Nun also Knetmasse-Männchen

Von Claudia Fried |
1995 verließen die letzten Radiomacher das riesige Gelände, auf dem bis zur Wende der DDR-Rundfunk arbeitete. Doch langsam erwacht der Komplex zu neuem Leben: Filmemacher, Tontechniker und andere Kreative nutzen die leerstehenden Räume.
Ab und zu wurde noch ein Studio genutzt, der Ort wurde zur Kulisse für Filmemacher und schließlich 2007 zum Objekt für einen Investor. Der konnte schon so manchen Künstler oder Produzenten zeitweilig oder für immer anlocken, doch der Großteil der 50.000 Quadratmeter Geschossflächen steht noch leer.

Zwischen Tankstelle und Schrebergärten, zwischen Straßenkrach und Spreegeblubber gelegen und alles überragend – das Hauptgebäude, Block C. Roter Backstein, neun Etagen zieht er sich hoch. Seit 1951. Bis zum Ende der DDR das Gegenstück zum RIAS. Hier entstand DDR-Propaganda und Hörfunkkunst. Ort einer hervorragenden Akustik.

Gläserne Schwingtüren führen ins Foyer. Der Steinfußboden glänzt, holzvertäfelte Säulen tragen den weitläufigen Raum. Optisch hat sich wenig verändert, sagt Andreas Ulrich. Dann bemerkt er großformatige Fotografien an einer Wand. Sie zeigen berühmte Künstler, die hier in den letzten Jahren gearbeitet haben.

"Hier gibt’s 'ne gewisse bärtige Kontinuität. Unter anderem der bärtige Harry Rowohlt, der hier wahrscheinlich Texte eingelesen hat. Und genau an dieser Stelle stand früher der Messingkopf eines anderen Bärtigen. Hier war der Karl-Marx-Kopf, der hier auf so 'ner Konsole stand, und unten stand, glaub ich, Karl Marx und Geburts- und Sterbedatum. Und der ist dann irgendwann nach 1990 verschwunden. Und jetzt ist Harry Rowohlt hier."

Der Schauspieler hat hier zahlreiche Hörspiele eingesprochen, gleich nebenan im Großen Sendesaal, Block B. Neben Rowohlts Konterfei ist Sting zu sehen. Der Popmusiker ist einer von vielen Stars, die im berühmten Sendesaal Platten produziert haben. Barenboim spielte Wagners "Tannhäuser" ein, die Bartoli nahm eine Platte auf, Nena war hier und Maffay will kommen – und den größten frei schwebenden Musiksaal der Welt nutzen.

Andreas Ulrich wendet sich von den Fotos ab und steuert den Fahrstuhl an. Zielstrebig, das Gebäude ist ihm vertraut, dem Moderator des DDR-Jugendsenders DT 64. Ein Programm von sechs, die von der Nalepastraße DDR-weit ausgestrahlt wurden, eines wurde weltweit gesendet.

Eine ganze Rundfunkstadt war das hier, erinnert sich Ulrich. Mit mehr als 4000 Menschen. Und mit eigener Sparkassenfiliale, Läden, Cafés. Damals. Heute: Totenstille im Foyer. Nur eine Empfangsdame hält Stellung, aber auch das tut sie schweigend.

"Wir können ja erst mal hochfahren in eine der oberen Etagen."

"Also der Fahrstuhl sieht so aus wie ich ihn auch noch in Erinnerung habe. Diese Sprelakat-Verkleidung, dann dieses gusseiserne Telefon in der Ecke. Da steht ja jetzt auch noch drüber 'Emergency Telephone', also das ist noch in Betrieb. Aber auf der Wählscheibe, das ist natürlich noch original DDR - 110 Volkspolizei, 112 Feuerwehr, 115 Rotes Kreuz. So stand das auch in der DDR auf jedem Privattelefon zu Hause."

In der obersten Etage saß die Musikredaktion von DT 64. Gegründet zum Deutschlandtreffen der Jugend 1964, daher das Kürzel: DT 64. Wo sich früher Moderatoren und Redaktionen mit Musik für ihre Sendungen bestückten, riecht es heute ein bisschen muffig. Auf dem Flur stehen ein paar alte Möbel herum. Das Linoleum am Fußboden ist mehrfach geflickt.

