Vor der Kulisse einer Fabrikhalle im Novi Sader Stadtteil Liman haben sich ein paar Tausend Menschen versammelt. Novi Sad feiert mit dem Festival „Kaleidoskop der Kulturen“ die Eröffnung eines neuen kulturellen Hotspots. Bojana Kozomora vom Organisationsteam des Kulturhauptstadtjahres führt stolz Gäste aus dem Ausland durch ein rekonstruiertes Industrieareal.
Die Erstausstrahlung der Sendung war am 28. Januar 2022.
„Bevor Novi Sad der Titel Europäische Kulturhauptstadt zugesprochen wurde, hatte die Stadt nicht mal einen Konzertsaal“, erzählt Bojana Kozomora. „Nun wurden in diesem Viertel im Rahmen des großen Projekts „Kulturhauptstadt“ ein Ballettsaal und eine Musikschule gebaut.“
Ein neues Image für Serbien
Auch den neuen Konzertsaal gibt es bereits. Ein Strom junger Menschen flutet neugierig das Areal, auf dem sich einst Kabelfabriken, Gerbereien und Ledermanufakturen befanden. 40 Jahre waren sie dem Verfall preisgegeben. Hier sollen sich einzelne Künste präsentieren.
Auch Autoren und Dichterinnen werden hier lesen. Vitormirka Trebovac etwa, der das Kulturhauptstadtjahr die Herausgabe ihres dritten Gedichtbands „Vollmondtage“ ermöglichte. Sie gehört zu jener Generation von Autorinnen, die mit den NATO-Bombardements auf die Stadt im Jahr 1999 erwachsen wurde. Bis heute fallen diese Bomben in ihre Gedichte.
Am Ende des Kulturhauptstadtjahres soll den Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt eine neue kulturelle Infrastruktur zur Verfügung stehen. So zumindest die Vision von Nemanja Milenković. Der smarte Geschäftsführer der Foundation Novi Sad 2022 sagt:
„Wir leben hier in einem Land, dessen Ruf am Ende des 20. Jahrhunderts sehr schlecht war. Wir wollten etwas tun, um diesen Ruf zu ändern. Wir mussten der verachteten Marke Serbien ein neues Image verleihen, einen Prozess des Re-Branding einleiten.“
Die Verwerfungen des Krieges
Novi Sad galt viele Jahre als Hauptstadt des serbischen Punks, als ein Hotspot der jugoslawischen Musikszene. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Literaturszene der Stadt. Früher als in Belgrad entwickelte sich in Novi Sad nach den Jugoslawienkriegen eine junge, progressive Schriftstellerszene. Siniša Tusić ist eine der markantesten Gestalten und mit 40 Jahren heute vielleicht der letzte Punker unter Novi Sads Dichtern.
Er beschäftigt sich in seiner Lyrik immer wieder mit den Verwerfungen, die die Kriege in der serbischen Gesellschaft hinterlassen haben. Und damit, wie sich diese mit den Folgen der Globalisierung vermischen. Vor diesem Hintergrund falle es der jungen Generation nicht nur in Novi Sad immer schwerer, die politischen Vorgänge im eigenen Land zu durchschauen, sagt der an Muskelschwund leidende Dichter.
„Wir leben immer noch in einem Post-Konfliktzeitraum“, meint er. „Die Schriftsteller in unserem Land engagieren sich zu wenig, übernehmen keine Verantwortung. Noch immer sind es meist die Autoren im Exil, die fordern, dass wir Verantwortung übernehmen müssen, nicht nur für die Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina.“
Initiativen statt Propaganda
Nemanja Milenković wollte etwas tun. Mit zwei Freunden hob der Organisator des Kulturhauptstadtjahres deshalb zu Beginn der 2000er-Jahre das Musikfestival EXIT aus der Taufe. EXIT ist heute das wichtigste Musikfestival auf dem Balkan und eines der größten weltweit. Nach den Kriegen hätten sie so den Optimismus in ihre Stadt zurückgeholt, sagt Nemanja:
„Wie das funktioniert hat? Nicht mit Propaganda, nicht mit Lügen. Sondern mit Initiativen, die wirklich etwas verändern. Das Musikfestival EXIT und später der Titel Youth Capital of Culture haben gezeigt, dass so etwas möglich ist. Beides hat die Atmosphäre in der Stadt nachhaltig verändert.“
Keiner hat die Stimmung in Novi Sad nach den jugoslawischen Zerfallskriegen und dem von Serbien entfachten Kosovo-Krieg 1999 besser beschrieben als der ungarisch-serbische Autor László Végel in seinem Roman „Ex-Territorium“. Darin heißt es:
Bunte Flammensäulen schossen aus der Erde empor, doch die Erde zitterte nicht. Du betrachtetest den Himmel vom Hof deines Hauses, wie so oft während der Luftangriffe. Es war gegen Mitternacht. Der Himmel war wolkenlos, die Blätter an den Ästen regten sich nicht. Ein Wetter, wie geschaffen für einen Luftangriff. Oben zuckten verspielt bunte Raketen. Die Flugabwehrkanonen rollten furchterregend. Aber es dröhnten, raunten keine Flugzeuge. Nur die Hunde aus der Gegend winselten unheilverkündend in Richtung des Firmaments. Und ohne den Tagesanbruch abzuwarten, krähten die Hähne um Mitternacht im Chor.
