Nur das Gebrüll und der Befehl und das Gewinsel
Vor einem Jahr starb Christa Wolf - der Audio-Verlag erinnert mit zwei Hörbüchern an die Schriftstellerin. Sie liest die Erzählung "Kassandra", mit der ihr der Durchbruch gelang, und Dagmar Manzel rezitiert die Geschichte "August" nach einer wahren Begebenheit.
Die Erzählung "August" war ein Geschenk von Christa Wolf an ihren Mann Gerhard.
Gerhard Wolf: "”Das erste Mal habe ich die Erzählung meiner Frau gelesen, das kann am Abend oder erst am nächsten Tag unseres 60. Hochzeitstages gewesen sein, denn sie hatte mir das ja bisher verheimlicht.""
Der Erzählung hatte Christa Wolf damals einen Brief an ihren Mann beigelegt. Der Brief ist Teil der Buchausgabe von "August", auf dem Hörbuch wird er von Gerhard Wolf gelesen:
Gerhard Wolf: "”Was soll ich Dir schenken, mein Lieber, wenn nicht ein paar beschriebene Blätter, Blätter in die viel Erinnerung eingeflossen ist aus der Zeit, als wir uns noch nicht kannten. Von der späteren Zeit kann ich Dir kaum etwas erzählen, was Du nicht schon weißt.
Das ist es ja: Wir sind in den Jahrzehnten ineinander gewachsen. Ich kann kaum noch "ich" sagen, meistens "wir". Ohne Dich wäre ich ein anderer Mensch. Aber das weißt Du ja. Große Worte sind zwischen uns nicht üblich. Nur soviel: Ich habe Glück gehabt. Christa. 28. Juli 2011.""
August war acht Jahre alt, als er in eine "Mottenburg" eingewiesen wurde, wie damals die Heilstätten für Tbc-Kranke genannt wurden. Sein Vater war im Krieg als vermisst gemeldet worden, seine Mutter hatte August bei einem Bombenangriff verloren. Außer den "Motten" hatte der Junge nichts.
Aber in der "Mottenburg", einem alten Schloss, fand er in der siebzehnjährigen Lilo seine Märchenprinzessin. Dagmar Manzel liest die Geschichte, die aus der Perspektive des Erwachsenen erzählt ist: August ist Ende 60, als er auf sein Leben zurück blickt.
Dagmar Manzel: "”Die Lilo brauchte kein Buch, sie erzählte das Märchen auswendig, abends vorm Schlafengehen in der Kinderecke des Männersaals. Das war das Schönste, was August sich ausdenken konnte.""
Angesichts des grassierenden Minimalismus, der in weiten Teilen des Hörbuchmarktes herrscht, ist die "August"-Hörbuchproduktion ausdrücklich zu loben. Das 45 Seiten umfassende Booklet fällt nicht nur durch seine Gestaltung auf, sondern es erweist sich auch als äußerst informativ. Neben der Erzählung "Er und ich" enthält es Fotos von Gerhard und Christa Wolf und als Reprints finden sich die Briefe, die der damals zehnjährige August an Christa Wolf geschrieben hat.
Gerhard Wolf: "”Der August ist ja eine authentische Figur. Er kommt auf den letzten Seiten des großen Buches ‚Kindheitsmuster’ vor.""
In "Kindheitsmuster" wird auf den letzten Seiten nicht nur August erwähnt, sondern in dem 1976 erschienenen Roman taucht auch zum ersten Mal der Name "Kassandra" auf. Nellys Mutter, eine Schwarzseherin, wird als "Kassandra hinterm Ladentisch" bezeichnet. Zentral wird die Kassandra-Figur dann in der gleichnamigen Erzählung von 1983. Kassandra, die Seherin, erinnert sich in der Stunde ihre Todes und zugleich weiß sie, was kommen wird.
Christa Wolf: "”Wer wird und wann, die Sprache wiederfinden. Einer dem ein Schmerz den Schädel spaltet wird es sein. Bis dahin, bis zu ihm hin, nur das Gebrüll und der Befehl und das Gewinsel und das Jawohl der Gehorchenden. Mit Blindheit geschlagen. Ja. Alles, was sie wissen müssen, wird sich vor ihren Augen abspielen und sie werden nichts sehen.""
Die Aufnahme der Lesung von 1992 enthält als Bonustrack ein Interview mit Christa Wolf, in dem sie andeutet, worauf sich ihre skeptische Weltsicht gründet.
Christa Wolf: "”Dass sich immer wieder ähnliche Muster wiederholen, das ist der eigentliche Schrecken, den ich auch so empfunden habe, der auch anhält, der über die heutige Zeit und das was wir heute erleben und vor uns haben, anhält.
Der eigentliche Schrecken: Dass wir verdammt zu sein scheinen, immer wieder auf die gleiche Weise, auf das Gleiche zu reagieren.""
Die "Kassandra"-Erzählung, die so weit in die Geschichte zurückgeht, hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Christa Wolf ist vor einem Jahr gestorben, aber ihre Stimme, die von einer enormen suggestiven Kraft ist, bleibt auch dank dieser beiden gelungenen Hörbuchproduktionen lebendig. Mit diesen Hörbüchern wird an eine Autorin erinnert, die zur Weltliteratur gehört.
Christa Wolf: "”Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts, was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel geführt.""
Besprochen von Michael Opitz
Christa Wolf liest Kassandra
Bearbeitung und Regie Peter König, Redaktion und Interview Ralph Schock
Der Audio Verlag. 5 CDs, 399 Minuten. 19,99 Euro.