"Und hier sind Aufkleber an der Tür der Musikredaktion, die sind eindeutig noch aus DDR-Zeiten. Hier zum Beispiel, dieser große Löwenkopf mit der Unterschrift Babylon, das war, wenn ich mich recht entsinne, 'ne Band aus der DDR. Pension Volkmann, ist auch 'ne DDR Band, oder Monokel."

Alex Bruel Flagstad: "Ich bin Alex Bruel Flagstad, ich bin Animator. Trickfilm-Knete-Macher. (lacht) Hier in der Nalepastraße."

Künstler statt Redakteur, Atelier statt Redaktion. Rechts an der weißen Wand lehnt ein Mountainbike. Daneben Kisten mit verschiedenfarbigen Stoffen. Ein mannshohes Regal gibt es noch in dem 30-Quadratmeter Raum, und einen Arbeitstisch. Daran sitzt Alex Flagstad und hält ein fingergroßes Männchen aus Knetmasse in den Händen. Das trägt weite Skaterhosen und ein Gewehr über der Schulter.

"Einer unserer größten Spots entstand für einen Fernsehsender. Ein Kanal, der jetzt ins Internet geht. Ein neuer digitaler Sender. Sie fanden es lustig, einen Knete-Trickfilm zu machen. Weil das analog ist und altmodisch."

In dem Trickfilm erschießt der Skater einen Mann, der gerade an einer Flip-Chart zeigt, was Leute im Fernsehen sehen wollen. Der Schütze flüchtet nach einer wilden Jagd durch eine Toilette in die Kanalisation. Und erreicht schließlich ein Untergrund-Studio, wo seine Kollegen Videos uploaden. Und zwar beim Auftraggeber für den Spot.

Alex Flagstad streicht sich die dunklen Haare aus dem Gesicht. Seinen Hang zur Kunst hat er geerbt, sagt er. Die Eltern sind Kunstmaler, er zeichnet seit seiner Kindheit, kam später noch zur Fotografie und zum Film. Irgendwann entdeckte der Däne Knete als Werkstoff für sich. Seitdem formt er daraus Figuren und Gegenstände, schreibt Geschichten und verfilmt sie.

Flagstads Blick schweift durch die schmutzigen Fensterscheiben nach draußen. Ein hässlicher Beton-Flachbau steht dort. Inmitten einer Grünfläche, hinter der sich die Spree träge durch den grauen Herbsttag schiebt.

"Für uns, die wir aus Dänemark kommen, wo alles so sauber und rein ist, hat dieses Ostige und Schmutzige einen gewissen Charme. Auch die Leere. Das hat alles einen unkommerziellen Style. Auf lange Sicht ist es natürlich irritierend, dass es so schmutzig ist, aber man kann hier so viel Lärm machen, wie man will."

Flagstad kam vor drei Jahren aus Kopenhagen nach Berlin. Mit seiner Freundin, Agnes Obél. Die Musikerin hat sich ein Tonstudio direkt nebenan eingerichtet. 6,50 Euro pro Quadratmeter inklusive Strom, Heizung und Internetanschluss zahlen die beiden. Kontakt zu anderen Mietern suchen sie nicht.

"Es war einfach ein großes Gebäude, das frei war. Und wir suchten einen kleinen geheimen Ort, wo wir uns ein bisschen verstecken können. Wir wollten nicht gestört werden. In der Nalepastraße kommt keiner einfach vorbei, es ist ja so weit draußen. Aber inspirierend."

Bis 2005 war das Areal im Besitz Berlins und der neuen Bundesländer. Sie verscherbelten es unter mysteriösen Umständen für 350.000 Euro an einen Spekulanten. Der nur wenig später den Kernbereich mit den denkmalgeschützten Gebäuden für 3,5 Millionen Euro weiterverkaufte. Rechtmäßiger Eigentümer ist nun der Investor Albert Ben-David, der das "Funkhaus Berlin" zum Zentrum der Medienwirtschaft machen will. Einige Millionen sind bereits in Sanierungsmaßnahmen geflossen, knapp die Hälfte der 50.000 Quadratmeter Nutzfläche ist laut Verwalter vermietet. Umso irritierender, dass man kaum jemanden auf dem langen wie breiten Flur trifft.

Kaum jemanden heißt, manchmal doch. Ein Mann kommt um die Ecke und marschiert in Stiefeln und Uniform vorbei. Er biegt in einen Raum ab, wo zwei andere NVA-Offiziere auf ihn warten. Einer deutet mit dem Finger auf eine Landkarte.

