Mehr Angst vor Hunger als vor dem Virus
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Mit Verzögerung ist der Coronavirus in Lateinamerika angekommen. Auch dort steigen die Zahlen der Infizierten. Aber in einem Land wie Guatemala fürchten die Menschen weniger das Virus als den Hunger: Durch den Lockdown fehlen Nahrungsmittel.
"Hier kann man den Bluterguss sehen, wo ich mir das Seil um den Hals geschlungen habe. Dort drüben habe ich mich aufgehängt", erzählt Auvilio Gonzales erzählt.
"Warum? Weil ich nicht wusste, wie es weiter gehen soll. Als mein Sohn hereinkam, hatte sich die Schlinge schon zugezogen. Er schnitt das Seil durch, als ich schon bewusstlos war. Er schlug so lange auf meine Brust, bis die Feuerwehrleute kamen. Sie waren in der Hütte, aber ich konnte nichts sagen. Ich habe mich so mies gefühlt."
Auvilio Gonzales lebt mit seiner Familie in "La Comunidad", einem Armenviertel von Guatemala-Stadt.
"Gestern wollte ein Freund auf der Straße wissen, wieso ich das getan habe. ‚Vergiss diese Gedanken‘, hat er gesagt. ‚Denke lieber an deine Frau und deine Kinder. Wenn du dich umbringst, dann hast du vielleicht Ruhe. Aber wer bleibt zurück? Deine Frau muss sich um die Beerdigung kümmern und alles bezahlen.‘ Er hat ja recht."
Vor dem Virus kommt der Hunger
Don Auvilios Frau, Maria Luisa, ist wütend auf ihren Mann. Sie versteht nicht, warum er sie gerade jetzt mit den Kindern allein zurücklassen wollte:
"In dieser Krise musst du doch alles für deine Kinder tun. Sie dürfen keinen Hunger leiden. Dafür sind sie noch viel zu klein. Irgendwo kann man immer etwas zu essen auftreiben. Obwohl, manchmal haben wir auch gar nichts. Dann fühlt man sich krank, zu kraftlos, um weiterzukämpfen."
Viele Epidemiologen erwarten, dass sich die Epizentren der Pandemie immer weiter vom Norden des Globus in den Süden verschieben werden. Längst eilen die wirtschaftlichen Konsequenzen der Krise dem Virus voraus. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen warnt gar vor "Hungersnöten biblischen Ausmaßes".
"Vielleicht wird uns diese neue Krankheit nicht umbringen, sondern der Hunger", sagt Maria Luisa. "Es gibt ja überhaupt keine Arbeit mehr."
"Zu unserer Gesundheitsstation kommen zurzeit viele Familien, die keine Nahrung mehr haben", sagt die Krankenschwester Ludvi Gonzales. "Vielleicht essen sie nur noch ein paar Maistortillas mit Salz. So war es schon immer hier. Aber jetzt ist es besonders schlimm. Wir sagen den Leuten: ‚Bleibt zu Hause‘, ohne zu wissen, in welcher Situation sie dort leben."
Vor allem die Kinder sind von Hunger bedroht
Die Krankenschwester Ludvi Gonzales hat noch keine Person betreut, die sich mit dem neuen Coronavirus infiziert hat. Aber seit die Pandemie auch in Guatemala angekommen ist, ist die Zahl der Patientinnen deutlich gestiegen. Vor allem Mütter mit unterernährten Kindern auf dem Arm kommen in die staatliche Gesundheitsstation von La Comunidad.
"Die Unterernährung nimmt zu. Wahrscheinlich wird es bald deutlich mehr Hungertote geben. Ich persönlich mache mir mehr Sorgen um die Nahrungssicherheit der Kinder als um den Virus. Wenn die Eltern kein Einkommen haben, um etwas zu essen zu kaufen, dann sterben die Kinder an Hunger."
Kirchengemeinden wollen die Ärmsten unterstützen
Auf dem amerikanischen Kontinent ist Guatemala das Land mit den wenigsten Krankenhausbetten. Auf 2000 Einwohner kommt ein einziges Bett. In Deutschland sind es 16 mal so viele.*
Keine zweihundert Meter von der Gesundheitsstation entfernt steht die Kirche des Heiligen Petrus Nolasco. Pater Abel Villedas hat vor der Eingangstür einen Schreibtisch aus Blech auf den staubigen Boden gestellt. Er registriert die Namen hilfsbedürftiger Gläubiger, die in der Hoffnung auf Unterstützung zu ihm kommen.
"Wir sind hier in einer sehr armen Gegend. Was machen die Leute in dieser Situation? Sie bleiben zu Hause. Viele haben ihre Arbeit verloren. Es gibt keine öffentlichen Transportmittel mehr. Wir als Kirche versuchen, die Menschen zu unterstützen, soweit wir können."
