Null Kalorien und süßer als Zucker
Ein neuer natürlicher Süßstoff begeistert angeblich unsere Nahrungshersteller. Ein halbes Jahr nach der Zulassung von Steviaextrakten durch die EU liegen die ersten Süßwaren in den Supermarktregalen.
Soll niemand sagen, die Presse freue sich nur über schlechte Nachrichten. Derzeit macht eine positive Meldung die Runde: "Null Kalorien, süßer als Zucker: Stevia begeistert Nahrungshersteller." Doch wie es mit den Medien so geht: Das, was wie die Erfolgsgeschichte eines natürlichen Süßstoffs klingt, ist in Wirklichkeit ein Flop: Stevia hat nämlich einen unangenehmen Nachgeschmack, erst lakritzartig und dann bitter, wobei die Bittere lang anhält. Logisch, dass die Lebensmittelverarbeiter meistenteils einen großen Bogen um das sogenannte "Honigkraut" machen. Geschmacklich passt es allenfalls zu Lakritz.
Dort wo Stevia als Zutat verwendet werden kann, nimmt die Industrie nicht das frische Kraut, sondern einen Extrakt. Der besteht aus einer Mischung unterschiedlicher, mehr oder weniger süßer Komponenten. Zur Gewinnung eines sensorisch akzeptableren Produkts wird die Pflanzenmasse nach der Ernte erst mit Enzymen zerlegt, dann extrahiert, schließlich gereinigt und getrocknet. Derzeit wird die Zusammensetzung von Stevia intensiv züchterisch bearbeitet, um den Geschmack zu verbessern. Große Hoffnungen ruhen dabei auf der Gentechnik.
Die Misserfolge im Supermarkt waren Anlass, es erst mal im Hühnerstall zu probieren: Steviakraut im Hühnerfutter bewirkt, dass die Viecher hübsch Bauchfett ansetzen. Vermutlich eine Nebenwirkung auf die Schilddrüse. Doch fette Hennen will heute keiner mehr, also sucht man nach neuen Märkten. Prompt werden dem Kraut Wirkungen auf "Bluthochdruck, Arthrose, Rheuma und eventuell auch Krebs" nachgesagt. Die Liste der falschen Hoffnungen wächst von Jahr zu Jahr, derzeit ist gerade Alzheimer im Angebot. Es ist schon komisch: ein natürlicher Süßstoff, der nach Angaben der Szene völlig nebenwirkungsfrei ist, soll gleichzeitig bei schweren Krankheiten Heilung bringen – wirksamer als ein Dutzend Tabletten. Wer‘s glaubt.
Angeblich süßt die indigene Bevölkerung Südamerikas schon seit Jahrhunderten mit Stevia ihren Matetee. Doch über die historische Nutzung des Krautes ist herzlich wenig bekannt. Kein Wunder: Eine Pflanze, die süß ist, aber nicht nährt, ist nun mal wertlos, ihr Süßgeschmack nur ein Kuriosum. Dass die Indios üblicherweise ihren Tee damit verfeinert hätten, ist offensichtlich ein Werbemärchen. Die Gauchos in Mato grosso und die Guarani in Paraguay – dort gibt es natürliche Vorkommen des Krautes - dürften davon genauso begeistert gewesen sein, wie von Sellerieschnitzel oder alkoholfreiem Rum.
Sollte Stevia in der Volksmedizin eine Rolle gespielt haben, dann allenfalls zur Bekämpfung von Krankheiten, die für Naturgesellschaften typisch sind. Und das sind vor allem Parasiten. Stevia wirkt offenbar gegen diverse Bakterien, darunter den Erreger der Tuberkulose. Darüber hinaus ist es gegen Fadenwürmer so effektiv wie bewährte Wurmmittel. Das klingt schon mal vielversprechend. Unter den Fadenwürmern, auch Nematoden genannt, gibt es welche, die Mensch und Tier befallen, andere sind wichtige Ackerschädlinge. Noch interessanter: Stevia tötet wohl auch Moskitolarven, aus denen jene Stechmücken heranwachsen, die Malaria übertragen.
