Provenienzforschung in der Provinz
Die Erforschung der NS-Raubkunst hat auch kleinere Museen erreicht. In Brandenburg beweist das "Erstcheck"-Projekt: Auch in kleinen Heimatmuseen haben die Verbrechen der Nationalsozialisten Spuren hinterlassen. Ein Nebeneffekt der Untersuchungen: Die Provenienzforscher stoßen auch auf in der DDR enteignete Objekte.
"Jetzt sind wir in den Depoträumen des Museums. Wir können da gerne mal durchgehen."
Philip Kardel arbeitet als Museumsmitarbeiter in Lübben, einer 13.000-Einwohner-Stadt im Spreewald. Im Depot des Heimatmuseums liegen alte Backformen, eine FDJ-Fahne und ein Schlitten, auf dem die Lübbener einst über die zugefrorenen Kanäle kurvten. An Kardels Seite steht der Provenienzforscher Mathias Deinert. Vor kurzem hat er die wenigen überlieferten Inventarangaben untersucht. Er wollte wissen, woher die Objekte stammen. Und ob es im Bestand NS-Raubkunst gibt. Gegenstände, die zwischen 1933 und 1945 ihren eigentlichen Eigentümern entzogen wurden.
"Mich haben die Zinngegenstände zum Beispiel interessiert, wo ich mir angeschaut habe, ob es irgendwelche Gravuren, Ritzungen oder mit Stift oder Farbe vermerkte Nummern oder Bemerkungen gibt, außer der alten Inventarnummer."
Die Erwartungen waren niedrig, die Ergebnisse erstaunlich
Verdächtige Zinngegenstände fand Deinert nicht. Aber Gemälde und Bücher mit den Exlibris einer stadtbekannten jüdischen Familie und eine Kanne, die aus einer Synagoge stammen könnte. Das Lübbener Heimatmuseum ist eines von sechs Museen in Brandenburg, die im vergangenen Jahr an dem sogenannten Erstcheck teilgenommen haben.
"Der Erstcheck ist dafür da, sich ein Bild zu verschaffen, welche Recherchegrundlagen gibt es im Haus selbst, welche gäbe es noch in anderen Archiven, um über die Objekte in der NS-Zeit noch etwas herauszubekommen. Man schaut nach Anfangsverdachtsgründen."
Zwei Wochen lang verschaffte sich Mathias Deinert einen Überblick über den Bestand der Museen. 2012 hat der Museumsverband Brandenburg zum ersten Mal so einen Erstcheck durchgeführt. Die 15.000 Euro dafür kamen vom Bund und vom Land, die Erwartungen waren niedrig, die Ergebnisse erstaunlich: Bis heute wurde 13 von insgesamt 19 Museen die weiteren Forschungen empfohlen. Die Experten stießen bei ihren Stichproben im Schnitt auf bis zu 15 Verdachtsfälle – in einem Fall sogar auf weitaus mehr. Eigene festangestellte Provenienzforscher zu beschäftigen, ist in großen Museen mittlerweile üblich – nicht aber in den Heimatmuseen.
"Sammlungen, die Bestände haben, die überregional bedeutsam sind – in denen ist natürlich das Bewusstsein für Provenienz-Recherchen allein schon vom kunsthistorischen Aspekt her viel stärker ausgeprägt als bei einer nur regional bedeutsamen Sammlung, bei der es nur darum geht, regional bedeutsame Stücke zusammenzutragen. Da ist dieses Bewusstsein für das Schicksal der Stücke in der NS-Zeit nicht so ausgeprägt. Ich habe auch schon ältere Mitarbeiter erlebt, die die Ansicht vertraten: Es ist nicht wichtig, wie ein Objekt ins Museum kommt, sondern, dass es ins Museum kommt. Man weiß eben nie, auf welchen Wegen die Objekte in ein Museum gekommen sind",
sagt die Leiterin des brandenburgischen Museumsverbandes, Susanne Köstering.
"Es hat auch jüdische Bevölkerung in den kleineren Städten gegeben, auch auf dem Lande hat es die gegeben. Und auch wenn diese Forschung vielleicht nicht große Mengen an NS-Raubkulturgütern zu Tage fördert, lohnt es sich, auch dem Einzelfall nachzugehen. Deswegen denke ich, dass das ein Modell ist, dass auch für andere Museen und Regionen sehr geeignet sein könnte."
Spektakuläre Funde in Müllrose
Inzwischen orientieren sich auch andere Museumsverbände, etwa aus Hessen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, an dem brandenburgischen Erstcheck-Projekt.
"Es ist bekannt, dass viele Menschen im Nationalsozialismus die Chance gesehen haben, sich zu bereichern, weil herkömmliche moralische Standards total außer Kraft gesetzt wurden. Totaler Zivilisationsbruch! Da konnte man raffen, da konnte man gierig sein. Und die Museumsleute waren sicher nicht anders als der Rest der Gesellschaft. Da gab es Angepasste, da gab es welche, die sich ferngehalten haben und da gab es mit Sicherheit auch welche, die sich sehr gefreut haben, dass sie ihren bislang als etwas kärglich eingeschätzten Bestand durch ein paar Highlights noch aufwerten konnten. Das ist alles nicht ausgeschlossen."
In der Kleinstadt Müllrose im ostbrandenburgischen Schlaubetal wurden die Provenienzforscher auf einen historischen Bibliotheksbestand aufmerksam, der aus der Bibliothek des Grafen Lynar stammte. Wilhelm Friedrich Graf zu Lynar war am Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt, war erhängt worden, die Nazis hatten seinen Besitz geplündert – darunter schmuckvoll verzierte Landkarten aus dem 18. Jahrhundert.
Ein spektakulärer Fund der brandenburgischen Provenienzforschung: Verwitterte Din-A-3-große Kupferstiche, die Seiten gewellt. Die Provenienzforscherin Marlies Coburger trägt weiße Handschuhe und blättert darin:
"Vor uns haben wir das Kartenbündel mit den 19 historischen Landkarten, die von einem Müllroser Bürger im Museum abgegeben wurden. Er hat angegeben, dass er sie auf dem Müllplatz gefunden hat. Das ist ein großes Bündel, es hat einen Stempel der Gräflich zu Lynarschen Fideicomiss-Bibliothek, das ist der eindeutige Eigentumsnachweis. Und dann sind auf dem Einband die Karten verzeichnet mit einer wunderschönen, alten Handschrift."
Provenienzforschung endet nicht 1945
Neben den Karten liegt eine Luther-Bibel von 1662, auch die Werke von Friedrich Schiller gehören zum Bibliotheksfund. 89 Objekte.
"Als man sich dann systematisch die Inventare des Museums angesehen hat, ist das öfter gewesen, dass Dinge von der Müllkippe oder von der Schrotthändlerin im Museum abgegeben wurden."
Provenienzforschung endet nicht 1945 – auch das zeigt das Erstcheck-Programm in Brandenburg. Die Wissenschaftler entdecken bei ihrer Suche nach NS-Raubkunst immer wieder Objekte, die in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR den Eigentümern entzogen wurden. Der Erstcheck am Stadtmuseum Cottbus offenbarte mehr als 2.000 Verdachtsfälle. Die Forschung geht weiter.