Wenn man sich vor Augen führt, dass in der Kamenzer Straße Konzerte stattfinden, in denen vielleicht der Holocaust geleugnet wird, Gewalt gegen Minderheiten das Wort geredet wird, wo vielleicht Antisemitismus eine Rolle spielt, dann entweiht das diesen Ort natürlich in perfidester Form. Das ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann für einen historischen Ort, an dem Menschen zur Arbeit gezwungen, ausgebeutet wurden, zusammengepfercht waren und gelebt haben - wenn man das leben nennen kann. Dass die Erinnerung daran nicht nur verunmöglicht, sondern auch verhöhnt wird.
HASAG Leipzig
Die Kamenzer Straße 12 in Leipzig: laut dem Verfassungschutz eine "rechtsextremistisch genutzte Immobilie". © Deutschlandradio / Ronny Arnold
Rechtsrock im ehemaligen KZ-Außenlager
13:48 Minuten
Über 5000 Frauen waren im KZ-Außenlager HASAG Leipzig inhaftiert. Heute ist das Gelände in Privatbesitz und gilt als "rechtsextremistisch genutzte Immobilie". Unhaltbare Zustande, findet eine Initiative und fordert die Stadt zum Handeln auf.
Die „Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig“ in der Permoserstraße ist klein. Es ist ein ehemaliges Pförtnerhäuschen aus den 1970er-Jahren. Es ist kein historisches Gebäude der NS-Zeit. "Wir sind jetzt hier auf dem ehemaligen Werksgelände der HASAG, und heute geht es um das Frauenaußenlager", kündigt Historikerin Annkathrin Richter an.
In großen Lettern steht der Name an der Außenfassade des beige gestrichenen Flachbaus. Nur ein metallenes Drehkreuz trennt ihn von der vielbefahrenen Straße gleich nebenan.
Im einzigen Gedenkraum hängen alte Plakate und Karten an der Wand, Schautafeln klären über die Kriegswirtschaft der HASAG auf. Die Hugo Schneider AG stellte im Dritten Reich unter anderem Panzerfäuste für Hitlers Armee her – gebaut vor allem von Zwangsarbeiterinnen.
Interniert waren sie in der Kamenzer Straße 12, etwas mehr als einen Kilometer von der Gedenkstätte entfernt. Ab 1944 war es das größte Frauenaußenlager des Konzentrationslagers Buchenwald: Über 5000 Häftlinge, eingepfercht auf engstem Raum, in zu Blöcken unterteilten hohen Fabrikhallen.
Geschlafen wurde auf schmalen, mehrstöckigen Holzpritschen, erzählt Historikerin Annkathrin Richter, die seit Jahren über Zwangsarbeit beim Rüstungskonzern HASAG aufklärt.
"Hier ist die Kamenzer Straße. Das Gelände war mit Stacheldraht umzäunt und SS-Posten an den Grenzen aufgestellt", beschreibt sie den Ort damals: "Das Lager bestand bis zum 13. April 1945 und ab dann evakuierte die SS das Lager und schickte die Zwangsarbeiterinnen auf mehrere Todesmärsche quer durch Sachsen."
Fünf Interessierte beim Vortrag zur HASAG
Fünf Interessierte lauschen Richters Vortrag an diesem Samstagnachmittag. Immerhin, sagt Josephine Ulbricht. Bei Sonnenwetter sei das okay. Ulbricht steht vor der Gedenkstätte, bereit für einen kleinen Rundgang. Seit knapp 15 Jahren gehört sie zum Team.
"Die Gedenkstätte selbst ist auf dem ehemaligen HASAG-Gelände. Gegenüber befindet sich das Verwaltungsgebäude vom UFZ, das damals das Verwaltungsgebäude der HASAG war." Dies sei eines der wenigen baulichen Relikte, die erhalten geblieben seien, so wie das in der Kamenzer Straße 12, erklärt Ulbricht. Die sowjetische Besatzungsmacht habe 1946/47 den Großteil der Hallen gesprengt.
Das Trümmerfeld ist längst Geschichte. Heute stehen hier ringsum moderne Bauten, das gesamte Gelände gehört zum UFZ, dem Umweltforschungszentrum.
Über die Kamenzer Straße 12, das KZ-Außenlager, war lange Zeit fast nichts bekannt – bis der Verein "Erinnern an NS-Verbrechen in Leipzig" mit einem kleinen Team anfing, nachzuforschen.
"Wir haben uns in den letzten Jahren intensiv damit auseinandergesetzt, erstmal zu verifizieren, ob es sich bei dem Gebäude in der Kamenzer Straße 12 überhaupt um das historische Gebäude handelt." Sie hätten Baupläne von der HASAG und Luftbilder ausgewertet und das dann abgeglichen mit Berichten von Überlebenden, erinnert sich Ulbricht. Danach habe man sagen können: "Das ist das Gebäude in der Kamenzer Straße 12, daneben befanden sich die Baracken und das gehörte zusammen als KZ-Außenlager."