"Die Spur der Jungs endet genau hier. In der Gegend um Oschersleben. Wir vermuten, dass sie genau hier im Abschnitt D 34 über die Grenze wollten. Dort war in dieser Nacht eine Baustelle."

"Unwahrscheinlich, dass sie noch in Begleitung des Fluchthelfers sind."

"Ja, aber sie werden versuchen, mit ihm in Kontakt zu treten, und genau das ist unsere Chance. Nur so bekommen wir den Fluchthelfer."

"Konzentrieren Sie alle Maßnahmen auf diesen Bereich. Schicken sie ein Fahndungsprofil an alle Kreisdienststellen, Alexander Baumgarten ist auf Insulin angewiesen, ich will dass jede Apotheke im Umkreis von 50 Kilometern sein Foto bekommt."

Regie: "Und danke, gut. Wir bauen um auf Karl."

Große Scheinwerfer bringen Licht in die Filmszene, in der es - natürlich - um den Osten geht. Drei junge Männer fliehen aus der DDR, gejagt von der Stasi. Das Architekturdenkmal Nalepastraße wird gern als Kulisse genutzt. Diverse "Polizeirufe" entstanden hier, die breiten Flure eignen sich hervorragend für Filmdrehs, bieten genügend Platz für die ganze Technik.

Ein riesiger Parkplatz, wenige Parkplatzsuchende. Außer den Fahrzeugen der Filmcrew stehen dort gerade mal sechs Autos und etwa zehn Fahrräder. Aus einem geöffneten Fenster im vierten Stock scheppert ein Schlagzeug samt Taktgeber. Leer stünden hauptsächlich Büro- und Lagerräume. Die Proberäume zum Preis von 7,50 Euro pro Quadratmeter seien alle vergeben, so die Verwalterin Susanne Graef. Wie auch die Tonstudios. Die befinden sich in dem halbrunden Gebäude gegenüber vom Hochhaus.

Ulrich: "Ja, das ist die Eingangshalle von Block B. Ich glaube, das ist in den 50ern gebaut worden für Hörspiel- und Aufnahmekomplexe und, na ja, das hat heute in seiner Gestalt totale Coolness. Diese Säulen, die Halle, die breite Treppe. Ja, und hier saßen die, die immer die meiste Zeit hatten im Funkhaus, die Orchestermusiker, die Schauspieler, die bei Hörspielen mitgewirkt haben, hier stand auch mal der Sekt oder der Cognac auf dem Tisch. Hier sah man auch mal 'nen berühmten Schauspieler oder 'nen berühmten Orchestermusiker oder Dirigenten. Ja. Die große Hochkultur hier."

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Der Pianist Murray Perahia nimmt alle seine Platten im Großen Sendesaal auf, die englische Band Portishead gab dort im vergangenen Jahr ein viel beachtetes Konzert, und die Bremer Kammerphilharmoniker sind regelmäßige Gäste im Block B. Die Akustik ist einzigartig, weltweit berühmt. Man hat damals beim Bau an nichts gespart: doppelte Fundamente, frei schwebende Räume, die keine Geräusche von außen eindringen lassen. Architekt Ehrlich arbeitete 1951 mit Rundfunktechnikern und Akustikern zusammen.

Ulrich: "Wir gehen in den kleinen Sendesaal. Man steht hier in dem Saal und es gibt keinen Hall. Wie man das hingekriegt hat ... alles ganz gedämpft."

Hinter dem berühmten großen Saal reihen sich im Halbrund noch weitere Aufnahmeräume. Nicht ganz so groß, aber dafür nicht weniger schön. Parkettboden, Holzvertäfelungen mit eingearbeiteten Verzierungen, goldener Brokat an den Wänden.

Jean Szymczak: "Der Saal 3 ist ein Kammermusiksaal. Oder der wurde direkt als Kammermusiksaal gebaut, das heißt, der eignet sich für alle Sachen, die eine größere Akustik brauchen, sodass man auch 'nen Nachhall hat und eine natürliche größere Räumlichkeit. Während Saal 4 so gestaltet ist, dass es eine kürzere Nachhallzeit hat. Und die Akustik hab ich einfach übernommen, da hab ich nichts dran verändert, weil die ist für mich einmalig hier."

