Notwehr gegen den Verfall
Eine literarische Auseinandersetzung mit Alzheimer - aber auch etwas Besonderes: Die Autorin Cécile Wajsbrot, Tochter von Holocaust-Überlebenden, fühlt eine besondere Verantwortung. Wenn ihr Vater nicht mehr weiß, wie es ihm gelang, die Verfolgung durch die Nazis zu überleben, muss sie es erinnern.
Die Auseinandersetzung mit Alzheimer- und Demenzerkrankungen jenseits medizinischer Darstellungen hat mittlerweile Eingang in die Literatur gefunden. Martin Suter und Irene Dische machten sie zum Thema ihrer Romane. Alice Munros Geschichte "Der Bär klettert über den Berg" wurde anrührend verfilmt, Arno Geigers "Der alte König in seinem Exil", erhielt im vergangenen Jahr großes Lob der Kritik und zahlreiche Preise. Tilman Jens schilderte die Erkrankung seines prominenten Vaters, der in den 1950er-Jahren selbst über Gedächtnisverfall im Alter einen Roman verfasst hatte.
Cécile Wajsbrots neuer Text "Die Köpfe der Hydra" scheint sich in diese Reihe einzufügen - und ist doch ein Solitär. Kein Roman, keine Fallstudie, "eine Geschichte" eben, so steht es auf dem Deckel des knapp zweihundert Seiten umfassenden Buches. Ein Buch der Fragen und Erkenntnisse, das weit über Privates hinausweist.
"Ich schreibe eine Art Tagebuch", heißt es darin zwar, "aber ohne Datum, in dem nur die Zeit vergeht, eine Zeit, die gleichzeitig stagniert und verrinnt." Wajsbrot berichtet vom Verlöschen der Erinnerungen ihres an Alzheimer erkrankten Vaters. Von unserer Gesellschaft, die, sensationslüstern, kurzlebig und oberflächlich, diese Art von Katastrophe nicht erfassen oder mit ihr umgehen will. Sie berichtet vom Verschwinden des Lebens: dem des Vaters und vor allem auch ihres eigenen.
Die französische Autorin ist Tochter von Holocaust-Überlebenden und gewinnt dadurch einen besonderen Blick auf die Krankheit. Innerhalb von wenigen Jahren sterben drei Geschwister: ihr Vater, ihre Tante, auch sie hat Alzheimer, und ihr Onkel. Dieser aufgrund von Herzproblemen, wie schon seine Mutter, Wajsbrots Großmutter. "Die Köpfe der Hydra" ist eine Familiengeschichte.
Die Autorin begann ihre Aufzeichnungen im Jahr 2000, als eine Art Notwehr gegen den Verfall des Vaters, das Leben mit der Krankheit und die daraus entstehenden neuen Herausforderungen. Sie muss seine Pflege organisieren, die tägliche Betreuung, die Arztbesuche, jede Stunde seines Alltags, muss sich um die Tante kümmern, aber doch auch um die Beziehung zum eigenen Lebensgefährten, um ihre Arbeit. Und um Geld, das nötig ist, um polnische Pflegkräfte zu finanzieren - der Vater hatte nie richtig Französisch gelernt. Bald wird klar, wie deprimierend und erschöpfend diese Aufgaben für die Tochter sind. Zumal sie als Angehörige der "Zweiten Generation" ohnehin dazu neigt, Verluste und Schmerzen des Holocaust-Überlebenden auszugleichen. Wie aber, fragt sie sich, "soll man sein eigenes Leben leben, wenn es darin besteht, das der anderen zu kompensieren?" Die Nachgeborenen, erkennt die Autorin, müssen mit der Last ihrer Eltern leben, in diesem Fall vor allem auch mit deren Erinnerungen. Denn wenn der Vater nicht mehr weiß, wie es ihm gelang, die Verfolgung durch die Nazis zu überleben, muss sie es erinnern.
Die Krankheit des Vaters führt die Tochter in eine Lebenskrise. Nur mühsam kann sie sich mit Gedichten von Jessenin, Zwetajewa, der Lektüre von "Moby Dick", mit der Dritten Sinfonie von Gorecki und den Chansons von Francoise Hardy trösten und zum Weitermachen bewegen. Sie geben ihr die Möglichkeit, ihre persönliche Erfahrung in einen größeren, metaphysischen Zusammenhang zu stellen. Sie reflektiert das Verhältnis von Eltern und Kindern und findet zu dessen Beschreibung das Bild der Hydra. So sehr man auch versuche, sich den Einflüssen der Eltern zu entziehen und ihre Prägungen abzuwehren, so aussichtslos erscheint ihr letztlich dieser Kampf.
