NSDAP-Mitglied wider Willen?

Rezensiert von Malte Herwig |
Manch einer will heutzutage von seiner NSDAP-Mitgliedschaft nichts gewusst haben. Der Band "Wie wurde man Parteigenosse?" zeigt aber auf eindrucksvolle Weise, dass eine Aufnahme in die Nazipartei ohne eigenes Zutun fast ausgeschlossen werden kann.
So simpel er klingt, so unnachgiebig lenkt der Buchtitel den Blick auf eine klaffende Forschungslücke. Kann es angesichts der ausufernden Forschungsliteratur zum Dritten Reich wirklich sein, dass die Aufnahmeverfahren jener Partei kaum erforscht sind, die im Zentrum dieses Unrechtsstaates stand und deren Mitgliedschaft bis heute als unheilvoller Makel gesehen wird?

Seit der Goldhagen-Debatte in den 90er-Jahren ist kein historisches Thema so erregt in der Öffentlichkeit diskutiert worden wie die Frage, ob man ohne eigenes Zutun und Wissen Mitglied in der NSDAP werden konnte. Dass es nicht um moralische Schuldzuweisungen gehen kann, ist auch dem Herausgeber Wolfgang Benz klar:

"Zu klären bleibt allerdings – und dies ist ein Problem der Wissenschaft und keines der Moral – welche Aufnahmeprozeduren für die NSDAP galten und ob man auch ohne sein Wissen Parteigenosse werden konnte."

Glaubt man den zahlreichen Leserbriefen in deutschen Zeitungen, ist auch heute noch die Ansicht weit verbreitet, dass es möglich gewesen sei, ohne eigenes Wissen in die NSDAP aufgenommen zu werden. In diesem Sinne haben sich auch die Historiker Hans-Ulrich Wehler und Norbert Frei geäußert – doch Belege sind sie schuldig geblieben. Auf Anfrage beim Lehrstuhl Frei erfährt man sogar, dass der Professor seit Jahren nicht mehr zu diesem Problem geforscht hat, aber nach wie vor zahlreiche Zuschriften von Betroffenen erhalte, die seine Interpretation von Massenaufnahmen in die NSDAP bestätigten. So wichtig die Aussagen von Zeitzeugen für die Geschichtsforschung sind, hier wird der Bock zum Gärtner gemacht.

Denn mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Verbot der NSDAP ranken sich in Deutschland immer noch allerlei Mythen um die Hitlerpartei, die ihren Ursprung in der unmittelbaren Nachkriegszeit haben. Ein Grund dafür dürfte die umfassende Durchdringung der deutschen Gesellschaft durch die NSDAP gewesen sein, deren totalen Herrschaftsanspruch Hitler in seiner Reichenberger Rede von 1938 deutlich machte:

"Dann kommt eine neue deutsche Jugend, und die dressieren wir schon von ganz kleinem an für diesen neuen Staat. Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln. Und wenn diese Knaben und Mädchen mit ihren zehn Jahren in unsere Organisationen hineinkommen und dort nun wie so oft zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standes-Erzeuger, sondern dann nehmen wir sie wieder fort in die Partei und die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK usw. ... und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben ..."

Kein Deutscher und keine Deutsche sollte dem entgehen. Was als politische Sekte im Münchner Bierdunst begonnen hatte, entwickelte sich bald zu einer verzweigten Massenorganisation, in deren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden im Dritten Reich zuletzt zwei Drittel der Deutschen organisiert waren. Allerdings: Die Mitgliedschaft in der Partei war etwas anderes, und der Anteil der Parteimitglieder an der deutschen Gesamtbevölkerung war wesentlich geringer. Wer ihr beitrat, hatte meist gute Gründe:

"Die Mitgliederzahl der NSDAP stieg von einer Million Anfang 1933 innerhalb von Wochen auf 2,5 Millionen. 'Märzgefallene', weil sie nach den Märzwahlen 1933 die Konjunktur erkannten, nannten die 'Alten Kämpfer' (das waren die Inhaber des Goldenen Parteiabzeichens, das diejenigen tragen durften, die eine Mitgliedsnummer unter 100.000 hatten, also bis etwa 1928 eingetreten waren) und die 'Alten Parteigenossen' (das waren alle anderen, die vor dem 30. Januar 1933 der NSDAP beigetreten waren) jene, die erst durch den Machterhalt Hitlers und die Aussicht auf Fortkommen und Pfründe den Weg zum Nationalsozialismus gefunden hatten. Am 1. Mai 1933 wurde deshalb eine Aufnahmesperre für die NSDAP verfügt. Nach der Lockerung und Aufhebung stieg die Zahl der Parteigenossen, geläufig abgekürzt 'PG, auf zuletzt 8,5 Millionen."

Also weniger als 15 Prozent der Bevölkerung. Angesichts solcher Zahlen klingt es wie blanker Hohn, wenn heute immer wieder kolportiert wird, beim Entschluss zum Parteieintritt habe Zwang, nicht Opportunismus die entscheidende Rolle gespielt. Überhaupt: Warum sollte eine Partei Interesse daran haben, Leute ohne deren Wissen als Mitglieder zu führen, wenn sie zeitweise sogar ein Aufnahmestopp verhängen musste? In Wirklichkeit war die NSDAP weit populärer, als heute zugegeben wird. Benz:

"Mit Ausnahme praktizierender Katholiken und des industriellen Proletariats fand die NSDAP Unterstützung und Mitglieder in allen Schichten. Ihre Anhängerschaft wies schließlich eine ausgewogenere Sozialstruktur auf als alle anderen Parteien der Weimarer Republik."

