Notfallseelsorge
Notfallseelsorge ist dazu da, um Menschen in Notsituationen zu unterstützen. Die Betroffenen bestimmen, wie die Hilfe aussieht. © picture alliance / KNA / Harald Oppitz
Erste Hilfe für die Seele – und wie sie sich ändern muss

Amokfahrten, aber auch Unfälle oder Hochwasserkatastrophen: Hier werden Notfallseelsorger gerufen. Sie kümmern sich etwa um Angehörige, Augenzeugen und Helfer. Doch passt der von den Kirchen gegründete Dienst noch in die heutige Gesellschaft?
Erneut gab es eine Amokfahrt in einer deutschen Innenstadt: In Mannheim hat ein Mann Anfang März mit einem Auto in hoher Geschwindigkeit in einer Fußgängerzone zwei Menschen getötet und knapp ein Dutzend weitere verletzt, darunter einige schwer.
Zuletzt ereigneten sich mehrere ähnlich schwere Amok- oder Terrortaten, beispielsweise im Februar 2025 in München, als ein Attentäter sein Auto in einen Demonstrationszug lenkte und mehr als 30 Personen verletzte. Zwei Menschen starben nach der Tat.
Bei solchen Ereignissen werden Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger alarmiert. Sie kümmern sich etwa um Angehörige oder Augenzeugen. Wie leisten Notfallseelsorger Hilfe? Wer übernimmt diesen Dienst? Und muss sich die Notfallseelsorge angesichts der wachsenden religiösen Vielfalt in der Gesellschaft verändern?
Was ist Notfallseelsorge?
Neben Amokfahrten oder Terroranschlägen gibt es zahlreiche weitere Anlässe, zu denen Notfallseelsorgende gerufen werden. Dazu gehören schwere Verkehrsunfälle, Brände, Suizide, oder auch die Hochwasserkatastrophe im Ahrtal 2021 und der rassistische Anschlag in Hanau im Februar 2020.
Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger kommen, um Menschen seelsorglich beizustehen, die Furchtbares erlebt oder mit angesehen haben – Menschen, die Erste Hilfe geleistet haben, die im Ungewissen über das Schicksal von Angehörigen oder Freunden sind oder denen Polizisten eine Todesnachricht überbringen müssen. Kurz: Wenn es Erste Hilfe für die Seele braucht, fasst es Notfallseelsorgerin Dorothe Brummerloh zusammen.
Vor mehr als 30 Jahren gegründet
Denn Rettungskräfte und Polizei haben bei solchen Ereignissen in der Regel keine Kapazitäten, sich um diese Menschen zu kümmern. Ihr Fokus liegt etwa auf der Versorgung von Verletzten oder dem Absperren und Sichern des Ortes.
Um die Einsatzkräfte hierbei zu unterstützen, wurde die Notfallseelsorge in Deutschland vor mehr als 30 Jahren von katholischen und evangelischen Geistlichen in regionalen Initiativen ins Leben gerufen. Die Seelsorge in Notfällen ist im Evangelium Jesu Christi begründet. Der Auftrag dazu gehört zu den Aufgaben der Kirche.
Nachfrage nach psychosozialer Hilfe steigt
Zu den ersten Katastrophenfällen, bei denen Notfallseelsorger zum Einsatz kamen, gehörten die Flutkatastrophe 1962 in Hamburg und das Olympia-Attentat 1972. Nach dem Flugschau-Unglück in Ramstein 1988 mit 70 Toten entstand eine Arbeitsgemeinschaft. 1991 wurde die Notfallseelsorge erstmals systematisch organisiert.
Heute ist die Notfallseelsorge Teil der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) und arbeitet bundesweit eng mit Feuerwehr, Polizei und Rettungsdiensten zusammen. Weitere Bezeichnungen wie Krisenintervention oder Notfallbegleitung werden weitgehend synonym verwendet.
Und die Nachfrage steigt: Nach Angaben der evangelischen Kirche stehen bundesweit etwa 8.000 Mitarbeitende rund um die Uhr für psychosoziale Hilfsangebote bereit. Im Jahr 2022 wurden sie zu mehr als 30.000 Einsätzen gerufen. Das zeigt, dass Polizei und Feuerwehr zunehmend bereit sind, psychosoziale Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Wer macht Notfallseelsorge?
Notfallseelsorge leisten haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende. Für diese Arbeit sollte man nach Angaben der evangelischen und katholischen Kirche bestimmte Voraussetzungen mitbringen: Man müsse „teamfähig und belastbar sein, soziale Kompetenz und die Fähigkeit zur Selbst- und Fremdwahrnehmung mitbringen, anderen Weltanschauungen und Glaubenswerten gegenüber offen sein und diese achten“.
Außerdem braucht es eine Ausbildung in Notfallseelsorge und eine offizielle Beauftragung durch eine der Kirchen. Auch regelmäßige Supervision gehört zum Dienst in der Notfallseelsorge, um das eigene seelische Gleichgewicht nicht zu gefährden.
Die Notfallseelsorge ist zwar aus den christlichen Kirchen heraus entstanden, doch inzwischen engagieren sich auch nicht-kirchliche Rettungsdienste wie das Deutsche Rote Kreuz – oft unter dem Begriff Krisenintervention – in diesem Bereich. Außerdem gibt es mittlerweile auch muslimische und humanistische Notfallseelsorge.
Was kann Notfallseelsorge leisten?
Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger werden von Einsatzkräften der Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienste vor Ort alarmiert – oder auch über die Notrufnummer 112.
