NS-Raubkunst
Regelmäßig gibt es in Deutschland Ausstellungen von NS-Raubkunst, wie hier in Bremen. © picture alliance / dpa / Carmen Jaspersen
Die Kunstdetektive
15:59 Minuten
Im Jahr 2020 wurden in Bayern 26 von den Nationalsozialisten geraubte Kunstgegenstände an ihre rechtmäßigen Eigentümer oder deren Erben zurückgegeben. Die Arbeit ist mühselig und kostet Zeit. Doch sie lohnt sich.
Matthias Weniger zieht sich erst einmal Gummihandschuhe an. Dann nimmt der Kunsthistoriker des Bayerischen Nationalmuseums im Werkstättengebäude des Museums vorsichtig einen silberglänzenden Gegenstand aus einem gepolsterten Körbchen und hält ihn ins Licht. Weniger zeigt auf das Innere der beiden Becher. Dort steht eine Inventarnummer: 39/174.
„Diese 39 als Jahrgangsnummer, die lässt natürlich schon Böses erahnen. Hier auf der Unterseite steht es auch. Das stammt in der Tat aus der NS-Silberabgabe.“
Im Jahr 1939 mussten alle Bürger, die gemäß den Rassegesetzen der Nationalsozialisten als jüdisch galten, ihre Edelmetalle abgeben. Tonnenweise Silber, Gold oder Edelsteine landeten so beim Regime und die Eigentümer bekamen nur einen Bruchteil des Wertes als Entschädigung. Viele Silbergegenstände wurden eingeschmolzen, andere wurden verkauft und landeten bei Silberschmieden, Privatpersonen oder in Museen.
Mehr als 300 Gegenstände hat das Bayerische Nationalmuseum damals erworben und nur einen Teil davon zurückgegeben. Bisher. Denn Matthias Weniger arbeitet hier auch als Provenienzforscher. Das heißt, er versucht, die Erben der Eigentümer zu finden – keine einfache Aufgabe.
Von München über Magdeburg nach Oxford
Ein Anruf bei Julia Rosenthal. Sie ist Antiquarin, lebt in Oxford, hat deutsche Wurzeln. Ihre Vorfahren wurden von den Nationalsozialisten beraubt. Noch heute sucht sie die Gemälde und Kunstgegenstände, die einst in der Münchner Wohnung ihrer Großeltern waren. Rosenthal besitzt ein Foto von der Hochzeit ihrer Tante Gabriella: 1935 war das, auf dem Bild sitzt das Paar an einer reich gedeckten Tafel in Gabriellas Elternhaus, die junge, hübsche Braut strahlt in die Kamera.
„In diesem schönen Foto steht im Hintergrund ein wunderbares Porträt von Michiel Jansz Mierevelt. Er war ein Maler im 16. Jahrhundert. Und das ist ein Bildnis des französischen Marschalls Gaspard de Coligny.“
Julia Rosenthal aus Oxford sucht ein Bild, der Kunsthistoriker Matthias Weniger die wirklichen Eigentümer der Kunstwerke im Bayerischen Nationalmuseum. Geografisch zwischen ihnen, nämlich in Magdeburg, ist eine Stiftung zu Hause, die es sich zum Ziel gemacht hat, beide Seiten zusammenzubringen.
Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste ist für die Lost-Art-Datenbank verantwortlich. Eine kostenlose Online-Datenbank, in die Menschen Kunstwerke eintragen können, die ihnen oder ihren Vorfahren durch die Verfolgung der Nationalsozialisten abhandengekommen sind. Und in die deutsche öffentliche Einrichtungen Gegenstände online stellen können, bei denen sie den Verdacht haben: Das könnte Raubkunst sein, erklärt Andrea Baresel-Brand vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste.
Eine Art Dating-Plattform für Raubkunst
Das Prinzip ist ein bisschen wie bei einer Online-Dating-Plattform. Bei einem Match, also, wenn beide Seiten das Gefühl haben: „Wir haben uns gefunden“, kann die Stiftung den Kontakt zwischen den Beteiligten vermitteln. Rechtsberatung gibt es aber nicht – die Beteiligten müssen sich selbst einig werden, ob das Kunstwerk zum Beispiel zurückgegeben wird oder die Erben des eigentlichen Eigentümers eine Entschädigung bekommen.
Und: So, wie die Programmierer einer Dating-Plattform keine exakten Zahlen haben, wie viele der Paare, die sich auf ihrer Plattform gefunden haben, langfristig zusammenbleiben, so kann auch Andrea Baresel-Brand nicht genau sagen, wie viele Kunstwerke pro Jahr auch wirklich zurückgegeben werden.
