Ein starkes Stück Rechtsstaat
Im NSU-Prozess erlebt der Rechtsstaat Sternstunden, meint Peter Lange. Gewaltfrei und unbeirrt hat die Justiz eine Erklärung der Zeugin herbeigeführt, mag diese noch so armselig gewesen sein. Dieses System gilt es zu verteidigen und zu erhalten – zumal in Zeiten des Terrors.
Eine Angeklagte darf vor Gericht lügen. Sie darf die Wahrheit zu ihren Gunsten verbiegen, sie darf Halbwahrheiten, Ausflüchte und Ausreden präsentieren; sie darf auch schweigen. Sie darf fast alles tun, von dem sie glaubt, dass es ihrer Verteidigung dient.
Das ist eine der großen Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats, um Unschuldige vor Fehlurteilen zu schützen. Es dürfen keine Aussagen erpresst werden, Schweigen darf nicht als Schuldeingeständnis gewertet werden. Und strafrechtlich relevante Schuld muss bewiesen werden.
Am Mittwoch hat nun im NSU-Prozess die Angeklagte Zschäpe ihre Strategie des Schweigens aufgegeben. So armselig, abstoßend und abstrus ihre Erklärung auch war – für die Justiz war es eine Sternstunde. Mit den Mitteln des Rechtsstaats, mit einer peniblen Beweisaufnahme und der darauf aufgebauten Indizienkette hat das Gericht die Angeklagte dazu gebracht, ihr Schweigen aufzugeben, sich zu erklären und letztlich zu gestehen, was ihr ohnehin schon nachgewiesen war. Dass Zschäpe dabei die Schuld auf die beiden anderen Neonazis schob, für die irdische Richter nicht mehr zuständig sind – geschenkt. Es wird ihr am Ende wohl nichts nützen.
Ein zivilisatorischer Fortschritt, in Jahrhunderten mühsam errungen
Der Prozess in München ist ein starkes Stück Rechtsstaat. Hier wird demonstriert, was er kann und wozu er gut ist – prinzipienfest, souverän, unbeirrt und seiner eigenen Werte gewiss. Er kommt ohne Folter aus, ohne Amputationsstrafen, Auspeitschen, Steinigung und Todesstrafe. Ein zivilisatorischer Fortschritt, in Jahrhunderten mühsam errungen seit den Zeiten der Aufklärung, mit schrecklichen Rückfällen in die Barbarei zwischendurch.
Es ist dieser liberale, demokratische Rechtsstaat, den es zu verteidigen gilt, weil er in vielen Ländern Europas in die Zange genommen wird – vom terroristischen Islamismus auf der einen Seite, der diesem Modell den Krieg erklärt hat, von altkonservativen bis rechtsextremen Gruppen auf der anderen Seite, die ein zumindest autoritäres Gesellschaftsmodell vor Augen haben. Dazwischen steht die engagierte liberale Zivilgesellschaft; zwischen den Fronten stehen auch Millionen friedlich hier lebende muslimische Einwanderer, von denen einige ins Fadenkreuz der NSU-Desperados gerieten. Und eben die Flüchtlinge, die in Deutschland Schutz suchen, deren Unterkünfte so häufig attackiert werden wie nie zuvor.
Eine ethnisch homogene Gesellschafft hat es in Europa noch nie gegeben
Die Täter und diejenigen, die sie in nicht einmal klammheimlicher Freude unterstützen, laufen immer noch oder wieder dem Trugbild einer ethnisch homogenen, einheitlichen und irgendwie wohlgeordneten Gesellschaft nach. Die hat es in Europa noch nie gegeben. Dort aber, wo versucht wurde, sie einzuführen, ging sie mit schwersten Verbrechen einher. Es ist eine Illusion zu glauben, in einer vernetzten, globalisierten und hochmobilen Welt mit einem extremen Wohlstandsgefälle könne ein Land oder ein Kontinent eine Insel der Seligen bleiben, abgeschottet durch Zäune, Gräben oder Mauern.
Diese Zeiten sind unwiederbringlich vorbei. Es wird anstrengender in Deutschland und in Europa; es wird Reibungen und Konflikte geben, Probleme mit der Integration, auch Konkurrenz und Verteilungskämpfe. Aber in einer aufgeklärten, engagierten Bürgergesellschaft sollten diese Probleme mit friedlichen Mitteln lösbar sein. Das ist ihr Anspruch an sich selbst. Und sie ist da auch oftmals weiter als Politiker und Verwaltungen.
Wer aber glaubt, das Recht in die eigene Hand nehmen zu dürfen, wer aus welchen Motiven auch immer meint, mit Gewalt vorgehen zu müssen, für den sind Polizei und Justiz zuständig – nach den Regeln des Rechtsstaats, so wie im Münchner NSU-Prozess zu besichtigen.