"Nur ein Kriterium, das ist das Schild Ausverkauft"

Dieter Dorn im Gespräch mit Susanne Burckhardt |
Am Sonntag geht eine Ära im deutschen Theaterbetrieb zu Ende, die Ära Dieter Dorn in München. 35 Jahre war er dort Intendant. Mit einem Fest sagen seine Mitarbeiter und Mitstreiter Servus - unter dem witzigen Titel "From Dusk till Dorn".
Matthias Hanselmann: Dieter Dorn, in Leipzig geboren, war zunächst Schauspieler in Hannover, seit 1976 war "der Dorn", wie ihn alle nennen, Oberspielleiter an den Münchener Kammerspielen, seit 1983 deren Intendant. Vor zehn Jahren dann wechselte er auf die andere Seite der Straße und wurde Intendant des Residenztheaters. Die besten Schauspieler nahm er natürlich mit. Jetzt überlässt der 75-Jährige das Residenztheater dem 25 Jahre jüngeren Martin Kusej.

Meine Kollegin Susanne Burkhardt hat vor dieser Sendung mit Dieter Dorn gesprochen und ihn zuerst gefragt, wann ihm denn so richtig zu Bewusstsein gekommen sei, dass er Abschied nehmen müsse.

Dieter Dorn: Es gibt immer so zwei Möglichkeiten zu reagieren. Die eine ist, dass man sagt, ach, könnte ich doch noch länger an diesem Instrument teilhaben, und die andere ist, dass man sagt, Gott sei Dank, dass ich diese Fron und diese Last los werde. Und zu meiner Überraschung hat sich das so als ganz normal herausgestellt. Das ist so, also wie ausgeschritten, so würde ich Ihre Frage beantworten. Es ist jetzt einfach dann zu Ende.

Susanne Burkhardt: Das heißt, Sie gehen jetzt ruhig und zufrieden, vielleicht sogar gelassen, kein bisschen Wehmut?

Dorn: Na ja, die Wehmut liegt woanders, die Wehmut liegt ja bei den Rückblicken, bei dieser langen Strecke von wirklich bedingungsloser Zusammenarbeit miteinander, liegt bei den vielen Schauspielerinnen und Schauspielern und anderen Mitarbeitern, die gestorben sind. Das ist für mich eigentlich der schwierigste Punkt, dass quasi die große Familie sich so verkleinert auf diesem Marsch. Das ist ein bisschen wehmütig.

Burkhardt: In Ihrer letzten Inszenierung am Residenztheater, im "Käthchen von Heilbronn", da stehen Sie seit Februar diesen Jahres selbst auf der Bühne, als Kaiser, und ausgerechnet diesem Kaiser gehört das letzte Wort, nämlich: Aus! So heißt es zumindest bei Kleist, und da haben Sie sich jetzt besetzt. Haben Sie das extra gemacht, damit Sie das letzte Wort behalten können? Das ist ja wohl kein Zufall, so ein theatralischer Abgang.

Dorn: Nein, nein, so ist es nicht, und es geht ja dann ein arroganter Scheinwerfer an oder so, so ist es überhaupt nicht gemeint gewesen, sondern ich wollte eigentlich, dass Rolf Boysen den Kaiser spielt, aber der hat diese 50 geplanten Vorstellungen sich nicht mehr vorstellen können für sich. Und dann haben wir überlegt, und dann habe ich gesagt, ich mache mit dem Engel auch so was wie einen Spielleiter, der das Spiel beginnt und der dann, wenn die Knoten sich alle so verwirrt haben, dass keiner mehr ein noch aus weiß, als Kaiser quasi, als Deus ex machina diesen Knoten löst, indem er sagt, das ist mein uneheliches Kind, damit ist es eine Kaisertochter, damit kann alles zufrieden sein, und auch Kunigunde ist zurückgedrängt.

Burkhardt: Und Sie bestimmen bis zum Schluss?

Dorn: Und ich bestimme dann bis zum Schluss, ja. Dass das dann so wirkt, das ist halt so. Die Hauptsache für mich ist aber – das ist ja ein alter Wunsch von mir eigentlich –, dass man diese ungeheuren Sachzwänge und diesen Apparat, den man bedienen muss, dass man die eigentlich ganz klein hält, diese Zwänge, und immer von einer Truppe träumt, die ein Stück macht, das spielt und danach ein neues Stück und nicht halt immer auch den Apparat bedienen muss. Und das war immer unser aller Traumbild. Und nun finde ich es so schön, dass ich am Schluss mit den Schauspielern, mit meinen Schauspielern auf der Bühne stehen kann. Das kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie ich das genieße, dass die mich da mitspielen lassen und dass so was wie eine Truppe entsteht plötzlich am Ende.