Christa Wolf: August
gelesen von Dagmar Manzel mit einem Bericht, gelesen von Gerhard Wolf
Der Audio Verlag, 1CD, 71 Minuten, 15,99 Euro.
Gerhard Wolf: "”Das erste Mal habe ich die Erzählung meiner Frau gelesen, das kann am Abend oder erst am nächsten Tag unseres 60. Hochzeitstages gewesen sein, denn sie hatte mir das ja bisher verheimlicht.""
Der Erzählung hatte Christa Wolf damals einen Brief an ihren Mann beigelegt. Der Brief ist Teil der Buchausgabe von "August", auf dem Hörbuch wird er von Gerhard Wolf gelesen:
Gerhard Wolf: "”Was soll ich Dir schenken, mein Lieber, wenn nicht ein paar beschriebene Blätter, Blätter in die viel Erinnerung eingeflossen ist aus der Zeit, als wir uns noch nicht kannten. Von der späteren Zeit kann ich Dir kaum etwas erzählen, was Du nicht schon weißt.
Das ist es ja: Wir sind in den Jahrzehnten ineinander gewachsen. Ich kann kaum noch "ich" sagen, meistens "wir". Ohne Dich wäre ich ein anderer Mensch. Aber das weißt Du ja. Große Worte sind zwischen uns nicht üblich. Nur soviel: Ich habe Glück gehabt. Christa. 28. Juli 2011.""
August war acht Jahre alt, als er in eine "Mottenburg" eingewiesen wurde, wie damals die Heilstätten für Tbc-Kranke genannt wurden. Sein Vater war im Krieg als vermisst gemeldet worden, seine Mutter hatte August bei einem Bombenangriff verloren. Außer den "Motten" hatte der Junge nichts.
Aber in der "Mottenburg", einem alten Schloss, fand er in der siebzehnjährigen Lilo seine Märchenprinzessin. Dagmar Manzel liest die Geschichte, die aus der Perspektive des Erwachsenen erzählt ist: August ist Ende 60, als er auf sein Leben zurück blickt.
Dagmar Manzel: "”Die Lilo brauchte kein Buch, sie erzählte das Märchen auswendig, abends vorm Schlafengehen in der Kinderecke des Männersaals. Das war das Schönste, was August sich ausdenken konnte.""
Angesichts des grassierenden Minimalismus, der in weiten Teilen des Hörbuchmarktes herrscht, ist die "August"-Hörbuchproduktion ausdrücklich zu loben. Das 45 Seiten umfassende Booklet fällt nicht nur durch seine Gestaltung auf, sondern es erweist sich auch als äußerst informativ. Neben der Erzählung "Er und ich" enthält es Fotos von Gerhard und Christa Wolf und als Reprints finden sich die Briefe, die der damals zehnjährige August an Christa Wolf geschrieben hat.
Gerhard Wolf: "”Der August ist ja eine authentische Figur. Er kommt auf den letzten Seiten des großen Buches ‚Kindheitsmuster’ vor.""
In "Kindheitsmuster" wird auf den letzten Seiten nicht nur August erwähnt, sondern in dem 1976 erschienenen Roman taucht auch zum ersten Mal der Name "Kassandra" auf. Nellys Mutter, eine Schwarzseherin, wird als "Kassandra hinterm Ladentisch" bezeichnet. Zentral wird die Kassandra-Figur dann in der gleichnamigen Erzählung von 1983. Kassandra, die Seherin, erinnert sich in der Stunde ihre Todes und zugleich weiß sie, was kommen wird.
Christa Wolf: "”Wer wird und wann, die Sprache wiederfinden. Einer dem ein Schmerz den Schädel spaltet wird es sein. Bis dahin, bis zu ihm hin, nur das Gebrüll und der Befehl und das Gewinsel und das Jawohl der Gehorchenden. Mit Blindheit geschlagen. Ja. Alles, was sie wissen müssen, wird sich vor ihren Augen abspielen und sie werden nichts sehen.""
Die Aufnahme der Lesung von 1992 enthält als Bonustrack ein Interview mit Christa Wolf, in dem sie andeutet, worauf sich ihre skeptische Weltsicht gründet.
Christa Wolf: "”Dass sich immer wieder ähnliche Muster wiederholen, das ist der eigentliche Schrecken, den ich auch so empfunden habe, der auch anhält, der über die heutige Zeit und das was wir heute erleben und vor uns haben, anhält.
Der eigentliche Schrecken: Dass wir verdammt zu sein scheinen, immer wieder auf die gleiche Weise, auf das Gleiche zu reagieren.""
Die "Kassandra"-Erzählung, die so weit in die Geschichte zurückgeht, hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Christa Wolf ist vor einem Jahr gestorben, aber ihre Stimme, die von einer enormen suggestiven Kraft ist, bleibt auch dank dieser beiden gelungenen Hörbuchproduktionen lebendig. Mit diesen Hörbüchern wird an eine Autorin erinnert, die zur Weltliteratur gehört.
Christa Wolf: "”Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts, was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel geführt.""
Besprochen von Michael Opitz
Christa Wolf liest Kassandra
Bearbeitung und Regie Peter König, Redaktion und Interview Ralph Schock
Der Audio Verlag. 5 CDs, 399 Minuten. 19,99 Euro.
Christa Wolf: August
gelesen von Dagmar Manzel mit einem Bericht, gelesen von Gerhard Wolf
Der Audio Verlag, 1CD, 71 Minuten, 15,99 Euro.