Immer wieder Würgen beim Grenzübertritt
Mit ihrem Debüt-Roman "Außer sich" schaffte es die Dramaturgin Sasha Marianna Salzmann auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Nun hat Sebastian Nübling das Werk an Salzmanns Stammhaus, dem Berliner Maxim Gorki Theater, auf die Bühne gebracht.
Der Geschmack von verdorbenem Hähnchenfleisch steckt Ali jedesmal in der Kehle, wenn sie eine Grenze passiert. Das Reisen erinnert ihren Körper daran, wie sie damals, als Kind, mit Eltern und Zwillingsbruder als Kontingentflüchtling aus Russland in Deutschland aus dem Zug stieg: Der Boden schaukelt, das Hähnchenfett "zittert ihr im Rachen, klettert aus dem Magen wieder zurück in ihren Mund" – bis Ali es ihrem Onkel Leonid, der die Neuankömmlinge am Bahnhof in Empfang nimmt, geradewegs auf die Schuhe kotzt.
Auf der Bühne erzählt Alis Mutter Valja diese Geschichte. In altmodischem Russen-Schick steht sie mit ihrem Mann Kostja an der Rampe, die ununterscheidbaren, androgynen Zwillinge mit Kinderperücken und Ringelpulli an sich gepresst. Immer wieder bahnt sich das verdorbene Hähnchen den Weg in Alis Rachen, im Roman wie auf der Bühne, auch bei Alis Reise nach Istanbul, wo sie ihren verschollenen Zwillingsbruder Anton sucht, der nicht gefunden werden will.
Ohne Romankenntnis schwer verständlich
Alis Würgen beim Grenzübertritt steht im Zusammenhang mit Sasha Marianna Salzmanns Schreiben gegen alle Grenzziehungen, gegen festgeschriebene Identitäten. Ihr Erzählen ist anarchisch und sinnlich überbordend, auch exzentrisch und überdreht. Sie wechselt zwischen Dialogen und erlebter Rede, dazwischen Rückblenden aus den Blickwinkeln unterschiedlicher Figuren.
Naheliegend, dass Regisseur Sebastian Nübling daraus eine freie Szenencollage entwirft. Auf 50 Seiten und Schlüsselereignisse hat die Dramaturgie den 350-seitigen Roman destilliert. Sesede Terzyan und Kenda Hmeidan spielen die Zwillinge und gleichen sich in ihrer Statur so sehr, dass man sie für ein und dieselbe Person halten könnte. Sind Anton und Ali eins? Der Roman erzählt schließlich auch von Geschlechtsumwandlung: Ali beginnt in Istanbul Männerklamotten zu tragen, sich Hormone zu spritzen, damit ihr Barthaare wachsen. So wie Katho, den sie bei ihren Streifzügen durch die Bars kennenlernt.
Margarita Breitkreiz spielt diesen Katho überspannt bis in alle Glieder – doch es ist selten, dass Nübling, eigentlich ein sehr physisch arbeitender Regisseur, das Außer-sich-Sein wirklich in die Körper überträgt. Breitkreiz spricht zudem auch Alis Texte – wer den Roman nicht kennt, ist bald ratlos und verwirrt
Zäh zerfaserter Abend
Magda Willis hoch symbolische Bühne nimmt die Verwirrung auf. Bühnenportal steht hier vor Bühnenportal, als befände sich Welt in Welt in Welt. Den Raum teilt eine Spiegelwand, hinter der sich ein zweiter Raum verbirgt, jede Sicht ist vielfach gebrochen und unendlich vervielfältigt. Manchmal tauchen Figuren hinter den Spiegelungen der Spieler auf: Männer in glitzernden Frauenkleidern, mit weißen Masken, wie Phantome, Geister. Davor steht die Musikerin Polly Lapkovskaja und spielt russische Melodien auf ihrem Bass.
Eine Zeitlang sieht man gern dabei zu, wie sich mit Alis Eltern und Großeltern drei Generationen sowjetischer Geschichte aufblättern, wie sich die beiden Alis in Istanbuls Nachtleben verlieren, wie Brüste abgebunden und Hormonspritzen gesetzt werden. Doch die grenzenlosen Blickwinkel und Einschübe, die den Roman ausmachen, werden der Inszenierung spätestens in der zweiten Stunde zum Verhängnis, wenn sich nur noch Szenensplitter beliebig an Szenensplitter reiht. Die Selbstfindung der Figuren wirkt zunehmend pubertär, ihre Wut behauptet. Das ziellose Analysieren ihrer Identität, ihres Geschlechts, über das am Ende nur noch schlaff um den Tisch herumsitzend schwadroniert wird, lässt den Abend letztlich zäh zerfasern.