Burkhardt: Die Kritik, Herr Dorn, hatte sich in den vergangenen Jahren immer mal wieder ein bisschen auf Sie eingeschossen, Ihr Theater sei altmodisch, Ihre große Zeit vorbei, zu viel Texttreue, zu hochtrabend, und Sie seien einer, hieß es da auch, der keinen Gott neben sich ertrüge. Gleichzeitig aber war Ihr Haus – mit 900 Plätzen ziemlich groß eigentlich – immer voll, das Publikum liebte Ihre Arbeiten – wie ist das denn, wenn man einerseits so einen Erfolg beim Publikum hat, andererseits die Kritik immer wieder draufhaut, kann man das ausblenden oder setzt einem das dann doch zu?

Dorn: Nein, das kann man nicht nur ausblenden, sondern das ist ja gar kein Kriterium mehr. Die Kritik hat im Prinzip bis auf ganz wenige und wirklich sehr gute Leute, die da noch Theater beobachten, hat ja den Maßstab völlig verloren und behauptet immer, es gebe so was wie einen Mainstream und modern sei, wenn man die Mittel der Medien benutzt, aber das stimmt ja gar nicht. Und es gibt für ein ernstzunehmendes Theater nur ein Kriterium, das ist das Schild "Ausverkauft", und zwar auf dem Niveau, das die Truppe bestimmt und nicht irgendwie so, dass man sagt, na ja, geben wir denen nach, sondern indem man eine Geschichte erzählt und die Leute da reingehen und das ausverkauft ist. Das ist das Kriterium, alles andere ist bei uns im abgeschlossenen Zirkel sowieso sehr viel strenger. Da machen wir Kritik, die ist sehr viel härter und auch sehr viel schwerer auszuhalten als jede dieser sich ja doch immer opportunistisch bewegenden Presseberichte. So ist es leider.

Burkhardt: Dieter Dorn, Sie waren 35 Jahre in Münchener Theatern, es ist heute eine fast unvorstellbar lange Zeit. Heute sind ja Intendanten eher so viel Fußballtrainer immer nur kurz an einem Haus oder für eine Mannschaft zuständig. Was waren die stärksten Veränderungen im Theater, die Sie in dieser Zeit erlebt haben, was war am eindrücklichsten für Sie?

Dorn: Die stärksten Veränderungen sind, dass das, was ich gemacht habe, dass Menschen quasi eigentlich ein ganzes künstlerisches Leben zusammenarbeiten oder das jedenfalls versuchen, dass das nicht mehr geht. Die Schauspiel-Ensembles haben die ganz, ganz starke Tendenz – und manchmal ist es zum Verzweifeln – so wie die großen Opernensembles. Da gibt es ja so ein Welt-Ensemble und ein Europa-Ensemble, und die hören Sie dort und hier und da, das heißt, die reisen und die Flugpläne bestimmen eigentlich dann die Spielpläne. Und das hat ganz ungeheuer zugenommen und das ist ganz schmerzhaft, weil ich glaube, dass Theater auch Zusammenhänge braucht.

Das heißt, wenn ich einen Schauspieler in einer Entwicklung sehe, über Jahre, in drei, vier, fünf, sechs, sieben verschiedenen, auch widersprüchlichen und aufeinander antwortenden Inszenierungen, dann ist das für den Schauspieler gut, es wäre auch für den Sänger gut, und das ist für die Stadt gut und für den Spielplan und für alles, was Theater in einer Stadt ausmacht, denn Theater ist immer regional, muss es sein. Es muss für die Polis sein, die es bezahlt, und dann kann es auch ausstrahlen international. Aber wenn Sie das so zusammenflicken, dann können Sie es da, hier, dort sehen, und es wird immer wesenloser gewissermaßen für die, die direkt in dieser Stadt leben und dafür auch direkt die Steuern zahlen. Das ist auch eine Frage der Ethik, das ist schmerzhaft zu sehen, dass das ganz, ganz radikal zurückgeht, und da weiß ich auch nicht, was man dagegen tun kann.

Burkhardt: Es gibt von Jennifer Minetti den Satz: "Wenn er enttäuscht ist, kann das Jahre dauern, wesentlich ist letzten Endes aber seine Treue und Standfestigkeit." Damit meint sie Sie, Herr Dorn, und Sie selbst sind ja vor zehn Jahren ins Residenz-Theater umgezogen, eher unfreiwillig, immerhin hat Sie Julian Nida-Rümelin, damals Kulturstaatsminister, aus den Kammerspielen rausgeworfen. Wie lange waren Sie enttäuscht und wütend?

Dorn: Na ja, das hat auch eine lange Biografie, weil wir haben ja da mindestens 20 Jahre, als wir da gearbeitet haben, an diesem Umbau gebastelt und haben uns überlegt, wie das geht und was wir machen können. Und wir haben gesagt, na gut, wenn wir das Ziel haben, dass wir die Kammerspiele wirklich zu einem ganz tollen funktionierenden zeitgenössischen Instrument machen, was jetzt die Logistik betrifft, dann ist es toll und dann lohnt es sich sogar, künstlerische Abstriche zu machen, um das Ziel zu erreichen. Und ich hab gedacht mit meinen Freunden, zwei Jahre müssten wir dieses Instrument vielleicht noch einspielen oder so was. Und da kam – und zwar nicht, weil die Zuschauer uns nicht wollten, sondern nur, weil einer irgendwas machen wollte, damit er irgendwie eine Kontur kriegt. Und darüber war ich sehr wütend und das war eigentlich das Ende. Und dann kam wie bei Heinrich von Kleist ein Engel vorbei und der sagte: Der Herr Witt ist zurückgetreten!

