Spagat zwischen Parteipolitik und Wahrheitsfindung
Hessen wählt im Oktober. Und trotz des Wahlkampfs haben sich die Mitglieder des NSU-Landesuntersuchungsausschusses geeinigt, sich gemeinsam auf eine Entschuldigung an die Familien der Opfer zu einigen. Die Schuldvorwürfe aber stehen im Bericht des U-Ausschusses.
Der Start im Jahr 2014 war noch sehr holprig. Die hessischen Regierungsparteien von CDU und Grünen wollten den Ausschuss zunächst nicht. Jürgen Frömmrich, Sprecher für Innen- und Rechtspolitik der grünen Landtagsfraktion in Wiesbaden: "Wir haben dann aber auch bei der Arbeit dieses Untersuchungsausschusses festgestellt, dass es gut ist, dass er eingerichtet worden ist."
Das ist heute Konsens in Regierung und Opposition: Die jahrelange Arbeit an der Frage, welches der hessische Anteil am mörderischen Wirken des Nationalsozialistischen Untergrunds NSU und dessen allzu späte Aufklärung war - sie war sinnvoll. Auch deshalb, weil man tiefe Einsichten zur fragwürdigen Rolle des damaligen hessischen Verfassungsschützers Andreas Temme gewann. Temme hatte sich zur Stunde des Kasseler NSU-Mordes an Halit Yozgat am 6. April 2006 am Tatort aufgehalten, einem Internetcafé. Mutmaßungen darüber, ob und inwieweit der deutsche Geheimdienst mit den Mordtaten der 2011 aufgeflogenen Terrorgruppe verflochten ist, reißen auch deshalb nicht ab.
Bouffier informierte zu spät
Der damalige hessische Innenminister und heutige Wiesbadener Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) informierte den Landtag seinerzeit zu spät über Temme. Das sehen heute wohl die meisten Landtagsabgeordneten im Ausschuss so. Jörg-Uwe Hahn war ehemaliger stellvertretender hessischer Ministerpräsident und ist jetzt FDP-Obmann im NSU-Untersuchungsausschuss: "Er hätte ja die parlamentarische Kontrollkommission darüber informieren müssen, dass ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes in der Zeit einer Mordtat am Tatort gewesen ist. Ob er nun genau zur Minute da war, das werden wir nie mehr erfahren. Aber das ist eine Information, die muss unverzüglich der parlamentarischen Kontrollkommission, das heißt der Ersten Gewalt, zur Verfügung gestellt werden."
Ganz ähnlich sehen das die Grünen, die sich heute in einer Koalition mit dem CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier befinden. Jürgen Frömmrich, Obmann der Grünen im NSU-Untersuchungsausschuss: "Die Frage, wann man das Parlament hätte informieren müssen oder können, da haben wir gesagt: Das hätte man auch schon früher machen können und zwar in einer internen Runde der Obleute, das ist in anderen Zusammenhängen auch schon passiert. Und das sind ja auch Punkte, die auch Bestandteil des Berichts des Untersuchungsausschusses sind."
Wichtige Erkenntnisse über die rechtsradikale Szene
SPD und Linke werfen Volker Bouffier jedoch noch weitergehende Fehler und Versäumnisse vor – dazu werden sie Sondervoten zum Abschlussbericht vorlegen.
Konsens aller Parteien ist dann aber wieder, dass der Untersuchungsausschuss wichtige Erkenntnisse über die rechtsradikale Szene in Hessen und ihre Verknüpfungen nach Thüringen und ins Ruhrgebiet gebracht hat. Holger Bellino, CDU-Obmann im Ausschuss: "Wir haben auch gesagt, dass wir das gesamte Feld des Rechtsextremismus aufmachen und sehen wollen: Was war damals die Situation, wie haben die sich zusammengefunden? Haben die sich organisiert - länderübergreifend? Das hat natürlich Zeit gekostet, aber ich denke, das war dann keine Frage mehr. Wir haben gesagt: 'Wir machen den Ausschuss'. Und dann muss man das auch konsequent nachvollziehen, und dann kann man das nicht in einem halben oder in einem Jahr machen."
Im von allen Fraktionen im Konsens eingebrachten Entwurf der Präambel entschuldigt sich der hessische Landtag überdies bei den Familien aller NSU-Mordopfer. Herrmann Schaus, Obmann der oppositionellen Linkspartei im Ausschuss: "Und der zweite Punkt, der durchaus erwähnenswert ist, ist, dass der Ältestenrat in den letzten Tagen einstimmig unserem Antrag gefolgt ist, einstimmig, den Abschlussbericht, wenn er dann da ist, ins Türkische zu übersetzen. Das ist, glaube ich, einmalig in der Bundesrepublik, das gab es bisher noch nicht. Und da freuen wir uns natürlich, dass da alle Fraktionen unserem Antrag gefolgt sind."
Konsequenzen für den Verfassungsschutz
Weitgehend einig ist man sich im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss auch darüber, dass der Verfassungsschutz des Landes sich ändern muss und sich zumindest teilweise auch bereits geändert hat. Doch die Reform des Geheimdienstes muss noch weitergehen als bisher, fordert Jörg-Uwe Hahn von der FDP. Hahn war bis 2014 auch einige Jahre Justizminister einer schwarz-gelben Koalition in Hessen:
"Die Befehlsstruktur im Verfassungsschutz ist eine andere geworden. Trotzdem habe ich das Gefühl, da ist man noch nicht am Ende. Sondern es muss noch eine größere innere Transparenz herein. Dass der Verfassungsschutz nicht jeden Tag jedem Journalisten erzählt, was er macht, ist vollkommen klar. Das ist sein Job. Aber das ist ein Vorwurf, den wir als FDP immer wieder erheben und wo wir ins leider nicht durchsetzen konnten, auch zu Regierungszeiten: Die parlamentarische Kontrollkommission muss bei weitem mehr Informationen und Transparenz erhalten."
In welche Richtung gehen die Grünen
Eine Ausweitung der Geheimdienstkontrolle durch den Landtag - die FDP könnte das möglicherweise nach der hessischen Landtagswahl Ende Oktober gemeinsam mit den Grünen in einer Jamaika-Koalition im neuen hessischen Landtag durchsetzen, denn nach allen Umfragen der letzten Monate bräuchte eine schwarz-grüne Regierung künftig noch einen dritten Koalitionspartner. In Sachen Verfassungsschutzreform ergeben sich da gegebenenfalls neue Möglichkeiten, so der führende hessische Liberale Jörg-Uwe Hahn: "Weil die Grünen mehr vom Thema 'Freiheit' und die Schwarzen intensivst vom Thema 'Sicherheit' kommen. Und da ist die Diskussion leider in meinen Augen zu sehr sicherheitslastig, und ich hoffe, dass sich die Grünen - vielleicht auch ein bisschen von uns geschubst - noch mehr durchsetzen können."
Voraussichtlich im August wird das Plenum des Wiesbadener Landtages die Ergebnisse des NSU- Untersuchungsausschusses diskutieren. Anschließend werden Berichtstext und abweichende Sondervoten der Opposition beschlossen und der Öffentlichkeit präsentiert - erstmals auch in türkischer Sprache.