sich die Kraft für die letzten sieben Kilometer einteilen muss.
"Ja, aber es kommt noch ein böses, böses Stück."
Andreas schiebt sich ein Stück Traubenzucker in den Mund. Er will jetzt nicht mehr reden, das bringe seine Atmung durcheinander, sagt er. Schwer klingt der Takt seiner Schritte auf dem Asphalt, als er davon zieht.
Das "böse Stück", wie es Andreas nennt, der lange Schotterweg, führt vom alten Kohlehafen steil bergauf und dann parallel zum Wasser in Richtung Ort zurück. Zwischen den riesigen Holzmasten der alten Lorenbahn zeigen sich winzige rosa Blüten, der erste Steinbrech. Der Frühsommer auf Spitzbergen ist weniger kalt als viele vermuten; acht Grad plus waren es zwischendurch auf der Strecke. Läufer müssen sich also keineswegs warm einpacken. Trotzdem sollte man sich auf Wetterumschwünge einstellen:
"Sobald die Sonne rauskommt, ist es warm, fast schon zu warm und wehe dem, die Sonne geht weg und der Wind kommt, bist Du sofort am Frieren. Ärmel hoch und runter, damit kannst du es ganz gut regulieren, aber das ist nicht zu unterschätzen hier."
Holger Friedrich hat noch dreieinhalb Kilometer vor sich und fühlt sich trotz kleiner Wehwehchen ganz gut. Der 44-Jährige bezeichnet sich selbst als Genussläufer. Vor allem diesen Marathon will er genießen, sich in die Landschaft hineinversetzen, wie er sagt, nicht so sehr auf den Körper hören, sondern einfach laufen.
"Ich bin Ingenieur und arbeite in der Chemie und da ist das hier natürlich ein schöner Gegenpol, weil wenn du in der Industrie arbeitest, dann hast du ja doch immer so ein bisschen diesen rauen Alltag und hier da ist wie gesagt, Entschleunigung angesagt und es war auch gut, dass wir mit unserer Gruppe jetzt schon eine Weile hier waren, so kamen wir wirklich alle runter und können das auch wirklich voll genießen."
John Moloney dagegen sieht nicht so aus, als würde er auch nur einen Meter genießen, den er noch vor sich hat.
"I feel awful, but when I finish, I finish. Will I walk or will I run - that is the question."
Gehen oder laufen – das ist die Frage. In John steckt wie in jedem echten Iren ein halber Philosoph.
"Jedes Jahr, sage ich, nie wieder. Und immer laufe ich meinen letzten Marathon, jedes Jahr. Und im nächsten Jahr tue ich es dann doch wieder."
Bis zum Ziel sind es nur noch anderthalb Kilometer, eine überschaubare Entfernung also.
"Weißt du, was Woody Allen gesagt hat? Er sagte, Ewigkeit ist eine lange Zeit, vor allem zum Ende zu."
Endlich kommt die Schule in Sichtweite:
"Es sieht so nah aus, aber es zieht sich immer weiter und weiter hin."
Untersützung der Frankfurter Fans
Jetzt an der Kirche vorbei, über die Brücke, an der letzten Kreuzung stehen vier Deutsche. Es sind Mitglieder des Frankfurter Polarclubs, die gerade den Zehn-Kilometerlauf beendet haben. John kennt sie vom Zeltplatz. Ein langer, langer Weg liegt hinter John, aber jetzt sind es nur 300 Meter bis zum Ziel.
"Rote Lippen, schwarze Haar, blaue Augen wunderbar... lang ist der Weg zurück. "Das ist alles, was ich weiß. Es ist ein gutes Zeichen, dass ich gleichzeitig laufe und singe – und auch noch auf deutsch."
Der Ire passiert den Kindergarten "Polarflokken", den Sportplatz und dann nach vier Stunden, zwölf Minuten und 29 Sekunden heißt es endlich:
"Number 26 - John Moloney. John, you're completing the Spitzbergen-Marathon 2014. Gratuliere."
John läuft noch ein paar Schritte hinter der Ziellinie weiter und bricht dann erschöpft zusammen. Eine Viertelstunde später kommt Jaqueline ins Ziel. Die 50-Jährige belegt den ersten Platz von sieben Frauen in ihrer Altersgruppe. Auch die anderen Mitglieder der deutschen Lauf-Reisegruppe sind hochzufrieden: Andreas und Lutz sind knapp unter vier Stunden gelaufen, Holger, der Genussläufer war bei seinem vierten Marathon so schnell wie noch nie.
"Bestzeit um sieben Minuten verbessert."
Auf ihre Medaillen müssen sie allerdings noch warten, die werden erst mit dem nächsten Flugzeug eintreffen. Irgendetwas ist da schief gelaufen. Nicht alles geht eben nach Plan mitten in der Arktis.