Burkhardt: Vom Residenz-Theater.

Dorn: Vom Residenz-Theater. Und Hans Zehetmair rief an und sagte: Willst du dieses Theater übernehmen? Und dann habe ich gesagt, gut, dann machen wir das. So war der Theatergott da auf unserer Seite.

Burkhardt: Und die Wut verrauchte dann langsam?

Dorn: Na sofort. Wenn man Produktionsmittel hat als Regisseur und eine Truppe, eine solche Truppe, da weiß man gar nicht, was man mit Wut machen soll, da braucht man alle Kraft.

Burkhardt: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Dieter Dorn, der 35 Jahre lang an Münchener Theatern war, als Intendant die Münchener Kammerspiele leitete und zuletzt zehn Jahre das Residenztheater. Am Sonntag ist Schluss, dann verlässt er das Bayerische Staatsschauspiel. Herr Dorn, Sie haben vor allem Shakespeare und die großen Dramen der Antike inszeniert, außerdem noch sehr viel von Botho Strauß – warum Shakespeare und die großen Dramen? Haben Sie aus diesen Stücken etwas gelernt, für sich selber zum Beispiel, den Tod nicht mehr zu fürchten?

Dorn: Ja, ja, schon. Es gibt ja immer eine Lösung, das ist die Poesie, das ist wie bei der Musik, es ist genau wie Mozart zum Beispiel, wo es quasi Flügel bekommt und wegfliegt, und aus der Rationalität und aus der Aufklärung fliegt es in irgendeine Sphäre. Sie können sie religiös nennen meinetwegen, aber es kommt wieder zu dem Punkt, aus dem das Theater erfunden ist, nämlich wirklich aus einer Art Religion, aus einem Gespräch mit, ich weiß nicht was, mit den Wolken.

Burkhardt: Hat es aus Ihnen einen besseren Menschen gemacht, das Theater?

Dorn: Nee, das glaube ich nicht, dass das einen besseren Menschen macht, aber es ist eine Gegenwelt, und es ist das Einzige, wofür der Mensch eigentlich lebt: für die Fantasie auf eine Gegenwelt, für eine, die der Fantasie und der Einbildung und der eigenen Vorstellung gehorcht. Das ist das, was ja auch alle großen Dichter und Schriftsteller uns immer wieder sagen. Das ist überhaupt der entscheidende Punkt, dass man einen Gegenstand findet, vor dem man sich versammeln kann, dass man nicht seine eigenen Obsessionen, seinen eigenen Quark macht, sondern dass man sagt, da ist das Weltbild eines Autors, das versuchen wir zu durchdringen, da versuchen wir zu finden das, was für uns heute ganz wichtig ist, ohne dass wir ganz direkt da nun sagen, jetzt machen wir die Kommentare daraus.

Burkhardt: Herr Dorn, Ihr Nachfolger, Martin Kusej, setzt auf Erneuerung, bringt seine Leute mit, will vieles anders machen, er probt jetzt schon neue Stücke mit neuen Schauspielern, anderen Regisseuren, anderen Dramaturgen. Schmerzt das, wenn man sein Haus verlässt und merkt, jetzt werden hier die Wände rausgerissen und wird neu tapeziert, und am Ende erkenne ich meine eigene Wohnung gar nicht mehr?

Dorn: Nein, das ist das Faszinierende. Erst mal ist es das – man kann es auch auf das Leben übertragen und das Ende, den Tod, aber Sie können es auch weniger dramatisch einfach so sehen, dass der größte Vorzug des Instrumentes Theater ist, dass diese Schiefertafel oder so was immer wieder abgewischt wird und es immer wieder neu darauf geschrieben wird. Und das ist auch nötig. Und es ist auch nötig, dass nach so vielen Jahren oder überhaupt, dass jemand, der kommt, versucht, seine Sache zu machen. Und dazu ist das Theater da, und da bin ich völlig damit einverstanden. Es gibt dann Härten, wo man sagt, mein Gott, muss das sein, oder es gibt natürlich Leute, die man behüten muss und die man ganz, ganz schwer woanders unterbringen kann, und da gibt es ganz tränenreiche und kummerreiche Dinge, aber das muss man versuchen hinzukriegen. Der Hauptpunkt ist absolut richtig. Und es muss weder der, der da lange war, auf den fluchen, der kommt, noch muss der, der da neu anfängt, auf den fluchen, der da lange war.

Hanselmann: Susanne Burkhardt hat mit dem Theaterkönig Dieter Dorn gesprochen. Morgen steht Dieter Dorn im "Käthchen von Heilbronn" zum letzten Mal auf der Bühne, übermorgen dann gibt es wie gesagt in München noch mal ein großes Abschiedsprogramm zu Dorns Ehren unter dem Motto "From Dusk till Dorn".

Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Mehr zum Thema