NSU-Watch: "Aufklären und einmischen: Der NSU-Komplex und der Münchner Prozess"
Verbrecher Verlag, Berlin 2020
200 Seiten, 18 Euro
"Die Gefahr von rechtem Terror ist ungebremst"
10:40 Minuten
Die Initiative NSU-Watch hat den NSU-Prozess protokolliert und nun das Buch "Aufklären und einmischen" herausgebracht. Die Behörden müssten mehr aus dem Fall lernen, um weitere rechtsextreme Morde zu verhindern, sagt Caro Keller von NSU-Watch.
Christian Rabhansl: 438 Verhandlungstage, das war wirklich ein Mammutprozess: der NSU-Prozess, der im Sommer 2018 zu Ende gegangen ist. Das waren 5000 Seiten Urteilsbegründung und das Urteil Lebenslang für Beate Zschäpe wegen Mithilfe am zehnfachen Mord und wegen besonderer Schwere der Schuld. Also ein Mammutprozess, von dem wir aber viele Details gar nicht genau kennen würden, wenn nicht ein Team von Freiwilligen sich damals zusammengetan und den Prozess protokolliert hätte – Tag für Tag –, und diese Protokolle auch online gestellt hätte.
NSU-Watch nennt sich dieses Projekt. Und NSU-Watch hat mit dem Urteil vor anderthalb Jahren die Arbeit aber nicht eingestellt, sondern hat jetzt auch noch ein Buch herausgebracht über diesen NSU-Komplex. "Aufklären und einmischen" heißt das Buch. Darüber habe ich mit Caro Keller von NSU-Watch gesprochen. Der Prozess ist vorbei, Beate Zschäpe ist verurteilt, wozu noch dieses Buch?
Keller: Ja, so richtig vorbei ist der Prozess in München noch nicht, die Revisionen laufen noch, die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Aber klar, der Prozess im Saal A101, der ist jetzt schon vorbei. Wir waren jeden dieser Tage dort und haben protokolliert und haben während des Prozesses und auch danach überlegt: Wie können wir dieses Wissen, was wir dort angesammelt haben, zusammenfassen und geballt auch interessierten Menschen zur Verfügung stellen? Das ist Teil unserer Arbeit: das Wissen über den NSU-Komplex und rechten Terror möglichst weit zu verbreiten. Und da haben wir uns entschieden, dieses Buch zu schreiben, was anhand der Akteurinnen und Akteure im Prozess den NSU-Komplex beschreibt.
Gleichzeitig scheint der Prozess weit weg und trotzdem sehr nah dran und das Thema rechter Terror auch sehr aktuell, wenn wir jetzt auf die letzten anderthalb Jahre gucken. Der Mord an Walter Lübcke fällt einem da natürlich ein, der antisemitische und rassistische Anschlag von Halle und auch der rassistische Anschlag von Hanau. Die Gefahr von rechtem Terror ist ungebremst. Deswegen glauben wir, dass dieses Buch auch weiterhin wichtig ist.
Rabhansl: Nicht zu vergessen auch der sogenannte NSU 2.0, der weiter Drohungen verschickt hat. Wenn Sie jetzt "wir" sagen, wer ist denn NSU-Watch?
Keller: NSU-Watch ist ein bundesweites antifaschistisches Bündnis. Das heißt, dass sich mit Selbtenttarnung des NSU einige Menschen, Einzelpersonen, Gruppen, aber auch Archive zusammengetan haben, die schon lange zur extremen Rechten gearbeitet haben. Aber auch wir haben nicht den Rassismus hinter der Mordserie erkannt. Das heißt, das Erste, was dann nach November 2011 passiert ist, ist, dass Antifaschistinnen und Antifaschisten bundesweit in ihre eigenen Archive gegangen sind und geguckt haben: Was haben wir denn da über den NSU? Was haben wir denn da über die Akteure, Akteurinnen, die jetzt im Mittelpunkt stehen? Wir haben schon am Anfang dieses Wissen zur Verfügung gestellt und haben uns dann entschieden, gemeinsam die staatliche Aufklärung des NSU-Komplexes kritisch zu begleiten und auch immer wieder unser eigenes Wissen und unsere eigenen Analysen stark zu machen.
