Milosz Matuschek ist stellvertretender Chefredakteur des "Schweizer Monats", NZZ-Kolumnist und Buchautor. Er hat über fünf Jahre deutsches Recht an der Sorbonne in Paris unterrichtet und lebt nun in Zürich und Berlin. Zuletzt veröffentlichte er "Kryptopia" und "Generation Chillstand".
Moralische Zeitenwende
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Negative Zinsen waren für Ökonomen lange unvorstellbar. Inzwischen gehören sie zur Normalität. Die anhaltende Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank hat eine noch nie dagewesene Umwertung unserer Werte durch die Geldpolitik bewirkt.
"Die Welt ist aus den Fugen", diesen Satz Shakespeares hört man derzeit häufiger: Vernünftig soll sein, wer Geld ausgibt, nicht, wer es für bessere Zeiten zurücklegt. Verschwendung und Konsumismus als Tugend der Stunde ersetzen die Weisheit der früher so oft beschworenen "schwäbischen Hausfrau". Ja, die Welt ist aus den Fugen und zwar aufgrund der Geldpolitik der Zentralbanken. Sie betreiben eine monetäre und kulturelle Umwertung der Werte von oben.
Der Zins ist nicht irgendeine Kennzahl, sondern mit die wichtigste Stellschraube in einer Marktwirtschaft. Der Zins ist der Preis des Geldes. Von ihm hängen alle anderen Preise ab. Über den Zins lässt sich zudem die innere Uhr einer Gesellschaft verstellen, um nicht zu sagen: manipulieren. Denn der Zins ist der Preis für Zeit, und damit für menschliche Präferenzen. Er entscheidet mit darüber, ob die Gegenwart mehr Gewicht bekommt - so bei niedrigem Zins - oder eben die Zukunft - so bei höheren Zinsen.
"Nudging" der Bürger zu Fehlinvestitionen
Wer auf die sofortige Wunscherfüllung in der Gegenwart durch Konsum verzichtet, wird über den Zins dafür nun nicht mehr entlohnt. Da die Zentralbanken über das Geldmonopol verfügen, können sie den Bürger so zu Überkonsum und zu Fehlinvestitionen anstupsen – oder neudeutsch "nudgen" – und zwar auf Kosten von notwendigen Investitionen in die Zukunft. Es ist in etwa so wie wenn im Casino der Croupier den Spieler auffordert, nun bitte alle Chips gleichzeitig zu setzen, sonst werden sie langsam aber sicher verfallen.
Dies wird bis auf weiteres so bleiben. Ein Ende der Nullzinspolitik ist nicht in Sicht. Die neue EZB-Chefin Christine Lagarde stimmte den Bürger bereits darauf ein, dass in Zukunft die Sicherung des Arbeitsplatzes höhere Priorität habe, als die Sicherung des Vermögens.
Der Bürger soll sich, anders ausgedrückt, den Vermögensaufbau vorstellen, wie ein Fass mit Loch: unten fließt es zwar raus, aber immerhin komme oben wieder etwas hinzu, wenn auch nur durch eigene Arbeit. Was Lagarde nicht sagte, wohl aber meinte, ist folgendes: der Bürger hat nun über den Negativzins quasi seinen eigenen Arbeitsplatz zu subventionieren. Er wird zum Teilhaber ohne Stimmrecht, zum Investor wider Willen. Ohne die Rechte des Anteilseigners, aber mit den Pflichten des Angestellten.
Unternehmen refinanzieren sich durch Niedrigzinsen
Denn durch Niedrigzinsen können sich größere Unternehmen über die Zentralbanken günstig refinanzieren – auch wenn sie, wie im Fall von "Zombieunternehmen", im Grunde nicht mehr ohne billiges Zentralbankgeld überlebensfähig sind. Auch das ist eine Art Zeitverschiebung: Der Bürger finanziert in der Gegenwart die überflüssigen, da nicht mehr wettbewerbsfähigen Strukturen von gestern und zwar auf Kosten der Zukunft. "Wir sind hier und wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut" – dieser Satz der Fridays for Future-Demonstranten passt hier wie angegossen.
Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof hält diesem Zustand ein Grundrecht auf Zinsen entgegen. Das ist so richtig wie rührig, waren es doch die Verfassungsgerichte selbst, welche die Geldpolitik der Zentralbanken stets durchgewinkt haben. Der Staat jedenfalls sollte den Otto Normalsparer nicht dazu zwingen, in einen nunmehr heißgelaufenen Aktien- oder Immobilienmarkt zu investieren, nur um eine mögliche nächste Finanzkrise zu verhindern. Das wäre nichts anderes als ein "Bail-Out". Allerdings diesmal vor dem Crash.