"Entscheidend ist, dass jemand da ist"
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85 Tage lag Jürgen Röhr im Koma, nachdem er bei einem Einsatz angeschossen wurde. Als Polizist konnte er nie wieder arbeiten. Heute schult der 61-Jährige andere Beamte, um auf psychische Folgen von Polizeiarbeit aufmerksam zu machen.
Das Koma sei für ihn "eine ganz wüste Zeit" gewesen, mit vielen Träumen und Erinnerungen, die er nicht zuordnen konnte, erklärt der ehemalige Polizeibeamte Jürgen Röhr. "Das war etwas, wo man sich gar nicht dran erinnern will." 2003 lag der damals 43-Jährige nach einer Schussverletzung im Dienst fast drei Monate im Koma. Aber auch hinterher war es nicht leicht für ihn. "Man hatte wirklich keinen Muskel mehr im Körper. Ich konnte nicht einmal mehr den Kopf halten. Es ist auch schwierig, nicht sprechen zu können, wenn man noch beatmet wird. Keiner versteht einen, wenn man irgendwas will."
"Seien Sie froh, dass Sie noch leben"
Die Zeit der Besserung mit Operationen, Klinik- und Reha-Aufenthalten zog sich über Jahre. Diverse Schädigungen sind dauerhaft. "Viele Organe sind zerstört. Mir fehlen fünf Rippen, ich habe keinen Bauchmuskel und auch keinen Rückenmuskel mehr. Ich habe im rechten Arm keine Kraft mehr." Das Schlimmste daran war für Röhr, dass er nicht mehr in seinen Beruf zurückkehren konnte. "Ich habe diesen Beruf sehr gerne gemacht, das war eine Berufung. Es war eine bittere Pille einzusehen, dass die Verletzungen so stark sind, dass man eigentlich gar nichts mehr kann."
Auf die Frage, wann er denn mal wieder Sport machen könne, antwortet sein Arzt: "Seien Sie froh, dass Sie noch leben! Gehen Sie spazieren und das war es." Da müsse man stabil sein, um das zu verkraften, sagt Röhr. Zur plötzlichen Untätigkeit, bei der auch der aus dem Tierheim geholte Hund nur wenig half, kamen posttraumatische Störungen. So haben lange Zeit manche lauten Geräusche Reaktionen wie Panik oder Ärger ausgelöst, die Röhr nicht unter Kontrolle bringen konnte.
Von der Selbsthilfegruppe zur Notfallseelsorge
Inzwischen hat Röhr gelernt mit solchen Trigger-Momenten umzugehen. Für den Polizeidienst hat er einen Ersatz gefunden, der ihn erfüllt: Über eine Selbsthilfegruppe von Polizisten und Polizistinnen, die Erfahrungen mit Schusswechseln verarbeiten wollen, hat er den Weg zur Notfallseelsorge gefunden. "Schusswaffenerlebnis" nennt sich die Gruppe mittlerweile.
Nachdem ihm zunächst selber durch den Austausch auf Augenhöhe mit anderen Betroffenen geholfen wurde, hilft Röhr nun anderen. "Seit 2007 biete ich das hier in Berlin zwei Mal im Jahr an, für betroffene Kollegen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum, sie bei diesem Weg zu begleiten." Dabei geht es auch um Kollegen, die selber geschossen haben, und das verarbeiten müssen. Leider werde man als Polizist nicht auf solche Szenarien vorbereitet. "Irgendwie fehlt das noch in der Ausbildung, denke ich. Man hofft einfach, dass man nie auf jemanden schießen muss in seinem Berufsleben. Man kommt von null auf hundert in diese Situation und dann ist man einfach überfordert."
Überfordert sind auch die Menschen, denen Röhr als Notfallseelsorger begegnet. Er kümmert sich vor allem um Hinterbliebene, in den ersten Stunden nach dem Tod von Angehörigen. Auf die Idee dazu, brachte ihn eine Zeitungsanzeige: "Kriseninterventionshelfer gesucht" war da zu lesen. "Ich habe ja die Selbsthilfegruppe weiter ausgebaut, aber letztendlich war das für mich nicht diese Erfüllung."
Mit Mitte 40 einfach nur zu Hause zu sitzen, reichte nicht. In der Annonce stand: "Menschen helfen in Extremsituationen nach gravierenden Ereignissen." Das schien Röhr genau das Richtige zu sein. So werden er oder seine Kollegen zum Beispiel von der Feuerwehr gerufen, nachdem ein Wiederbelebungsversuch fehlgeschlagen ist, und die Familie noch mit dem Verstorbenen in der Wohnung ist. Das Angebot: "Zeit, für andere da zu sein, ihnen nahe zu sein und vielleicht eine Möglichkeit zu zeigen, wie es denn weitergeht." Darunter sind auch praktische Tipps, wohin man sich wenden kann, welche Schritte unternommen werden können.
Lernen, mit Sterben, Tod und Trauer umzugehen
Zusätzlich zur Ausbildung als Kriseninterventionshelfer hat Röhr auch die christlich geprägte Variante der Notfallseelsorge abgeschlossen. Leider sei es in unserer Gesellschaft so, dass man viel zu wenig lerne, mit Sterben, Tod und Trauer umzugehen. Das habe er als seine Eltern starben selbst auch erfahren müssen. "Man muss nicht an Gott glauben, aber gewisse Rituale machen einfach Sinn." Den von ihm betreuten Menschen will er nichts Religiöses aufzwingen: "Es geht auch gar nicht darum, wer da kommt, sondern, dass jemand da ist. Das ist das Entscheidende."
Für seinen Einsatz für Menschen in Notsituationen hat Röhr im vergangen Jahr das Bundesverdienstkreuz erhalten. "Ich hoffe, dass es ein Ansporn für andere sein kann."