Ein Paradox: Einerseits wollte kein Deutscher nach 1945 etwas mit der Partei zu tun gehabt haben, andererseits wird noch heute die Legende gepflegt, dass der Parteieintritt ganzer Jahrgänge ohne deren Wissen heimlich vollzogen wurde. In seinem aufschlussreichen Beitrag wertet Armin Nolzen eine 1947 gedruckte Broschüre mit dem Titel "Who was a Nazi?" aus. Das Dokument diente amerikanischen Militärbehörden und deutschen Spruchkammern als Handreichung für Entnazifizierungverfahren. Es enthält auch Hinweise auf die Einstellung der betroffenen Deutschen:

"Demnach betonten frühere 'Parteigenossen' immer wieder, ihre Organisationen seien automatisch der Partei einverleibt worden und sie hätten ihre Mitgliedschaft letztlich wider Willen erlangt. Niemals, so stellten die amerikanischen Bearbeiter fest, sei irgendeine Organisation auf diese Weise in die NSDAP überführt worden. Dies gelte auch für HJ und BDM, deren Angehörige man weder kollektiv noch automatisch übernommen hätte. Im Gegenteil: Nur eine Minderheit der Jugendlichen sei für die Mitgliedschaft in der Partei vorgeschlagen worden, und jeder Kandidat habe seinen Aufnahmeantrag eigenhändig unterschreiben müssen."

Oft ist vermutet worden, dass HJ-Führer eigenmächtig Anmeldungen vornahmen. Dazu hätten sie die Unterschrift auf dem Anmeldeformular fälschen müssen. Doch bis heute ist aus keiner Quelle, die vor dem 8. Mai 1945 entstanden ist, eine gefälschte Unterschrift eines HJ-Führers bekannt.

Allerdings sind die Aufnahmeverfahren im Fall der Jahrgänge 1926 und 1927 wohl weit repressiver gehandhabt worden als in den Jahren zuvor. Zwar verweist Nolzen die Annahme, es habe ein gesetzliches Soll für Aufnahmen aus HJ und BDM gegeben, ins Reich "pure[r] Fiktion". Klar ist aber auch, dass die internen Richtwerte in einzelnen HJ-Gebieten weit überschritten wurden.

"Sicherlich stieg der Druck hierzu kontinuierlich an und erreichte beim Aufnahmeverfahren 1944 seinen Höhepunkt.""

In diesem Punkt wenigstens überschneiden sich die Erkenntnisse der Historiker mit den Erinnerungen vieler Zeitzeugen an kollektiven Zwang und Repressalien, die zum Parteieintritt geführt haben sollen. Aber, so das Fazit der Forscher, ohne eigenhändig unterschriebenen Aufnahmeantrag lief nichts. Auch gab es für keinen einzigen HJ- und BDM-Jahrgang, dessen Angehörige zwischen 1937 und 1944 in die Partei aufgenommen wurden, eine automatische Aufnahme.

"Dem Einzelnen blieb immer die Möglichkeit, sich entweder für oder gegen eine Unterschrift zu entscheiden."

Dass Hitlerjungen davon tatsächlich gebraucht machten, zeigt ein hier zitierter SD-Bericht von 1943 über die "Einstellung der Jugend zur Partei", dessen Autoren bei vielen Jugendlichen im Reich "Gleichgültigkeit" und "mangelnde Bereitschaft" zum Parteidienst beobachteten:

"Einige blieben der Aufnahmefeier fern, obwohl sie den Aufnahmeantrag unterschrieben hatten, andere wiederum waren von ihren HJ-Führern gar nicht erst zur Feier bestellt worden. Darüber hinaus beobachtete man selbst bei HJ- und BDM-Mitgliedern, die acht Jahre lang in der NS-Jugendorganisation ihren Dienst getan hatten und jetzt von ihren Führerinnen und Führern dazu aufgefordert wurden, einen Aufnahmeantrag auszufüllen, dass sie dies 'mit unschönen Bemerkungen' ablehnten."

Offensichtlich war es also doch möglich, nein zu sagen – anders als manche Zeitzeugen in entrüsteten Leserbriefen uns Nachgeborenen vorhalten. Dass dazu Mut gehörte, keine Frage, und dass fehlender Mut menschlich ist, auch. Aber dass die Wirkung der Hitlerpartei bis heute bei vielen Deutschen zu einer kollektiven Selbstverleugnung führt, bleibt ebenso erstaunlich wie die Naivität sonst kritischer Historiker und Feuilletonisten, die einen Schlussstrich unter die unliebsame Debatte setzen wollen. Einen Historikerstreit um Parteieintritte muss es jetzt nicht mehr geben, dafür haben Wolfgang Benz und seine Mitarbeiter mit ihrem profund recherchierten Band gesorgt. Die gesellschaftliche Debatte aber hat gerade erst begonnen.

Wolfgang Benz (Hrsg.): Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder
Fischer Taschenbuch 2009
Wolfgang Benz (Hrsg.): "Wie wurde man Parteigenosse?"
Wolfgang Benz (Hrsg.): "Wie wurde man Parteigenosse?"© Fischer Taschenbuch