„Es ist sicherlich mehr als ein Objekt pro Jahr, das den Besitzer wechselt. Wir versuchen, über ein Restitutionsverzeichnis jedenfalls die Rückgaben der deutschen öffentlichen Einrichtungen nachzuhalten. Aber das ist niemals vollständig.“
Darüber hinaus unterstützt das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste auch Projekte zur Provenienzforschung. Zum Beispiel Matthias Wenigers Versuch, die Eigentümer der Silbergegenstände im Bayerischen Nationalmuseum zu finden. Oder Julia Rosenthals Suche nach den Kunstwerken ihrer Familie.
Provenienzforschung ist Detektivarbeit
In ihrem Fall fing alles mit einem Büchlein an, erzählt Julia Rosenthal. Ein Katalog aus dem Jahre 1914, den ihr Großvater Erwin für den Geburtstag seines Vaters Jacques erstellt hatte. Darin aufgelistet: 25 Kunstwerke, Gemälde und alte Globen, die damals im Familienbesitz waren.
Rosenthal wollte wissen, was aus dieser Kunstsammlung wurde, und holte sich Unterstützung bei der Kunsthistorikerin und Provenienzforscherin Franziska Eschenbach vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Die begann mit der Detektivarbeit, wälzte durch alte Akten und Kataloge, las Briefe der Familienangehörigen. Bei dem Bild des Grafen Coligny, das Julia Rosenthal sucht, war wegen des Hochzeitsfotos klar, dass es 1935 noch im Familienbesitz war. Doch auch die anderen Kunstwerke aus dem Katalog wurden erst nach Gabriellas Hochzeit zur Versteigerung angeboten, hat Franziska Eschenbach herausgefunden:
„Es ist wirklich auffällig, dass von diesen 25 Objekten alle erst ab 1936 überhaupt in den Handel gekommen sind. Und man fragt sich dann natürlich wieso, wie war die finanzielle Situation der Familie, dass man dann diese Kunstsammlung veräußern wollte.“
Halbherzige "Wiedergutmachungsbehörden"
Kunsthistoriker Matthias Weniger hat im Bayerischen Nationalmuseum einen Stapel Dokumente vor sich. Auch bei ihm ist es eine Art Detektivarbeit, die echten Eigentümer der Silbergegenstände zu finden. Er hat sich auf die Suche nach den passenden Akten der NS-Silberabgabe gemacht. Die Bürokraten in Nazi-Deutschland vermerkten bei jedem einzelnen Silberstück auf standardisierten Formularen unter anderem, was für ein Silbergegenstand genau eingezogen wurde, welches Gewicht er hatte und, ganz wichtig: Wer der Eigentümer war.
Früher, vor einigen Jahrzehnten, wären die Restitutionen viel einfacher gewesen. Denn diese Verzeichnisse zur Silberabgabe waren bis Anfang der 1960er noch komplett vorhanden, sagt Weniger. Damals gab es schon einmal den Versuch, die Gegenstände ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben: Die sogenannten Wiedergutmachungsbehörden hatten diese Akten vorliegen, die Eigentümer konnten Ansprüche erheben und bekamen die Gegenstände zurück, wenn sie die Entschädigung aus der NS-Zeit an den Staat zurückzahlten. Doch die Behörden waren offenbar eher halbherzig am Werk: Teilweise verwechselten sie Gegenstände, erzählt Matthias Weniger, teilweise waren die Silberstücke in den Museen auch unauffindbar.
„In einigen Fällen und das ist jetzt hier konkret der Fall, wurde auch einfach erzählt, das ist nicht mehr nachzuvollziehen, wo die Dinge sind. Obwohl man es hätte nachvollziehen können. Weil in den Wiedergutmachungsbehörden waren ja diese Verzeichnisse, die ich Ihnen gerade eben gezeigt habe, bekannt.“
Stattdessen bekam die Familie, die den Doppelbecher abgeben musste, nur eine kleine Entschädigung: In etwa den Materialwert ihrer Silbergegenstände minus der Entschädigung aus der NS-Zeit. Der Anwalt der Familie protestierte damals dagegen, verwies darauf, dass Gegenstände von künstlerischem Wert darunter waren. Ohne Erfolg, sagt Matthias Weniger.
Kunstraub ist oft verjährt
Doch was ist mit dem Porträt des Grafen Coligny passiert? Das Auktionshaus hat keinen Käufer gefunden, sagt Franziska Eschenbach. Doch 1939 wechselte es trotzdem den Besitzer: Julia Rosenthals Urgroßmutter Emma brauchte Geld, um im letzten Moment noch in die Schweiz fliehen zu können. Der Antiquar Hans Koch kaufte der Familie das Bild und die anderen Reste der Sammlung ab.