Wajsbrots Buch macht traurig. Und transzendiert die Trauer. Das ist Kunst.
Besprochen von Carsten Hueck
Cécile Wajsbrot: Die Köpfe der Hydra
Aus dem Französischen von Brigitte Grosse
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012
187 Seiten, 19,90 Euro
Cécile Wajsbrots neuer Text "Die Köpfe der Hydra" scheint sich in diese Reihe einzufügen - und ist doch ein Solitär. Kein Roman, keine Fallstudie, "eine Geschichte" eben, so steht es auf dem Deckel des knapp zweihundert Seiten umfassenden Buches. Ein Buch der Fragen und Erkenntnisse, das weit über Privates hinausweist.
"Ich schreibe eine Art Tagebuch", heißt es darin zwar, "aber ohne Datum, in dem nur die Zeit vergeht, eine Zeit, die gleichzeitig stagniert und verrinnt." Wajsbrot berichtet vom Verlöschen der Erinnerungen ihres an Alzheimer erkrankten Vaters. Von unserer Gesellschaft, die, sensationslüstern, kurzlebig und oberflächlich, diese Art von Katastrophe nicht erfassen oder mit ihr umgehen will. Sie berichtet vom Verschwinden des Lebens: dem des Vaters und vor allem auch ihres eigenen.
Die französische Autorin ist Tochter von Holocaust-Überlebenden und gewinnt dadurch einen besonderen Blick auf die Krankheit. Innerhalb von wenigen Jahren sterben drei Geschwister: ihr Vater, ihre Tante, auch sie hat Alzheimer, und ihr Onkel. Dieser aufgrund von Herzproblemen, wie schon seine Mutter, Wajsbrots Großmutter. "Die Köpfe der Hydra" ist eine Familiengeschichte.
Die Autorin begann ihre Aufzeichnungen im Jahr 2000, als eine Art Notwehr gegen den Verfall des Vaters, das Leben mit der Krankheit und die daraus entstehenden neuen Herausforderungen. Sie muss seine Pflege organisieren, die tägliche Betreuung, die Arztbesuche, jede Stunde seines Alltags, muss sich um die Tante kümmern, aber doch auch um die Beziehung zum eigenen Lebensgefährten, um ihre Arbeit. Und um Geld, das nötig ist, um polnische Pflegkräfte zu finanzieren - der Vater hatte nie richtig Französisch gelernt. Bald wird klar, wie deprimierend und erschöpfend diese Aufgaben für die Tochter sind. Zumal sie als Angehörige der "Zweiten Generation" ohnehin dazu neigt, Verluste und Schmerzen des Holocaust-Überlebenden auszugleichen. Wie aber, fragt sie sich, "soll man sein eigenes Leben leben, wenn es darin besteht, das der anderen zu kompensieren?" Die Nachgeborenen, erkennt die Autorin, müssen mit der Last ihrer Eltern leben, in diesem Fall vor allem auch mit deren Erinnerungen. Denn wenn der Vater nicht mehr weiß, wie es ihm gelang, die Verfolgung durch die Nazis zu überleben, muss sie es erinnern.
Die Krankheit des Vaters führt die Tochter in eine Lebenskrise. Nur mühsam kann sie sich mit Gedichten von Jessenin, Zwetajewa, der Lektüre von "Moby Dick", mit der Dritten Sinfonie von Gorecki und den Chansons von Francoise Hardy trösten und zum Weitermachen bewegen. Sie geben ihr die Möglichkeit, ihre persönliche Erfahrung in einen größeren, metaphysischen Zusammenhang zu stellen. Sie reflektiert das Verhältnis von Eltern und Kindern und findet zu dessen Beschreibung das Bild der Hydra. So sehr man auch versuche, sich den Einflüssen der Eltern zu entziehen und ihre Prägungen abzuwehren, so aussichtslos erscheint ihr letztlich dieser Kampf.
Wajsbrots Buch macht traurig. Und transzendiert die Trauer. Das ist Kunst.
Besprochen von Carsten Hueck
Cécile Wajsbrot: Die Köpfe der Hydra
Aus dem Französischen von Brigitte Grosse
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012
187 Seiten, 19,90 Euro