Aus László Végel , „Exterritorium“, Matthes & Seitz, Übersetzung: Akos Doma, S.7
Im März 1999 hatte die NATO auf die Vertreibung Hunderttausender Zivilisten im Kosovo mit 78 Tage andauernden Luftangriffen auf Serbien reagiert. Auch Novi Sad blieb nicht verschont. Nemanja erinnert sich an eine traumatisierte Stadt. Und an Minderheiten in Angst vor ihren serbischen Mitbewohnern.
Türen in Richtung Europäische Union?
In der Stadt gibt es einen Bauernmarkt, auf dem Tanya Hunyadi um diese Zeit Honiggläser zu kunstvollen Pyramiden türmt. Wenn man Glück hat, kann man sie hier noch hören – einige der 17 Sprachen, die einst in der Vojvodina gesprochen wurden. Tanya Hunyadi ist Ungarin. Freut sie sich eigentlich, das Novi Sad Kulturhauptstadt wird?
„Auf jeden Fall! Warum auch nicht?“, sagt sie. „Ich hoffe sehr, dass sich damit für uns auch neue Türen in Richtung Europäische Union öffnen werden. Dass man über Kunst und Kultur neue Beziehungen knüpfen wird.“
Aleksandar Tišma galt lange Zeit als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Kein anderer hat so wie er über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, die Vertreibung der Deutschen nach 1944 und die seit mehr als einem halben Jahrhundert andauernde Zerstörung der multikulturellen Vitalität in Novi Sad geschrieben. So galt er vielen zeitlebens als Nestbeschmutzer, sagt sein Sohn Andrej, der ein international anerkannter Videokünstler ist. Er steht mitten auf dem Hauptplatz von Novi Sad, der von eigentümlicher Schönheit ist:
Auf der einen Seite das 1895 im Stil der Neorenaissance errichtete Rathaus, in der Mitte die riesige Statue des ersten serbischen Bürgermeisters der Stadt. Auf der gegenüberliegenden Seite ein an den Stephansdom in Wien erinnerndes Gotteshaus. „Trg Slobode“ - der Freiheitsplatz ist seit jeher ein beliebtes Postkartenmotiv.
„Die politische Geschichte bleibt außen vor“
„Boulevard Books“ heißt eine der vielen schönen Buchhandlungen Novi Sads. Es riecht nach Papier und geröstetem Kaffee. „Boulevard Books“ sei dreierlei, erzählt der Dichter und Übersetzer Alen Bešić: „Buchhandlung und Café, aber auch einer von vielen Verlagen in der Stadt.“ Bešić ist Mitarbeiter von einem der Poesie-Verlage des Landes, bei dem auch eine wichtige Literaturzeitschrift erscheint:
"Polja". Seit 2007 gibt Alen Bešić diese nun selbst heraus. Er hat Serbiens traditionsreiche Literaturzeitschrift zu einer wichtigen Bühne des literarischen Austauschs gemacht. Mit Unterstützung des Kulturhauptstadtjahres konnte Bešić gar eine deutsche Ausgabe herausbringen.
Über 1000 Veranstaltungen stehen auf dem Kulturhauptstadtprogramm. Fast jeder Monat ist einem anderen Thema gewidmet. Nur eines bleibt weitgehend ausgespart, beobachtet Alen Bešić: die Kriege der 1990er-Jahre. Die Organisatoren hatten wohl nicht den Mut, mit dem Kulturhauptstadtjahr auch eine längst überfällige Debatte darüber anzustoßen, welche Folgen der serbische Nationalismus der 1990er-Jahre für das Zusammenleben der Minderheiten in der Vojvodina und in Novi Sad hatte.
„Ich denke, die Geschichte ist schon Bestandteil dieses Kulturhauptstadtjahres“, sagt Bešić. „Aber eben nur die nationale serbische Geschichte, die Traditionen, auchdie Geschichte der Stadt. Wir haben Unterstützung für Bücher erhalten, die sich mit der Entwicklung Novi Sads vom 17. Jahrhundert bis heute befassen. Das ja. Aber die politische Geschichte ist außen vor.“
„Die Seele dieser Stadt zerfällt“
Auch der ungarisch-serbische Autor László Végel ist skeptisch. Was das für ein Kulturhauptstadtjahr sei, das nicht dafür sorge, dass im städtischen Kulturzentrum mehrsprachige Veranstaltungen zur Normalität gehören? Das Multikulturalität beschwöre, sich aber nicht die Wiederherstellung mehrsprachiger Straßenschilder ins Programm schreibe, fragt er:
„Mir geht es nicht gut mit dieser Stadt. Gleichzeitig kann ich nicht ohne sie. Aber ihre Seele zerfällt. In ihr verläuft seit jeher die Grenze zwischen Mitteleuropa und dem Balkan. Das schuf die Kultur, die für mich immer wie ein Magnet wirkte. Doch seit Jahren verliert sich dieser Eklektizismus, diese Synthese der Unterschiede. Ihr kommt mehr und mehr die mitteleuropäische Dimension abhanden. Und so spüre ich, dass meine Stadt für mich mehr und mehr ihrer Anziehungskraft verliert.“
Sprecher*innen: Tonio Arango, Manuel Hader, Susanne Papawassiliu, Torsten Föste und Birgit Paul
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Thomas Monnerjahn
Redaktion: Dorothea Westphal