NSU-Watch besteht bis heute weiter, wir treffen uns immer wieder, analysieren, was ist los, wie ist der Stand, was sind die aktuellen Entwicklungen, und beobachten eben über den NSU-Prozess hinaus auch NSU-Untersuchungsausschüsse, andere Ausschüsse zu rechtem Terror und andere Rechtsterrorprozesse.
Mehr Solidarität und ein breites Problembewusstsein
Rabhansl: Das ist ja sehr breit angelegt, Ihre Arbeit. Die Enttäuschung von Ihnen und auch von den Angehörigen der Opfer, von den Nebenklagevertretern, die wird in dem Buch auch noch einmal sehr deutlich. Jetzt mit ein bisschen zeitlichem Abstand: Haben Sie den Eindruck, es hat einen Lernprozess gegeben bei Ermittlungsbehörden, vielleicht auch bei den Medien, die anfangs auch immer von den "Dönermorden" gesprochen haben, hat sich da was verändert?
Keller: Es hat sich was verändert, aber eher auf gesellschaftlicher, nicht behördlicher Ebene, das fällt als Erstes in den Blick. Nach den aktuellen Anschlägen, die ich ja schon benannt habe, gab es eine sehr große Solidaritätswelle und eine breite Wahrnehmung dessen, dass rechter Terror ein großes Problem ist. Beispielsweise gibt es jetzt auch rund um den Prozess zum antisemitischen und rassistischen Anschlag in Halle jeden Tag eine Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude, das gab es beim NSU-Prozess nicht. Da hat es auf jeden Fall Lerneffekte gegeben und vor allen Dingen auch den Lerneffekt, dass es sehr wichtig ist, die Stimmen der Angehörigen und Betroffenen in den Vordergrund zu rücken und nicht zu sehr die Stimmen der Täter und Täterinnen. Wenn wir uns allerdings die Behördenseite und die gerichtliche Seite betrachten, hab ich da momentan auch meine Zweifel.
Klar, das ist nicht so einheitlich, aber wenn wir uns den Prozess zum Mord an Walter Lübcke betrachten, dann ist das für uns eigentlich eine Art Fortsetzung des NSU-Prozesses mit all seinen Enttäuschungen. Auch dort wird das Netzwerk nicht beleuchtet, wird der Fall nicht komplett in den Blick genommen, die Ermittlungen erscheinen uns relativ dünn, und der Fall wird wieder runtergekocht auf einen Einzeltäter, Stephan Ernst, der dort der Hauptangeklagte ist. Da frage ich mich schon, wie es aussieht mit den Lerneffekten, weil es wichtig wäre, rechte Netzwerke zu enttarnen und auch zu entwaffnen, um rechten Terror letztlich zu stoppen. Das ist unser Ziel, und das sollte ja eigentlich auch das Ziel der Behörden sein, dass solche Morde und Anschläge nicht mehr vorkommen. Und da sehe ich die Bemühungen und den Lerneffekt leider momentan nicht.
"Da wäre sehr viel mehr möglich gewesen"
Rabhansl: In Strafprozessen geht es natürlich um individuelle strafbare Schuld. Die Bundesanwaltschaft hat auch in dem NSU-Prozess dann eines Tages gesagt, das zitieren Sie auch in dem Buch: "Wir sind hier kein Untersuchungsausschuss". Also ist die Hoffnung einer politischen Aufarbeitung in einem Strafprozess vielleicht auch einfach eine falsche Hoffnung?
Keller: Wir glauben, dass sehr viel mehr möglich gewesen wäre in diesem NSU-Prozess. Das zeigen uns auch andere Rechtsterrorprozesse – und Anteile von Behörden, die die Bedeutung für die Gesellschaft und vor allen Dingen für die Angehörigen und Betroffenen viel stärker betonen: Es geht auch anders. Von solchen Prozessen müsste ja eigentlich auch eine Signalwirkung an mögliche Nachahmer und Nachahmerinnen ausgehen, und zwar möglichst die Signalwirkung, dass man keine rechten Anschläge begehen sollte, aber das Gegenteil ist der Fall. Wir sehen dieses Urteil im NSU-Prozess als Ermutigung an eine Rechtsterror-affine Neonaziszene.