Das Armenviertel "La Comunidad" gilt als gefährliche Gegend. Je mehr Menschen Hunger leiden, desto größer ist die Gefahr – auch für kirchliche Mitarbeiter, die helfen wollen.
"Es gibt hier Leute, die jemanden töten, um essen zu können", sagt Pater Villedas. "Wir haben Angst, in die Seitenstraßen zu gehen. Plötzlich wirst du überfallen und dein Leben ist in Gefahr. Deshalb können wir viele der ärmsten Familien nicht erreichen. Sie müssen zu uns kommen."
27 Millionen Menschen droht weltweit der Hungertod
Zwei Tage später: In einem Saal neben dem Kirchengebäude stapeln sich Säcke und Kisten voller Lebensmittel, die von dem Orden der Mercedarier gespendet wurden. Die ursprünglich spanische Glaubensgemeinschaft unterstützt schon seit Jahrzehnten besonders arme Kirchengemeinden in Guatemala.
Die Gemeindesekretärin Mirian Ramos führt Buch über die Hilfsgüter: "In dieser weltweiten Pandemie spielt die Kirche eine wichtige Rolle. Wir verteilen Grundnahrungsmittel an die Ärmsten: Reis, Bohnen, Zucker, Maismehl und auch Hygieneartikel."
Die Welternährungsorganisation geht davon aus, dass weltweit 27 Millionen Menschen ein schneller Hungertod drohen könnte, wenn ihnen nicht geholfen wird. Das globale Transportwesen steht still, Flughäfen sind gesperrt, Nahrungsmittelexporte wurden gestoppt. Landarbeiter können ihre Felder nicht erreichen, Händlern können keine Produkte auf die Märkte bringen.
Gerechte Verteilung der Hilfsgüter ist schwierig
Die Nachricht, dass die katholische Kirche Nahrungsmittel ausgibt, hat sich in "La Comunidad" schnell verbreitet. Viele Dutzend ungeduldiger Menschen sind gekommen.
"Wenn du hörst, dass es irgendwo Hilfe gibt, dann gehst du da hin", sagt ein älterer Mann. "Wir alle werden immer ärmer, weil wir nichts verdienen können. Die Arbeitgeber sagen, ihnen gehe es genauso schlecht. Zurzeit ist es besonders schwierig zu überleben."
Die Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitswelt sind gerade dort besonders verheerend, wo die meisten Menschen nie eine feste Anstellung hatten. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) rechnet damit, dass im Laufe der Pandemie weltweit mahr als 80 Prozent der Arbeiter im informellen Sektor ihr Einkommen verlieren.
Viele der Wartenden stehen nicht auf der Liste des Paters. Vermutlich werden sie leer ausgehen. Maria Luisa Gonzales ärgert sich, dass trotzdem so viele gekommen sind. Sie selbst ist registriert.
"Es gibt hier viel Armut und wenn es etwas umsonst gibt, dann wollen alle was abhaben. Aber so geht das nicht. Es ist nicht genug für alle da."
Mundschutz ja, aber Abstand halten ist schwierig
Alle Wartenden tragen eine Schutzmaske. Das ist seit Wochen Pflicht in Guatemala. Doch die wenigsten achten auf Abstand. Ein Polizist bemüht sich, ein wenig Ordnung zu schaffen:
"Es tut mir weh, all diese hungrigen Menschen zu sehen. Aber trotzdem müssen wir uns an die Vorgaben halten. Ich verstehe ja, dass sie sich damit schwertun. Das ist keine Frage der Disziplin, sondern der Verzweiflung, weil sie nichts mehr zu essen haben."
Stunden später bringt Maria Luisa eine Kiste voller Lebensmittel nach Hause. Sofort beginnt sie, eine Nudelsuppe zu kochen. Ihr Mann Auvilio schaut zufrieden in den Topf. Der Hunger hat ihm stark zugesetzt.
"Man fühlt sich kraftlos und müde", erzählt er. "Die Haut wird grün. Wenn Du lange nichts isst und immer nur Wasser aus dem Hahn trinkst, dann siehst du irgendwann ein helles Licht vor den Augen. Du bist zu schwach, dich zu bücken."
Hoffnung auf Gottes Hilfe
Er isst eine Scheibe Brot und trinkt ein paar Schlucke Kaffee. Nach und nach kommen die Lebensgeister zurück in den 40-jährigen Körper, der so aussieht wie der eines alten Mannes. Langsam wächst in Don Auvilio wieder ein wenig Hoffnung:
"Wer weiß, wie lange diese Krise dauern wird? Aber wenn wir alle unseren Beitrag leisten, so wie es die Regierung sagt, wenn wir alle immer eine Maske tragen, dann wird es mit der Hilfe Gottes hoffentlich bald besser. Unser Präsident hat verlangt, dass wir alle mitmachen und Mund und Nase bedecken. So muss es sein. Denn wer will schon sterben? Niemand."
Hinweis: *An dieser Stelle hatte sich ein Zahlenfehler eingeschlichen.