Der nächste Satz macht stutzig: "Von dem Gebäude selbst steht noch ein Großteil der Fassade. Wir können aber nicht sagen, wie das von innen aussieht, weil wir selbst noch nicht in dem Gebäude waren."
Der Wachhund schlägt schnell an
Seit Jahren beschäftigt sich Josephine Ulbricht, fast täglich, mit der Kamenzer Straße 12. Doch betreten hat sie das ehemalige KZ-Außenlager noch nie, weil das nicht erwünscht sei und weil sie das selbst, unter diesen Umständen, auch nicht will. Denn der Gebäudekomplex gehört seit knapp 15 Jahren einem bekennenden Rechtsextremisten und wird von der militanten Neonaziszene als Treffpunkt genutzt.
Deshalb hat Josephine Ulbricht ein Treffen direkt vor Ort abgelehnt. Auch jetzt, zu unserem kleinen Rundgang, will sie das nur wenige Gehminuten entfernte Außenlager nicht besuchen.
"Es ist ein unangenehmes Gefühl, vor Ort zu sein, weil dann auch relativ schnell der Wachhund anschlägt. Es ist auch eine Kamera auf den Eingang gerichtet. Wir wissen halt, welches Milieu sich in dem Gebäude bewegt, und das ist nicht zu unterschätzen", sagt Ulbricht. "Wir gehen an Gedenktagen hin und legen an der Gedenktafel Blumen nieder. Und wir waren auch schon mit einem Überlebenden dort vor Ort und seiner Familie. Aber es ist nicht angenehm."
Fügt man die Recherchen der Gedenkstätte, politischer Netzwerke sowie Nachfragen bei Polizei und Staatsanwaltschaft zusammen, wird klar, was Ulbricht mit "nicht angenehm" meint. Das knapp 18.000 Quadratmeter große Areal in der Kamenzer Straße 10 und 12 gehört demnach dem Neonazi Ludwig K., der sich heute "Prinz von Preußen" nennt.
2007 verkaufte ihm die Treuhand Liegenschafts-GmbH, kurz TLG, den Gebäudekomplex. Der rechte Hintergrund des Käufers spielte damals offenbar keine Rolle.
Bereits wenige Monate später fanden vor Ort erste Rechtsrock-Konzerte mit einigen Hundert Besuchern statt. Vor vier Jahren stellte die Polizei im Keller des Gebäudes eine Hakenkreuzfahne sicher.
Offensichtlich überlässt Ludwig K. als Vermieter seit Jahren rechtsextremen Akteuren und Gruppen das Gebäude. So trainierte bis vor zwei Jahren etwa das „Imperium Fight Team“ rund um den bekannten Neonazi und Wurzener Stadtrat Benjamin Brinsa in der Kamenzer Straße.
Neonazis stören das Gedenken
Der sächsische Verfassungsschutz führt den Komplex unter "rechtsextremistisch genutzte Immobilie". Was das bedeutet, durfte Stadträtin Juliane Nagel vor Jahren selbst miterleben. Sie erinnert sich daran, wie sie 2009 mit der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano, inzwischen verstorben, für eine Gedenkveranstaltung vor Ort war: "Die ist gestört worden durch Neonazis."
In so einem Moment ziehe sich alles zusammen, sagt Nagel. "Das ist eine Situation, die darf nicht passieren. Ich denke, dass es für Hinterbliebene – die wenigen, die es noch gibt – ein ganz schlimmer Schlag ist, dass der Ort der eigenen Peinigung durch Nachfahren dieser rechten Ideologen genutzt wird."
Juliane Nagel sitzt seit 2009 für die Linke im Leipziger Stadtrat und ist seit 2014 Mitglied des sächsischen Landtags. Sie versucht seit vielen Jahren, rechte Strukturen in Sachsen offenzulegen und auf Netzwerke von Rechtsextremisten aufmerksam zu machen.
Von Neonazis genutzte Objekte kennt sie einige, doch dieser Ort im Leipziger Nordosten sei besonders und hätte eigentlich niemals in die Hände von Neonazis fallen dürfen.
Josephine Ulbricht sieht das genauso. Doch was kann sie, was kann ihr Verein tun? Zugegeben, nicht viel. Der Gebäudekomplex ist in privater Hand. Vor zwei Jahren durfte sie kurz hoffen. Das Landesamt für Denkmalpflege Sachsen habe das 2020 geprüft und sei dafür auch in der Gedenkstätte vor Ort gewesen. "Wir selber haben auch unsere Recherchen zur Verfügung gestellt. Wir hatten die Hoffnung, dass das Landesamt das Gebäude auch mal von innen begutachtet, dass da Spuren gesichert werden können."