Das liegt nicht unseres Erachtens an der Strafprozessordnung, sondern: So, wie dieser Prozess dort inhaltlich geführt wurde, und so, wie der Fall einfach kleingemacht wurde von einem großen behördlichen, gesellschaftlichen Versagen hin zu einem großen, aber doch händelbaren Kriminalfall, das war einfach sehr unangemessen. Ich finde es schon eine Aufgabe von Gerichten, dass man dort einen realistischen Eindruck davon bekommt, was eigentlich passiert ist, und da muss der Blick geweitet werden, und das ist auch in so einem Gerichtsprozess möglich. Und es wäre ideal gewesen, die Möglichkeiten waren ja da, den NSU-Prozess zusammenzudenken mit den NSU-Untersuchungsausschüssen und dann eben die Aufklärung wirklich komplett voranzutreiben und so weit es möglich ist, die zu komplettieren. Das wäre möglich gewesen, es ist aber nicht gemacht worden.
Rabhansl: Es sind viele, viele Fragen offen geblieben. Das führt aber auch dazu, dass wildeste Spekulationen plötzlich durch die Gegend geistern. Auch dem widmen Sie ein Kapitel in Ihrem Buch. Es gibt Verschwörungstheorien vom sogenannten Zeugensterben, angeblich seien im NSU-Prozess reihenweise Zeugen plötzlich verstorben, bevor sie aussagen konnten. Es gibt angebliche NSU-Leaks, die darauf hindeuten, das Ganze sei angeblich eine Erfindung von Geheimdiensten und Medien im Kampf gegen rechts. Es gibt sogar einen Kriminalroman, "Die schützende Hand" von Wolfgang Schorlau, wo auch eine Verschwörungstheorie aufgebaut wird – dieser Schriftsteller ist dann sogar in einem Untersuchungsausschuss aufgetreten, weil seine Verschwörungstheorien offensichtlich so wirkmächtig sind. Können Sie sich das irgendwie erklären, warum sind Verschwörungstheorien rund um den NSU so virulent?
Ein gesamtgesellschaftlicher Rassismus
Keller: Ja, der ganze Fall ist sehr groß und auf eine Art unerklärlich. Wenn man das herauslässt, was diese Verschwörungsmythen rauslassen, nämlich den gesamtgesellschaftlichen Rassismus, den institutionellen Rassismus in den Behörden und eben auch die Gefährlichkeit der Neonaziszene, dann steht man plötzlich vor einem Fall, den man sich nicht erklären kann, und dann denkt man sich eben eigene Erklärungen aus. Natürlich ist Spekulieren und Fragen total wichtig, nur so kommt man ja auch auf Analysen, aber das Wichtige ist, dass man auch die Antwort auf diese Fragen hören möchte und sie sich nicht einfach selber gibt und damit den Fall sozusagen abschließt. Das Problem ist wirklich – ich hab’s im Grunde schon angedeutet – an diesen Verschwörungsmythen, der Blick wandert weg von dem, was wichtig ist: weg von Rassismus, weg von der Gefährlichkeit der Neonaziszene und vor allen Dingen auch weg von den eigenen Handlungsmöglichkeiten.
In diesen Verschwörungsmythen spielen ja praktisch eine Art übermächtige Behörde oder übermächtige Menschen eine Rolle, was am Ende heißt, man selber hätte gar keine Chance gehabt, den NSU zu stoppen, den NSU-Komplex aufzuklären, bevor er sich selbst 2011 enttarnt hat, und das sehen wir eben nicht so. Man hat Handlungsmöglichkeiten, rechten Terror zurückzudrängen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, da auch den Druck auf die Behörden zu erhöhen. Und es wäre auch möglich gewesen, vor 2011 den Rassismus hinter den Taten, hinter der Mordserie zu erkennen. Das ist nicht passiert.
Und deswegen hilft man sich jetzt mit diesen Verschwörungsmythen. Wir gehen da den anderen Weg und haben gesagt: Okay, wir als Antifaschistinnen und Antifaschisten, wir müssen da unsere Denkweise an unser Handeln und unsere Analysen verändern, weil es hat bis 2011 nicht dazu geführt, dass wir das verstanden haben, was da passiert ist, und das soll uns nicht noch einmal passieren. Deswegen werden wir versuchen, unser Denken und unser Handeln so auszurichten, dass wir rechten Terror erkennen und ihm auch was entgegensetzen können und die Gesellschaft dazu ermutigen, eben rechtem Terror etwas entgegenzusetzen. Im Denken in diesen Verschwörungsmythen wird das nicht möglich sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.