Falls die Laborexperimente stimmen, wäre Stevia so wirksam wie ein Pestizid. Wir dürfen uns also durchaus Hoffnungen machen, dass dieser hoch gelobte Süßstoff eines Tages als Pflanzenschutzmittel seine zweite Jugend erlebt – diesmal speziell gegen Mückenlarven und Bodenparasiten.
Bis dahin lassen wir uns gerne weiter in Internet und Medien aus tausendundeinem Expertenmietmaul von den Gesundheitsgeheimnissen der Indios vorschwärmen und von den grandiosen Verkaufserfolgen begeistern. Bei näherer Betrachtung bleibt eh nur ein bitterer Nachgeschmack. Mahlzeit!
Literatur:
Kinghorn D: Stevia: The Genus Stevia. Taylor & Francis, London 2002
Madan S et al: Stevia rebaudiana (Bert.) Bertoni – a review. Indian Journal of Natural Products and Resources 2010; 1: 267-286
Xu D et al: The neuroprotective effects of isosteviol against focal cerebral ischemia injury induced by middle cerebral artery occlusion in rats. Planta Medica 2008; 74: 816-821
Ahmad N et al: In vitro larvicidal potential against Anopheles stephensi and antioxidative enzyme activities of Ginkgo biloba, Stevia rebaudiana and Parthenium hysterophorous. Asian Pacific Journal of Tropical Medicine 2011; 169-175
Achucarro C et al: Actividad Antihelmíntica de la Stevia rebaudiana Bertoni (SRB) ka’á he’ê: Primera etapa del proyecto de investigación con lombricus terrestris. Annales de la Facultad de Ciencias Médicas 2009; 42: 19-26
Kataev V et al: Synthesis and antituberculosis activity of derivatives of Stevia rebaudiana glycoside steviolbioside and diterpenoid isosteviol containing hydrazone, hydrazide, and pyridinoyl moieties. Russian Journal of Bioorganic Chemistry 2011; 37: 483-491
Atteh JO et al: Evaluation of supplementary stevia (Stevia rebaudiana, bertoni) leaves and stevioside in broiler diets: effects on feed intake, nutrient metabolism, blood parameters and growth performance. Journal of Animal Physiology and Animal Nutrition 2008; 92: 640-649
Puri M et al: Optimisation of novel method for the extraction of steviosides from Stevia rebaudiana leaves. Food Chemistry 2012; 132: 1113–1120
Kienle U: Stevia rebaudiana. Journal Culinaire 2007; H.5: 59-69
Ulbricht C et al: An evidence-based systematic review of stevia by the Natural Standard Research Collaboration. Cardiovascular & Hematological Agents in Medicinal Chemistry 2010; 8:113-127
Dort wo Stevia als Zutat verwendet werden kann, nimmt die Industrie nicht das frische Kraut, sondern einen Extrakt. Der besteht aus einer Mischung unterschiedlicher, mehr oder weniger süßer Komponenten. Zur Gewinnung eines sensorisch akzeptableren Produkts wird die Pflanzenmasse nach der Ernte erst mit Enzymen zerlegt, dann extrahiert, schließlich gereinigt und getrocknet. Derzeit wird die Zusammensetzung von Stevia intensiv züchterisch bearbeitet, um den Geschmack zu verbessern. Große Hoffnungen ruhen dabei auf der Gentechnik.
Die Misserfolge im Supermarkt waren Anlass, es erst mal im Hühnerstall zu probieren: Steviakraut im Hühnerfutter bewirkt, dass die Viecher hübsch Bauchfett ansetzen. Vermutlich eine Nebenwirkung auf die Schilddrüse. Doch fette Hennen will heute keiner mehr, also sucht man nach neuen Märkten. Prompt werden dem Kraut Wirkungen auf "Bluthochdruck, Arthrose, Rheuma und eventuell auch Krebs" nachgesagt. Die Liste der falschen Hoffnungen wächst von Jahr zu Jahr, derzeit ist gerade Alzheimer im Angebot. Es ist schon komisch: ein natürlicher Süßstoff, der nach Angaben der Szene völlig nebenwirkungsfrei ist, soll gleichzeitig bei schweren Krankheiten Heilung bringen – wirksamer als ein Dutzend Tabletten. Wer‘s glaubt.