Die Seelsorger sind in Bereitschaftsdiensten abrufbereit. Durch ihre lilafarbene Einsatzweste sind sie erkennbar. Vom Einsatzleiter oder Koordinator vor Ort erfahren sie, wo sie am meisten gebraucht werden.
Notfallseelsorge will nichts überstülpen
Bei den Menschen, zu denen sie gesandt werden, stoßen sie aufgrund des religiösen Hintergrunds oft zunächst auf Vorbehalte oder Angst. Aus Sorge, dass ihnen etwas übergestülpt wird.
Doch darum gehe es keinesfalls, sagt Gesine Rabenstein, evangelische Pfarrerin und Notfallseelsorgerin in Magdeburg: „Wir nehmen den Menschen genauso, wie er ist in dem Augenblick.“
„Jedes missionierende Anliegen ist der Notfallseelsorge fremd“, betonen die beiden großen christlichen Kirchen. Und: Es sei ein freiwilliges Angebot und orientiere sich an den Bedürfnissen der zu begleitenden Person.
Traumaprävention durch Handlungsfähigkeit
Vor allem gehe es darum, mit dem Menschen zusammen das Leid auszuhalten, so Rabenstein. Eine Schulter zum Anlehnen zu sein, zum Weinen. Oder Unterstützung bei den ersten wichtigen Dingen zu bieten, wie etwa bei einem Anruf.
Und es gehe darum, die Menschen aus der dem Schock folgenden Ohnmacht herauszubringen und wieder handlungsfähig zu machen, erklärt Pfarrer Albrecht Roebke. Wenn das frühzeitig passiere, sei es Trauma-Prävention, so Philipp Klein, der Teil des Leitungsteams der Notfallseelsorge Bonn-Rhein-Sieg ist.
Religiöses spiele aber durchaus eine Rolle, berichtet Gesine Rabenstein. „Manche Leute beten und sagen, ich habe noch nie gebetet in meinem Leben und plötzlich kommen mir Worte.“
Wie wirkt sich die Veränderung der Gesellschaft auf die Notfallseelsorge aus?
Nach dem rassistischen Anschlag in Hanau im Februar 2020 habe es Kritik an der Zusammensetzung des Notfallseelsorge-Teams gegeben, sagt der evangelische Pfarrer Thomas Zippert, der die Notfallseelsorge in den 1990er-Jahren mitbegründet hat. „Da waren unter den Opfern und Angehörigen zahlreiche Menschen muslimischen Glaubens. Das Notfallseelsorge-Team war erstmal rein christlich.“
Die deutsche Gesellschaft wird vielfältiger, auch was die Zugehörigkeit zu Religionen angeht. Zugleich nimmt die Zahl der Christen und insgesamt der gläubigen Menschen in der Bevölkerung ab. Hinzu kommt, dass den Kirchen zunehmend Geld und Personal fehlt, um solche Einsätze zu stemmen.
Möglicherweise Rotes Kreuz statt Kirchen
Bedroht sei die Notfallseelsorge nicht, sagt Zippert. Aber die Zusammensetzung der Mitarbeitenden in der Notfallseelsorge werde sich wohl verändern. Und es könnte sein, dass an die Stelle einer kirchlich getragenen Notfallseelsorge die Psychosoziale Notfallversorgung tritt – getragen von Organisationen wie dem Roten Kreuz, wo sich natürlich auch Christen und Christinnen engagieren können.
Generell seien Teams im besten Fall divers aufgestellt, heißt es von der Christlich-Islamischen Gesellschaft (CIG) in Köln. Sie bildet seit 2009 in Kooperation mit der evangelischen Kirche muslimische Notfallbegleiterinnen und -begleiter aus. Die Team-Mitglieder sollten „möglichst viele unterschiedliche Sprachen und kulturelle Kenntnisse mitbringen“. Denn in extrem belastenden Situationen seien Menschen oft in ihrer Muttersprache besser als in anderen Sprachen ansprechbar.
Muslimische Notfallbegleitung
In einigen Regionen gehörten andere Religionen als das Christentum bereits seit Jahrzehnten zu den Notfallseelsorge-Teams, sagt Thomas Zippert. Doch es sei ein Problem, dass Moscheegemeinden – anders als Kirchen – keinen bezahlten Geistlichen haben, der für den Dienst freigestellt ist. „Das machen oft Ehrenamtliche nebenbei.“
Doch es gibt bereits muslimische Notfallseelsorge in Zusammenarbeit mit anderen Trägern: Beispielsweise kooperiert in Berlin seit 2019 die Notfallseelsorge offiziell mit muslimischen Helferinnen und Helfern. Auch an mehreren Orten in Nordrhein-Westfalen sind muslimische Notfallbegleitende in Zusammenarbeit mit der christlichen Notfallseelsorge aktiv, darunter in Köln, Bonn und dem Kreis Viersen.
Humanistischer Notfallseelsorger
Es bildeten sich auch immer wieder neue Systeme, vor allem säkulare, sagt Pfarrer Thomas Zippert.
Doch organisatorisch Hilfsorganisationen näher zu rücken, berge auch die Gefahr, so Zippert, dass das eigene Handeln an die Funktionsweise von Rettungsdiensten, Feuerwehr angepasst werde: Notfälle abzuarbeiten, womit Seelsorge aber nicht möglich sei.
Während bei Hilfsorganisationen durchaus Menschen aktiv sind, die sich einer Religion zuordnen, gibt es auch Notfallseelsorger, die sich explizit außerhalb von Religion verorten – so beispielsweise Michael Brade, der in Dresden als humanistischer Notfallseelsorger tätig ist.
abr