Das Porträt des Grafen Coligny landete dann 2011 wieder im Privatbesitz – und wieder verlieren sich die Spuren, sagt Franziska Eschenbach:
„Wir vermuten es weiterhin im süddeutschen Raum und würden uns natürlich auch über Hinweise freuen, falls es jemand vielleicht doch über dem Sofa hängen hat.“
Der aktuelle Besitzer ist übrigens nicht dazu verpflichtet, das Bild an die Familie Rosenthal zurückzugeben – das alles ist nach deutschem Recht längst verjährt. Wenn dieses Bild in einem öffentlichen Museum hängen würde, wäre die Sache ein bisschen anders: Denn 1998 haben über 40 Staaten, darunter Deutschland, die sogenannte Washingtoner Erklärung unterzeichnet. Eine rechtlich nicht bindende Übereinkunft, die wahren Eigentümer von Raubkunst zu suchen und eine gerechte und faire Lösung für einen Ausgleich zu finden.
Aber warum gilt das Porträt des Grafen Coligny, das Franziska Eschenbach und Julia Rosenthal suchen, überhaupt als Raubkunst? Schließlich ist es nicht von den Nazis eingezogen, sondern von der Familie verkauft worden. Das hängt damit zusammen, dass das Bild verkauft worden ist, um die Flucht von Rosenthals Urgroßmutter Emma zu finanzieren, erklärt Franziska Eschenbach.
Fehlende Mittel für würdevolle Rückgabe
Zurück zur Suche nach den Eigentümern des silbernen Doppelbechers. Matthias Weniger hat zusammen mit einer sehr spezialisierten Historikerin Ahnenforschungs-Datenbanken durchsucht, um die wahren Eigentümer der Kunstwerke aus der Silberabgabe zu finden, die noch im Bayerischen Nationalmuseum sind. Sie haben Social-Media-Plattformen wie Facebook und LinkedIn benutzt, um mögliche Familienangehörige zu kontaktieren, Online-Telefonbücher genutzt. Die Arbeit sei teilweise schon sehr mühsam, sagt Weniger.
Im Fall des Doppelbechers hatte seine Suche Erfolg: Zwei Söhne der einstigen Eigentümerin leben noch, fast 100 Jahre sind sie alt. Doch wenn Erben ausfindig gemacht worden sind, heißt das nicht automatisch, dass die Gegenstände gleich zurückgegeben werden können, erklärt Weniger. Unter anderem muss geklärt werden, dass es nicht noch weitere Erben gibt, alles muss noch juristisch geprüft werden, das zuständige Ministerium muss zustimmen – schließlich geht es um Stücke aus Staatsbesitz. Und wenn das alles geschafft ist, dann gibt es noch ein großes Problem: Wie kommt der Silbergegenstand zu den Eigentümern? Weil die Eigentümer oft in Israel oder den USA leben, wäre es für sie teuer und aufwendig, einen Becher oder einen Leuchter in München abzuholen, sagt Weniger:
„Andererseits empfinde ich es als doch recht unwürdig, Dinge einfach in ein Paket zu schicken und zu versenden, in Einzelfällen haben wir das gemacht, wenn die Familien das verlangt haben. Aber eigentlich ist doch die Idee, dass man die Dinge persönlich übergibt, und dafür gibt es keine Mittel. Es gibt Mittel für die Forschung, aber Mittel, das ganze Drumherum der Rückgaben zu organisieren, die fehlen eigentlich.“
Zurück in Familienbesitz - oder im Museum?
Matthias Weniger ist zuversichtlich, den Doppelbecher trotz aller Schwierigkeiten in Kürze in Israel an die Eigentümer übergeben zu können. Andere Familien wünschen sich, dass ihre Leuchter oder ihr Silberbesteck an ein jüdisches Museum übergeben wird, erzählt er. Er persönlich sieht die Gegenstände am liebsten im Familienbesitz – schließlich seien sie oft das einzige Materielle, was von Opfern der Shoah geblieben ist.
Julia Rosenthal, die Antiquarin aus Oxford, sieht das für die Kunstwerke ihrer Familie etwas anders. Sie schließt Rückforderungen zwar nicht völlig aus, "aber persönlich würde ich am meisten freuen, wenn die Stücke da bleiben, wo sie sich befinden – wenn sie sich in öffentlichen Museen befinden.“
Dort könne man dann einen Hinweis auf ihre Familie und die Geschichte des Kunstwerks anbringen, findet sie. Die Erinnerungsarbeit sei oft wichtiger als die Objekte selbst, sagt Matthias Weniger vom Bayerischen Nationalmuseum.
Und auch für ihn als Wissenschaftler sei seine Arbeit oft sehr emotional und überwältigend. Und erfüllend.
„Als ich die Arbeit angefangen habe und bedacht habe, dass zwei Drittel der einstigen Besitzer umgekommen sind in der NS-Zeit und ganze Familien ausgelöscht wurden, habe ich eigentlich nicht gedacht, dass wir so weit kommen würden. Ich habe eher damit gerechnet, dass wir nur einen kleineren Teil der Familien wirklich identifizieren können. Und dass wir inzwischen davon ausgehen, dass wir alle Gegenstände zurückgeben können, das hätte ich am Anfang selbst nicht für möglich gehalten.“