Angeblich süßt die indigene Bevölkerung Südamerikas schon seit Jahrhunderten mit Stevia ihren Matetee. Doch über die historische Nutzung des Krautes ist herzlich wenig bekannt. Kein Wunder: Eine Pflanze, die süß ist, aber nicht nährt, ist nun mal wertlos, ihr Süßgeschmack nur ein Kuriosum. Dass die Indios üblicherweise ihren Tee damit verfeinert hätten, ist offensichtlich ein Werbemärchen. Die Gauchos in Mato grosso und die Guarani in Paraguay – dort gibt es natürliche Vorkommen des Krautes - dürften davon genauso begeistert gewesen sein, wie von Sellerieschnitzel oder alkoholfreiem Rum.
Sollte Stevia in der Volksmedizin eine Rolle gespielt haben, dann allenfalls zur Bekämpfung von Krankheiten, die für Naturgesellschaften typisch sind. Und das sind vor allem Parasiten. Stevia wirkt offenbar gegen diverse Bakterien, darunter den Erreger der Tuberkulose. Darüber hinaus ist es gegen Fadenwürmer so effektiv wie bewährte Wurmmittel. Das klingt schon mal vielversprechend. Unter den Fadenwürmern, auch Nematoden genannt, gibt es welche, die Mensch und Tier befallen, andere sind wichtige Ackerschädlinge. Noch interessanter: Stevia tötet wohl auch Moskitolarven, aus denen jene Stechmücken heranwachsen, die Malaria übertragen.
Falls die Laborexperimente stimmen, wäre Stevia so wirksam wie ein Pestizid. Wir dürfen uns also durchaus Hoffnungen machen, dass dieser hoch gelobte Süßstoff eines Tages als Pflanzenschutzmittel seine zweite Jugend erlebt – diesmal speziell gegen Mückenlarven und Bodenparasiten.
Bis dahin lassen wir uns gerne weiter in Internet und Medien aus tausendundeinem Expertenmietmaul von den Gesundheitsgeheimnissen der Indios vorschwärmen und von den grandiosen Verkaufserfolgen begeistern. Bei näherer Betrachtung bleibt eh nur ein bitterer Nachgeschmack. Mahlzeit!
Literatur:
Kinghorn D: Stevia: The Genus Stevia. Taylor & Francis, London 2002
Madan S et al: Stevia rebaudiana (Bert.) Bertoni – a review. Indian Journal of Natural Products and Resources 2010; 1: 267-286
Xu D et al: The neuroprotective effects of isosteviol against focal cerebral ischemia injury induced by middle cerebral artery occlusion in rats. Planta Medica 2008; 74: 816-821
Ahmad N et al: In vitro larvicidal potential against Anopheles stephensi and antioxidative enzyme activities of Ginkgo biloba, Stevia rebaudiana and Parthenium hysterophorous. Asian Pacific Journal of Tropical Medicine 2011; 169-175
Achucarro C et al: Actividad Antihelmíntica de la Stevia rebaudiana Bertoni (SRB) ka’á he’ê: Primera etapa del proyecto de investigación con lombricus terrestris. Annales de la Facultad de Ciencias Médicas 2009; 42: 19-26
Kataev V et al: Synthesis and antituberculosis activity of derivatives of Stevia rebaudiana glycoside steviolbioside and diterpenoid isosteviol containing hydrazone, hydrazide, and pyridinoyl moieties. Russian Journal of Bioorganic Chemistry 2011; 37: 483-491
Atteh JO et al: Evaluation of supplementary stevia (Stevia rebaudiana, bertoni) leaves and stevioside in broiler diets: effects on feed intake, nutrient metabolism, blood parameters and growth performance. Journal of Animal Physiology and Animal Nutrition 2008; 92: 640-649
Puri M et al: Optimisation of novel method for the extraction of steviosides from Stevia rebaudiana leaves. Food Chemistry 2012; 132: 1113–1120
Kienle U: Stevia rebaudiana. Journal Culinaire 2007; H.5: 59-69
Ulbricht C et al: An evidence-based systematic review of stevia by the Natural Standard Research Collaboration. Cardiovascular & Hematological Agents in Medicinal Chemistry 2010; 8:113-127