Eine Gegenöffentlichkeit mithilfe der Kunst
Zwei Jahre dauerte die Vorbereitung: Das mehrtägige NSU-Tribunal am Schauspiel Köln überschreitet bewusst die Grenze zwischen Kunst und Aktivismus. Hier erhalten auch Angehörige der Opfer des rechtsextremen Terrors ein Podium.
"Wir spielen kein Theater. Wir spielen keinen Prozess nach, und wir werden auch kein Urteil fällen. Das Urteil obliegt der Zivilgesellschaft, und die muss daraus Konsequenzen ziehen."
Sagt Tim Klodzko bei der Pressekonferenz des NSU-Tribunals. Zwei Jahre lang haben sich rund 100 Aktivisten und Antifa-Gruppen aus ganz Deutschland vorbereitet, um eine Aufarbeitung der NSU-Taten aus anderer Perspektive zu versuchen. Rund 600 Menschen sind zu Workshops, Panels, Ausstellungen, Rekapitulationen rassistischer Gewalt gekommen. Was so provokant als Tribunal bezeichnet wird, ähnelt über weite Strecken eher einem Kongress.
Theater in Nachbarschaft zur Keupstraße
Das Schauspiel Köln, in direkter Nachbarschaft zur 2004 vom NSU-Bombenanschlag erschütterten Keupstraße, stellt nur die Infrastruktur zur Verfügung. Trotzdem werden mindestens fünf Theaterstücke zu sehen sein, haben Maxim Gorki Theater und das HAU mitfinanziert. Kann man mit Theater den NSU-Komplex ausleuchten?
"Ich fühle mich so schuldig, dass ich nicht in der Lage war, auf Uwe Mundlos entsprechend einzuwirken. Ich hatte Angst dass sich beide erschießen würden und ich so meine Familie verlieren würde! Ich hab mir die Haare getönt. Schön oder? War nicht teuer. Kostet im Gefängnis nur 10 Euro!"
Wer hier so scheinheilig schluchzt, ist die Schauspielerin Lucia Schulz mit Dreieckstuch auf dem Kopf. Sie schafft es, die Beate-Zschäpe-Einlassungen originalgetreu wiederzugeben – und dabei pointiert ihre Unangemessenheit zu entlarven. Die Inszenierung "A wie Aufklärung" des Kölner Nö-Theaters bringt die Absurdität der NSU-Aufarbeitung laut, schrill, bösartig und präzise auf den Punkt. Die Performer spielen nach, wie Akten geschreddert und Beweismittel abtransportiert wurden. Mindestens fünf Zeugen starben angeblich einfach so.
Wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung
Der Kölner Filmemacher Daniel Poštrak ist Mitorganisator des Tribunals und davon überzeugt, dass Theater bei der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen eine wichtige Rolle spielen kann:
"Dass die Geschichten ins Zentrum gestellt werden. Das ist auch für die Betroffenen ein wichtiges Moment, dass es da Anerkennung gibt. Dass wir auf einer anderen Ebene diese Geschichten einer Öffentlichkeit zur Verfügung stellen können. Und deshalb denke ich dass dieses Verschränken von Aktivismus, von Kunst total wichtig ist."
Die Grenze zwischen Kunst und Aktivismus überschreitet auch Forensic Architecture, eine Gruppe aus Architekten, Künstlern und Filmemachern. Was 2011 ästhetisch begann, ist längst politisch geworden: sie forschen etwa zu Kriegsverbrechen in Syrien oder Palästina. Die Organisatoren des Tribunals haben sie beauftragt, den Fall Andreas Temme weiter zu untersuchen, das ist jener Verfassungsschützer, der beim letzten Mord auf Halit Yozgat am Tatort war.
Mit Kameras und Computertechnik, Geräuschen und Virtual Reality haben Forensic Architecture die Schüsse und Wege der Zeugen nachgestellt. Am Donnerstag wies Eyal Weizmann, Chef-Ermittler der Gruppe vor atemlosem Publikum erstmals nach, dass Temme den Mord direkt gesehen, gehört oder sogar begangen haben muss:
"Das Ein- und Ausloggen und die Bewegungen der Akteure im Raum zeigen eine spezifische Choreografie. Wir haben wieder und wieder alle Möglichkeiten re-enacted – teilweise in einem realen nachgebauten Raum, teilweise mit einem Computerprogramm, das simuliert, welche Zeit es braucht, zu schießen, zu laden, zu zielen. Und wir konnten zeigen, dass die Sequenz der Aktionen, die nötig gewesen wären, nur zulässt, dass Halit Yozgat und Andreas Temme gemeinsam im Raum gewesen sind."
Podium für die Familien der Opfer
Zum wichtigsten Ziel des Tribunals gehört jedoch, den Opferfamilien Gehör zu verschaffen, die sich jahrzehntelang mit Anschuldigungen gegen sich selbst auseinandersetzen mussten. Etwa dem heute noch tief traumatisiert scheinende Özcan Yildirim, Besitzer des durch die Nagelbombe getroffenen Friseursalons, der hier heftig zitternd einen seiner seltenen öffentlichen Auftritte hat.
"Sie verdächtigten uns die ganze Zeit der Schutzgelderpressung und des Drogenhandels. Sie sagten: wenn ihr nicht redet, dann seid ihr schuldig. Mein Vertrauen in diesen Staat ist restlos zerstört. Vor drei Tagen haben wir erfahren, dass die Akte jetzt geschlossen wird. Das hat uns erneut gezeigt, dass die Wunde in uns nicht geheilt werden kann."
Anklageschrift mit 90 Namen
Das Tribunal versteht sich als vielstimmige politische Intervention. Am Ende sollen Fakten nicht nur gesammelt, sondern auch geschaffen sein: eine Anklageschrift verkündet 90 Namen. Bekannte Nazi-Netzwerke und Geheimdienstler sind darunter, aber auch Politiker, ranghohe Beamte, renommierte Journalisten. Daniel Poštrak:
"Mit der Anklage wollen wir eben auch sichtbar machen, dass rassistischer Terror nicht funktioniert aufgrund von Taten einer Nazi-Zelle. Sondern es braucht ein ganzes Ensemble von gesellschaftlichen Akteuren, die das möglich machen."
Nach fünf Tagen Tribunal bleibt der Eindruck: hier wurde in einer immensen zivilgesellschaftlichen Anstrengung eine Lücke geschlossen zwischen Realität und der Kapazität eines Gerichts. Mit Theater und Inszenierung hat das direkt nichts zu tun. Und zeigt dennoch, wie auch mit Hilfe von Kunst demokratische Gegenöffentlichkeit geschaffen werden kann.