Toningenieur Jean Szymczak betreibt die beiden Aufnahmesäle und drei Regieräume unter dem Label Studio P4. Zu seinen Kunden zählen zahlreiche Musiker, Verlage und alle öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Auch das Deutschlandradio produziert in der Nalepastraße Features und Hörspiele. Und zum Teil kommen jetzt die Regisseure, Redakteure und Sprecher, die schon vor 20 Jahren hier gearbeitet haben, an denselben Ort zurück. Mit dem Unterschied, dass man den Betrieb dieser einzigartigen Räume der freien Wirtschaft überlassen hat.

Szymczak: "Stimmt das?"

Möbus: "Ja, da müssen wir danach, ba ba ba, weggehen, weil da spielt der Olli den Bom Bom nicht gut. Aber ich glaub, das hört sich nach 'nem Schnittfehler an. Da ist was im Schlagzeug."

Szymczak sitzt am Mischpult und starrt auf den Bildschirm, auf dem bunte Farbbalken zucken. Zwei Musiker der Berliner Jazz-Band "Der rote Bereich" beobachten ihn. Die Aufnahmen sind vor einem Monat im Saal 4 entstanden. Jetzt schneidet der Toningenieur das Material. Korrigiert kleine Fehler, die die Musiker entdeckt haben.

Szymczak ist nun schon elf Jahre hier. Weder die turbulenten Auseinandersetzungen um die Verkäufe des Geländes, noch seine wechselnden Mietverträge konnten ihn schrecken.

"Für mich ist dieser Ort hochgradig attraktiv, weil ich nirgendwo diese Bedingungen finden würde, um meine Art von Arbeit zu machen. Kann mich hier frei entfalten und kann den Künstlern hier auch die Grundlage ihrer Arbeit bieten, auch frei aussuchen und gestalten, die Möglichkeiten sind so vielfältig, dass man für jeden eigentlich findet, was er braucht. Und für mich von Vorteil ist, dass ich mich auf dem Gelände weiterentwickeln konnte, dass ich auch mal längere Mietverträge hab, was früher gar nicht möglich war. Und ansonsten wird das die Zeit zeigen, wie sich das entwickelt, wieweit das erhalten wird oder ausgebaut, wie das sich entwickeln kann, das wird auch damit zusammenhängen, was überhaupt in dieser Welt möglich ist."

Oder was in Berlin möglich ist. Das Land hat die Entwicklung dieses Geländes aus der Hand gegeben. Die Zukunft des Rundfunkhauses Nalepastraße bestimmen nun Geschick und Finanzkraft des israelischen Geschäftsmannes Albert Ben-David und seiner Angestellten.

Andreas Ulrich hat den Raum A 503 gefunden. Der Konferenzraum mit einem 15 Meter langen Eichentisch, 60er-Jahre Sessel, Original-Schalenlampen an der Holzdecke.

"Wir haben hier mit der Redaktion von DT 64 Anfang November zusammengesessen 1989 und haben unserer damaligen Leitung von DT 64 das Vertrauen entzogen. Das stand in keinem DDR-Arbeitsrecht. Wir haben's einfach gemacht. Haben gesagt, Freunde, wir wollen hier jetzt auch endlich den Aufbruch. Überall ist der schon im Land und jetzt bitte auch hier, und mit euch geht das nicht."

Vom nächsten Morgen an war Ulrich Chef der Aktuellen Redaktion von DT 64. Der Sender wurde wenige Jahre später genauso abgewickelt wie andere Sender: Berliner Rundfunk, Radio DDR 1 und 2, Radio Berlin International. Nur Deutschlandsender Kultur, vormals Stimme der DDR und davor der traditionsreiche Deutschlandsender, schaffte den Sprung … aus der Nalepastraße in Berlin-Oberschöneweide zum Hans-Rosenthal-Platz in Berlin-Schöneberg, in das Gebäude vom RIAS. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Im Foyer stehen die Uhren vom alten "Funkhaus Berlin" still. Ein paar Meter weiter hat vor einigen Wochen das Café "Milchbar" eröffnet. Dort sitzt eine ältere Frau und wartet auf ihre Kollegen. Sie haben zu DDR-Zeiten in der Sparkasse im Block C gearbeitet. Diese Mischung aus Altem und Neuem ist es, die dem Standort ihren Charme verleiht. In der denkmalgeschützten Architektur sollen heute Kunst und Kultur von morgen entstehen. Dafür muss es aber noch ein bisschen lauter werden.