NSU-Tribunal in Köln

"Die rassistischen Strukturen anklagen"

Ein Band mit der Aufschrift "Tribunal NSU-Komplex auflösen" liegt am 17.05.2017 bei einer Pressekonferenz in Köln auf einem Tisch. In einem öffentlichen Tribunal sollen die Täter benannt werden, die im NSU-Prozess nicht auf der Anklagebank sitzen. Das Projekt, dass am 17.05. am Schauspiel Köln beginnt, erstreckt sich über fünf Tage.
Aktivisten wollen in Köln darauf aufmerksam machen, dass es rund um den NSU weiterer Aufklärung bedarf. © picture alliance / Rolf Vennenbernd / dpa
Ayse Gülec im Gespräch mit Dieter Kassel |
Während in München der NSU-Prozess weitergeht, findet in Köln ein mehrtägiges NSU-Tribunal statt: Künstler, Aktivisten und Betroffene des NSU-Terrors wollen im Schauspiel Köln Aspekte der Mordserie beleuchten, die vor dem echten Gericht zu kurz kommen.
Fünf Tage lang halten Künstler, Aktivisten und Betroffene im Schauspiel Köln ein symbolisches Tribunal zu den Verbrechen ab, die dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) angelastet werden. Die Serie mit zehn Morden, drei Bombenanschlägen und zahlreichen Verletzten ist immer noch nicht endgültig aufgeklärt, die einzige NSU-Überlebende Beate Zschäpe steht seit einer gefühlten Ewigkeit in München vor Gericht.
Die mutmaßlichen Mitglieder der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt (l-r)
Die mutmaßlichen Mitglieder der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU): Uwe Mundlos (links), Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt© Bundeskriminalamt/dpa
Bis heute hat die Justiz den Opfern keine Gerechtigkeit widerfahren lassen - so sehen es Betroffene des NSU-Terrors als auch die Veranstalter des Tribunals. Es ist ein Projekt des Aktionsbündnisses "NSU-Komplex auflösen", ein Zusammenschluss bundesweiter Initiativen, die der Ansicht sind, dass bei der juristischen Aufarbeitung der Mordserie wichtige Fragen ausgeklammert werden.
Tribunal-Mitbegründerin Ayse Gülec sagte im Deutschlandfunk Kultur, man wolle in Köln weder Gericht spielen noch werde es Richter geben, die eine Schuld feststellten. Im Mittelpunkt der Veranstaltungen ständen die Betroffenen des NSU-Terrors, die hier ausführlich zu Wort kämen. Man habe das Gefühl gehabt, dass jetzt neben der juristischen Aufarbeitung auch etwas von der Bevölkerung kommen müsse, sagte Gülec. Es müsse eine Bewegung enstehen, die die "rassistischen Strukturen" in Deutschland anklage, betonte sie.
Mit dabei ist das Schauspiel Köln, das Maxim Gorki Theater in Berlin, die Münchner Kammerspiele, die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Akademie der Künste der Welt/Köln und das Berliner HAU Hebbel am Ufer. Als Förderer treten unter anderem die Senatskanzlei des Landes Berlin, das Haus der Kulturen der Welt, die Amadeu Antonio Stiftung, die AWO Mittelrhein und zahlreiche private Unterstützer auf. (ahe)

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Der sogenannte NSU-Prozess in München dauert noch bis Sommer mindestens. Einen genauen Tag kann man nicht sagen, wann er vorbei ist, wann all die Untersuchungsausschüsse und sonstigen Gremien zu Ende getagt haben, ist auch im Detail nicht klar. Wann die Journalisten alles geschrieben haben, was man im Zusammenhang mit dem sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund wissen kann, erst recht nicht.
Aber eines ist zumindest zeitlich sehr eindeutig und übersichtlich, das "Tribunal" nämlich, das heute am Schauspiel Köln beginnt. Das Tribunal "NSU-Komplex auflösen", das fängt heute an und ist dann am Sonntag zu Ende. Das ist allerdings nur der zeitliche Ablauf dieses Tribunals, das organisiert wurde von einer ganzen Reihe von Gruppen, Initiativen und Zusammenschlüssen aus ganz Deutschland. Eine der Organisatorinnen und Initiatorinnen war und ist auch Ayse Gülec, Sozialpädagogin und Kunstvermittlerin aus Kassel. Frau Gülec, schönen guten Morgen!
Ayse Gülec: Schönen guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Was kann denn Ihrer Meinung nach ein solches Tribunal tun, was ein Gerichtsprozess und was die ganzen Untersuchungsausschüsse nicht tun können?

