Stephan Geier: Schwellenmacht - Bonns heimliche Atomdiplomatie von Adenauer bis Schmidt
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2013
432 Seiten, 44,90 Euro
Finger am Abzug
In seinem Buch "Schwellenmacht" schreibt Stephan Geier über Bonns Atomdiplomatie von Adenauer bis Schmidt. Die Deutschen spielten schon an der historischen Wiege des nuklearen Zeitalters eine Schlüsselrolle, so der Historiker.
Deutschland zählt zu den atomaren Habenichtsen. Ihm fehlen damit die Attribute einer Weltmacht. Der deutschen Nukleardiplomatie nachzuspüren - birgt das überhaupt ausreichend Stoff für eine ausholende Untersuchung?
Daran lässt Stephan Geier keinen Zweifel. Überall wo um die furchteinflößende Technologie gefeilscht und gestritten wurde, sieht er die Deutschen an vorderster Stelle - als Unterhändler, als Moderatoren, als Lobbyisten des eigenen Vorteils. Sogar an der historischen Wiege des nuklearen Zeitalters spielten sie eine Schlüsselrolle, schreibt Geier:
"Entwaffnet und durch die Verbrechen der Nazis im Stand der Sünde, waren die Deutschen den Besatzern zunächst ausgeliefert und auch nach der Gründung der Bundesrepublik auf die militärische Stärke der neuen Verbündeten angewiesen. Die nuklearen Wunderwaffen aus den Arsenalen der USA spielten dabei von Anfang an eine zentrale Rolle. Die Angst vor einer deutschen Atombombe in den Händen Hitlers hatte die Entwicklung dieser Waffen erst verursacht."
Es blieb ein Schlupfloch
Die Vorstellung einer deutschen Atombombe, egal in wessen Händen, weckte auch nach dem Ende des Weltkrieges massive Vorbehalte. Deshalb blieb der Bundesrepublik die militärische Handlungsfreiheit auch dann noch verwehrt, als sie in die NATO aufgenommen wurde und damit ein Stück politischer Souveränität erlangte. Aber eben nur ein Stück - bestimmten atomaren Ambitionen musste sie vertraglich abschwören, darauf bestanden die neuen Verbündeten. Doch es blieb ein Schlupfloch:
"Mit ... dem raschen Einstieg in die Kerntechnologie wollte auch das Wirtschaftswunderland nicht im Abseits stehen. Adenauer musste lediglich auf die Produktion von Atomwaffen im eigenen Land verzichten. Ein Verzicht, der entgegen späteren Behauptungen keineswegs freiwillig geleistet wurde."
Die Deutschen durften keine Kernwaffen selbst herstellen. Auf den Erwerb jedoch hatten sie noch nicht verzichtet.
Über diesen Hebel suchte die Bonner Politik in den fünfziger und sechziger Jahren den Anspruch auf nukleare Teilhabe durchzusetzen. Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit - wenn schon nicht mit Washington, so doch mit London und Paris - lautete die Forderung.
Mit den Partnern im Bündnis
Für Adenauer und Strauß ging es aber nicht nur um Atomwaffen als Statussymbol. Sie zeigten sich überzeugt davon, dass im Ernstfall der frühzeitige Einsatz von Atomwaffen Gefahren für die Bundesrepublik abwenden könnte. Dafür brauchte man den Finger am Abzug. Notfalls geteilt mit den Partnern im Bündnis.
Bis hierhin ist die Geschichte der westdeutschen Atomdiplomatie schon hinlänglich aufgearbeitet. Weniger bekannt sind die Aktivitäten auf einem benachbarten Problemfeld: Wie verhindert man die Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen in immer mehr Staaten? Das Thema beherrschte die internationalen Debatten der sechziger und siebziger Jahre, aber mit einem Frontverlauf quer zur gewohnten Lagerbildung von West und Ost.
Der Grund dafür liegt auf der Hand.
Bis dahin besaßen nur wenige Staaten Kernwaffen - und wollten in ihrem exklusiven Club unter sich bleiben. Das Gros der atomwaffenfreien Staaten hingegen drängte auf das Recht, die Kernenergie für zivile Zwecke möglichst unumschränkt nutzen zu können. Der sogenannte Nichtverbreitungsvertrag vom Juli 1968 schreibt diese polare Interessenstruktur bis heute fest.
Der Vertrag selbst - zunächst die Formulierung, später die Interpretation - schürte die langwierigste Kontroverse in der Geschichte der Beziehungen zwischen Bonn und Washington. Fünf Bundeskanzler von Adenauer bis Schmidt stritten mit fünf amerikanischen Präsidenten von Kennedy bis Carter. Aus heutiger Sicht befremdlich wirkt der Ton der Auseinandersetzung. Adenauer nannte den Vertrag:
"einen Morgenthau-Plan im Quadrat",
und Strauß:
"ein neues Versailles von kosmischen Ausmaßen".
In harten bilateralen Verhandlungen ertrotzte sich die Bundesregierung wesentliche Zugeständnisse von mit der amerikanischen Schutzmacht. So heißt es in der Schlussfassung des Nichtverbreitungsvertrages in Artikel IV:
"Dieser Vertrag ist nicht so auszulegen, als werde dadurch das unveräußerliche Recht aller Vertragsparteien beeinträchtigt, ... die Erforschung, Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zu entwickeln."
Wie von Bonn gewünscht, blieb die Grenze zwischen friedlicher und unfriedlicher Nutzung undefiniert. Auslegungsstreitigkeiten waren damit Tür und Tor geöffnet. Auf diese Weise stieg die Bundesrepublik zwar nicht zur Atommacht auf, wohl aber binnen weniger Jahre zum weltweit führenden Exporteur kerntechnischer Anlagen.
Das Fazit der Studie fällt ambivalent aus. Ohne Frage hat der Nichtverbreitungsvertrag einen Großteil seiner Erwartungen erfüllt. Fast die gesamte Welt ist beigetreten. Nur ganz wenige Staaten sind durch die Maschen geschlüpft. Aber selbst diese wenigen könnten zu viele sein, wenn sie im Brennpunkt explosiver Konflikte liegen.
Zweifelhafte Rolle
Stephan Geier resümiert:
"Iran, Israel, Indien und andere: Die schleichende Verbreitung atomarer Waffen hält die Welt in Atem. Doch die Spielregeln, die diese gefährliche Entwicklung eigentlich verhindern sollten, wurden nicht von Staaten wie dem Iran oder Nordkorea gemacht. Es war die Bundesrepublik, die dabei seit den 1950er-Jahren eine wichtige, durchaus zweifelhafte Rolle spielte."
Stephan Geier beeindruckt durch die Fülle des Materials, das er verarbeitet, und durch die Akribie seiner Recherche. Bis in die feinsten Verzweigungen ist er dem Gang des Geschehens nachgegangen. Doch das Buch beruht erkennbar auf einer Promotionsschrift im Fach Geschichte an der Universität Erlangen. Es ist eine Fleißarbeit, wie es sich gehört für eine Dissertation. Der Leser muss sich auf eine nicht ganz einfache Lektüre über eine alles andere als spröde Materie einstellen.