Sie hätten gehofft, dass das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt würde und dann auch bauliche Veränderungen genehmigt werden müssten und es auch vor dem Abriss bewahrt würde. Und sie hätten auch gehofft, "dass die öffentliche Hand das Vorkaufsrecht hätte für das Gebäude, wenn der Eigentümer das veräußern wollen würde".
Enttäuschte Hoffnungen
Das ernüchternde Ergebnis: Die Landesämter für Archäologie und für Denkmalpflege Sachsen, die mit der Überprüfung beauftragt wurden, stellten fest, dass die baulichen Veränderungen nach 1945 eine Listung als Bodendenkmal nicht zulassen. Und auch, dass durch die Umbauten die Voraussetzung zur Eintragung als Kulturdenkmal nicht erfüllt sei, weil die Nutzung des Gebäudes als Unterkunft zur Zwangsarbeit in baulicher und architektonischer Hinsicht nicht mehr darstellbar ist.
Für die Stadt Leipzig sei das nachvollziehbar, sagt Sprecher Matthias Hasberg. Man müsse da differenzieren. "Als Erinnerungsort ist es für die Stadt natürlich außerordentlich wichtig. Es ist ein Zeugnis für Zwangsarbeit, für die Unmenschlichkeit des NS-Regimes, ein Zeugnis für Krieg, für Rüstung, für Ausbeutung. Deswegen werden wir als Stadt dort auch ein Gedenken sichtbar machen. In Form einer Stehle, wie auch immer die geartet sein wird, das ist noch nicht klar", sagt er. Das solle schon in diesem Sommer passieren.
Von außen sei dann sichtbar, dass hier ein historisch wichtiger Ort ist, so Hasberg: "Das andere ist die formale Einstufung als Denkmal: Da sind die Vorgaben sehr eng. Ein Denkmal braucht zwingend den historischen baulichen Zustand, zumindest große Teile davon. Die sind dort nicht mehr gegeben. Und deswegen hat die obere Landesdenkmalbehörde den Denkmalstatus für dieses Gebäude verwehrt."
Die Gedenktafel der Stadt soll nun vor dem Gebäude aufgestellt werden. Aktuell scheint das für Leipzig der Minimalkonsens zu sein.
Eine kleine, von privaten Initiatoren bereits vor vielen Jahren angebrachte Erinnerungstafel wurde allerdings mehrfach geschändet.
Eine Stehle ist zu wenig
Für Josephine Ulbricht ist die Stehle zwar gut und wichtig, aber deutlich zu wenig. Deshalb gibt es seit Januar eine öffentliche Erklärung der Gedenkstätte für Zwangsarbeit, in der die Stadt Leipzig zum Handeln aufgefordert wird. Punkt eins: die Kamenzer Straße 12 muss in das Eigentum der öffentlichen Hand übergehen.
Mehr als 1.500 Einzelpersonen und Vereine haben mittlerweile unterzeichnet. Tatsächlich stehe die Stadt seit einiger Zeit mit dem Besitzer in Kontakt, bestätigt Matthias Hasberg. Doch dessen Vorstellungen zum Preis des Gebäudekomplexes – im Raum stehen fast zehn Millionen Euro – seien völlig überzogen. Und man könne ihn eben auch nicht einfach enteignen.
"Eine Stadt kann nicht enteignen, nur weil einem die Gesinnung eines Eigentümers nicht gefällt. Das ist auch richtig so. Da muss man auch zu stehen", sagt Hasberg. "Den Kontakt zum Eigentümer gibt es, und der hat Preisvorstellungen, die sehr weit entfernt sind vom Marktpreis dieses Geländes." Zudem müsse man auch darüber nachdenken, wem man das Geld dann gebe: "Da stellt sich die Frage, ob man das denn will."
Das will man nicht, da sind sich wiederum alle Seiten einig. Auch Josephine Ulbricht ist dagegen. Trotzdem soll sich die Stadt nun nicht einfach zurücklehnen und abwarten, sondern andere Wege finden.
"Das ist natürlich ein Problem, so naiv sind wir auch nicht. Und wir fordern auch keine Enteignung", betont sie. "Aber wir fordern, dass die Stadt tätig wird und sich in Bewegung setzt und vielleicht andere geeignete Käufer findet."
Wenn sie es projektieren könnte, dann wären 2025 in dem Gebäude eine wissenschaftliche Einrichtung oder Räume für Kunst, Ateliers und Proberäume. "Und wir hätten als Gedenkstätte dort zwei Räume, die wir nutzen könnten für Ausstellungen und Seminare und Workshops. Und es wäre ein Ort, an dem man gedenken und erinnern kann und wo man historisch politische Bildungsarbeit bedenkenlos durchführen kann."