Das Tribunal hat keine Richter

Gülec: Zunächst einmal zu dem Begriff: Wir nennen es zwar "Tribunal", aber wir werden jetzt nicht ein Tribunal, also ein Gericht nachspielen. Wir haben auch keine Richter, die die Schuld aussprechen, sondern das Tribunal ist ein Tribunal, das von einer Bevölkerung, von einem breiten Zusammenhang von Aktivisten, KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Wissensdisziplinen gemacht wird.
Das tun wir, weil wir das Gefühl haben, es muss jetzt auch mal was von der Bevölkerung kommen, eine Bewegung entstehen, die etwas anklagt, nämlich die Verhältnisse, die rassistischen strukturellen Verhältnisse hier in Deutschland.
Dazu haben wir angefangen gestern schon, das Tribunal beginnt nicht heute, sondern hat gestern schon angefangen. Wir haben gestern Gäste gehabt, die selbst Angehörige von Mordopfern sind oder hier die Keupstraße ... Zeitzeugen der Keupstraße waren dabei, Schwerverletzte waren dabei, die gestern berichtet haben, was zum Beispiel die Bombe, die hier in der Keupstraße 2004 explodiert ist mit den 700 Zimmermannsnägeln, die zehn Zentimeter waren.
Die Keupstraße fotografiert am 02.06.2014 in Köln (Nordrhein-Westfalen). Am Pfingstmontag ist es genau zehn Jahre her, dass vor dem Friseursalon in der Kölner Keupstraße eine Bombe explodierte.
Keupstraße in Köln: Hier explodierte 2004 vor einem Friseursalon die Nagel-Bombe© picture alliance / dpa / Oliver Berg
Und es gab internationale Gäste, die gestern auch über rassistische Morde ... es gab verschiedene Erzählungen, verschiedene Erfahrungen von Betroffenen selbst. Und das wird auch fortgesetzt die ganzen Tage, sozusagen durch das (...) Wissen, das Wissen der von Rassismus Betroffenen ist immer das Zentrum des Tribunals. Und diese Erzählungen werden fortgesetzt.
Kassel: Aber auch wenn Sie gerade betont haben, dass Sie da keine Gerichtsverhandlung oder Ähnliches nachspielen wollen. Trotzdem muss man bei dem Begriff "Tribunal" mal ein bisschen bleiben. Strenggenommen müsste da doch eigentlich jeder zu Wort kommen, der etwas mit dem NSU-Komplex zu tun hat. Kommen denn auch Ermittler, Vertreter der Justizbehörden und andere zu Wort?
Gülec: Nein.
Kassel: Warum nicht?
Gülec: Die kommen nicht zu Wort.
Kassel: Aber warum nicht.
Gülec: Weil wir, glaube ich, selber, wir wissen selber sehr viel inzwischen über den NSU, was er ist, was er sein könnte, was sozusagen ... es liegen viele Sachen offen, und dennoch werden diese Sachen, die offenliegen, zum Beispiel nicht gänzlich im NSU-Prozess in München verhandelt.

Es gab eine zweite Bombe nach der ersten

Die Untersuchungsausschüsse sind sehr unterschiedlich, die über den NSU arbeiten. Aber gewisse Sachen werden in dem Prozess beispielsweise ausgeklammert. Ausgeklammert werden beispielsweise immer wieder die Rolle von Ermittlungsbeamten, wie sie mit den Betroffenen ... beispielsweise nach der Bombe gab es eine zweite Bombe, das ist sozusagen ein Zitat der Betroffenen hier aus der Keupstraße, die Bombe nach der Bombe bedeutet, dass sie nach der Bombe in Köln jahrelang, sieben Jahre lang verdächtigt worden sind. Über sie ist schlecht geschrieben worden, ihnen ist nachgestellt worden, sie sind observiert worden. Sie sind beschuldigt worden, an organisierter Kriminalität beteiligt zu sein.
Kassel: Aber wenn Sie sagen, dass eine ganze Seite nicht vorkommt, wollen Sie dann quasi sich rächen, sagen Sie, der Gerichtsprozess zum Beispiel in München war aus Ihrer Sicht einseitig, und deshalb wollen Sie jetzt dieses Tribunal in Köln auch einseitig veranstalten?
Gülec: Ich denke, dass wir als Gesellschaft auch das selbst in die Hand nehmen können, etwas uns ein Bild zu machen. Wir haben ein Bild ja schon, was der NSU ist. Es liegen viele Sachen offen, und die führen wir zusammen.
Die Eltern des ermordeten Halit Yozgat, Ayse und Ismael, sitzen am 06.04.2016 bei der Gedenkfeier zehn Jahre nach der Ermordung von Halit Yozgat in Kassel (Hessen).
Schmerz, der nicht vergeht: Die Eltern des ermordeten Halit Yozgat 2016 bei der Gedenkfeier in Kassel© picture alliance/ dpa / Swen Pförtner
Es gibt verschiedene Wissens .... Menschen, die in verschiedenen Strukturen arbeiten, die recherchieren selbst, die Betroffenen wissen viel, und deswegen wird auch den Betroffenen, die durch den NSU getroffen und gemeint waren – sie sind im Zentrum dieses Tribunals "NSU-Komplex auflösen". Und aus diesem Wissen heraus – wir stellen uns zu diesem Wissen und argumentieren aus diesem Wissen der Betroffenen.
Kassel: Ich verstehe es trotzdem noch nicht so ganz. Wenn Sie sagen, das ist ja auch der Titel des Tribunals, "NSU-Komplex auflösen". Wie können Sie denn ein solches Tribunal dann stattfinden lassen, und es kommt wirklich nur ein Teil – der eigentliche Komplex kommt ja gar nicht vor. Die Täter kommen nicht vor, die Ermittlungsbehörden, die möglicherweise grobe Fehler gemacht haben, aus welchen Gründen auch immer, das wäre ja auch zu klären, die kommen ja alle nicht vor.

"Wir aktivieren die Gesellschaft"

Gülec: Genau, richtig. Wie gesagt, dafür gibt es das Gericht, es gibt die Bundesuntersuchungsausschüsse, es gibt die Ausschüsse in den verschiedenen Ländern, und das ist auch gut so, die sollen auch weiterarbeiten. Aber wir aktivieren sozusagen die Gesellschaft mit dem Tribunal.
Kassel: Sagt Ayse Gülec über das Tribunal, das seit gestern in Köln stattfindet, das Tribunal "NSU-Komplex auflösen". Und dass das zumindest stimmt, bis zum Wochenende geht und dann dort zu Ende geht, allerdings ohne einen Schuldspruch oder Ähnliches, das ist nicht vorgesehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema