Nurkan Erpulat zum "Marsch für Gerechtigkeit"

"Das ist eine lächerliche Protestaktion"

Der Theatermacher Nurkan Erpulat, Hausregisseur im Berliner Maxim Gorki Theater, aufgenommen 2012
Der Theatermacher Nurkan Erpulat, Hausregisseur im Berliner Maxim Gorki Theater © picture alliance / dpa / Horst Ossinger
Moderation: Gabi Wuttke |
Scharfe Kritik übt der Autor und Regisseur Nurkan Erpulat am "Marsch für Gerechtigkeit" der türkischen Opposition: "Das ist eine lächerliche Protestaktion." Gegen Erdogan hilft seiner Meinung nach nur eins.
Der oppositionelle "Marsch für Gerechtigkeit" - ein Hoffnungszeichen für die Türkei? Im Gegenteil, meint der türkische Autor und Regisseur Nurkan Erpulat vom Berliner Maxim-Gorki Theater.
"Das ist eine lächerliche Protestaktion", sagte er im Deutschlandfunk Kultur. Erpulat kritisierte vor allem die Rolle, die der Initiator des Marsches, der CHP-Chef und "angebliche Oppositionsführer" Kemal Kilicdaroglu, im vergangenen Jahr in der türkischen Politik gespielt hat.
Der Vorsitzende der türkischen Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, läuft in der Mitte einer Menschenmenge die letzten Meter des von ihm initierten Protestmarsches von Ankara nach Istanbul.
Der Vorsitzende der türkischen Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu bei seinem Marsch für die Gerechtigkeit© imago / Taner Yener
So habe der Sozialdemokrat selber im Parlament dafür gestimmt, die Immunität der Abgeordneten der HDP aufzuheben, damit man diese linke Partei "zerstückeln und fressen kann", sagte Erpulat. Erst als ein Sozialdemokrat zu 25 Jahren Gefängnis verurteil worden sei, habe Kilicdaroglu protestiert.

Warnung vor einem Bürgerkrieg

Es mache ihm darüberhinaus auch eher Angst als Hoffnung, wenn sich Hunderttausende in der Türkei zur Gegenbewegung formierten. Denn das Land sei "fifty-fifty" gespalten: "50 Prozent will ihn haben, 50 Prozent will ihn nicht haben", so Erpulat. "Und wenn diese zwei Teile gegeneinanderkommen und aufeinander losgehen, dann haben wir wirklich verloren, dann gibt es Bürgerkrieg, Punkt. Und das ist nicht so weit."
Hoffnung setzt Erpulat nicht in politischen Protest, sondern in die aufziehende Wirtschaftskrise: "Ich glaube, spätestens in diesem Winter, im kommenden Winter wird wirklich wirtschaftlich die Türkei so stürzen, dass man von einer Krise mindestens redet." Das könnte die Anhänger Erdogans dazu bringen, ihre Position zu ändern. "Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit."
(uko)

Der 1974 in Ankara geborene Autor und Regisseur Nurkan Erpulat lebt seit 1998 in Berlin. Als Hausregisseur am Maxim-Gorki-Theater inzsnierte er unter anderem "Entertaining Mr. Sloane" von Joe Orton, "Die juristische Unschärfe einer Ehe von Olga Grjasnowa" und "Love it or leave it!".


Das Interview im Wortlaut:
Gabi Wuttke: Die türkischen Sozialdemokraten geben zwei Millionen Mitstreiter an, zwei Millionen Menschen, die den 400 Kilometer langen Protestmarsch gegen Präsident Erdogan unterstützten.
Morgen ist es ein Jahr her, dass der Putsch gegen ihn scheiterte oder, anders gesagt, dass 50.000 Menschen in den Gefängnissen der Türkei sitzen, 100.000 Staatsbedienstete aus dem Verkehr gezogen wurden, der Ausnahmezustand Maulkorb bedeutet, die Freiheit der Presse nicht mehr existiert und Erdogan absolute Macht besitzt.
Autor und Theaterregisseur Nurkan Erpulat vom Maxim Gorki Theater war am 15. Juli 2016 in Istanbul, einen schönen guten Abend jetzt im Studio!
Nurkan Erpulat: Hallo, guten Abend!

Froh, in Berlin zu leben

Wuttke: Haben Sie damals, also vor einem Jahr geahnt, welche Ausmaße diese, ich sage: Rache annehmen wird?
Erpulat: Nein, das hat glaube ich keiner geahnt. Das macht Angst, das hat Wirkung glaube ich, darauf hat man gezielt.
Wuttke: Sind Sie froh, dass Sie dann nach Berlin zurückgekommen sind? Haben Sie im Nachhinein gedacht, das war eine gute Entscheidung?
Erpulat: Ich denke immer, dass ich in Berlin bin, dass ich in Berlin lebe, dass ich in Kreuzberg lebe, ist eine super Entscheidung. Ich bin sehr froh, hier zu sein, unabhängig davon, wie die Türkei sich gerade entwickelt hat.
Früher war es so, dass ich tatsächlich jedes Mal, wenn ich in die Türkei flog, das Gefühl hatte, dass ich die Türkei vermisst habe. Und wenn ich die Türkei verlassen habe, also, schon zehn Tage waren genug Türkei. Aber auch genauso Deutschland war mir irgendwann genug und ich musste irgendwann wieder in die Türkei. Jetzt ist es nicht so, dass ich brenne, in die Türkei zu fliegen.

"Die Türkei hat keinen Halt mehr"

Wuttke: Was heißt das?
Erpulat: Das heißt, die Türkei ändert sich, die Türkei hat keinen Halt mehr, hat kein Maß mehr. Es gibt keine Institution mehr, die Demokratie verteidigen kann oder eine Opposition bilden kann. Die Opposition ist keine Opposition. Wie Sie wissen, hat damals die EU keine Perspektive für die Türkei gegeben, mindestens ab 2004, die Türkei geht in eine Richtung des Alleingangs und man kann, glaube ich, das nicht mehr verhindern.
Wuttke: Fürchten Sie denn, dass nach Ihrer letzten Inszenierung Sie Schwierigkeiten bekämen? Ist das ein Grund, warum Sie jetzt gerade nicht so erpicht darauf sind, in die Türkei zu fliegen, und sei es für zehn Tage?
Erpulat: Ich weiß nicht, ob das Erdogan-kritisch war, meine Inszenierung. Meine Inszenierung war Menschen-in-der-Türkei-kritisch. Erdogan enttäuscht mich nicht, Erdogan ist Erdogan, Erdogan macht, was er machen kann. Und das macht er bis zum Ende, bis zum letzten Punkt. Was mich enttäuscht, ist das Volk. Ich will nicht nur "die Türken" sagen, obwohl ich auch selber Türke bin, Türken, Kurden, Lasen, Tscherkessen, also ganze Völker in der Türkei, die Menschen in der Türkei enttäuschen mich.

Enttäuscht von den Türken

Erdogan hat nach einem schlechten Ergebnis in der Wahl die Wahl wiederholt und dazwischen hat er Kurden attackiert und dafür noch mal zehn Prozent bekommen, obwohl alte Menschen beim Brotkaufen erschossen worden sind, weil man den Ausnahmezustand verhängt hat, und dann hat die AKP noch mal zehn Prozent bekommen. Das enttäuscht mich, das macht mich wütend, das macht mich sehr traurig.
Also, ich bin eher wütend über die Türken, über die Menschen in der Türkei, als über Erdogan selbst. Ich glaube, das sind nicht nur Angstzustände, die man da geschaffen hat, sondern das hat eine Wirkung. Das ist auch eine Art Feudalismus (?), den die Türken bis auf die Knochen drin haben. Sie wollen gerne einen Führer haben.
Wuttke: Und der Protestmarsch der Opposition, …
Erpulat: Das ist lächerlich.
Wuttke: … gibt Ihnen das keine Hoffnung?
Erpulat: Das ist lächerlich.
Wuttke: Warum?
Erpulat: Das ist eine lächerliche Protestaktion. Der Kilicdaroglu, der angebliche Oppositionsführer hat selber zugestimmt, dass die Immunität der Abgeordneten aufgehoben wird. Damit man die HDP, die prokurdische Partei – aber das ist nicht nur eine prokurdische Partei, muss man sagen, das ist eher eine linke Partei – zerstückeln und fressen kann, hat man einfach dieses Gesetz durchgewunken und dann aber einen Abgeordneten von den Sozialdemokraten zu 25 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Und da hat er protestiert.

Ein Bürgerkrieg ist "nicht so weit"

Wuttke: Aber trotzdem kann man doch festhalten, dass es viele Hunderttausend Türken gibt, die darauf warten, dass sich jemand erhebt, dem sie vielleicht auch wieder folgen können, aber in die Gegenrichtung?
Erpulat: Ich habe ehrlich gesagt eher Angst. Denn wir wissen schon, wie es bei dem Referendum ist, wie es bei der Wahl des Präsidenten ist: Die Türkei ist gerade fifty-fifty. 50 Prozent will ihn haben, 50 Prozent will ihn nicht haben. Aber er ist derjenige, der polarisiert, er ist derjenige, der Entweder-Oder schafft. Wenn du nicht von uns bist, bist du gegen uns, so ist die Rede von ihm. Also, jetzt ist die Türkei gespalten, und wenn diese zwei Teile gegeneinanderkommen und losgehen, dann haben wir wirklich verloren, dann gibt es Bürgerkrieg, Punkt. Und das ist nicht so weit. Wer hätte gedacht vor fünf Jahren, dass im arabischen Raum so was passieren könnte? Man braucht einen Funken dafür.
Wuttke: Woher soll der kommen?
Erpulat: Ach, es gibt so viele. Das Einzige, warum das nicht passiert: Diese Masse, die gerade gelaufen ist, ist vernünftiger als die Masse AKP-Anhänger.

Kunst hat "keinen direkten Einfluss" auf die Realpolitik

Wuttke: In Deutschland und besonders in Berlin haben inzwischen nach dem 15. Juli 2016 viele Kulturschaffende aus der Türkei ganz offiziell Unterschlupf gefunden. Können Ihre Kollegen so eine Initialzündung sein, aus Deutschland heraus, oder sind sie hier, um abzuwarten, was passiert? Können sie irgendetwas gegen dieses große Gefängnis Türkei tun?
Erpulat: Ich glaube, nicht. Ich glaube, wir können hier nichts tun. Wir können auch als Künstler nichts tun, glaube ich nicht. Also, ich mache ein Theater, das ich politisch bezeichnen würde, aber ich glaube nicht daran, dass Theater oder Kunst oder Künstler allgemein wirklich auf die Realpolitik Einfluss haben können, direkten. Unsere Wirkung ist eher langwirkend und langatmig, Gott sei Dank. Aber ich glaube, die einzige Möglichkeit, dass tatsächlich die Türkei einen vernünftigen Weg findet, ist, die Anhänger von Erdogan… Werden sie zur Vernunft kommen? Ich glaube, spätestens in diesem Winter, im kommenden Winter wird wirklich wirtschaftlich die Türkei so stürzen, dass man von einer Krise mindestens redet. Ich glaube, ab dem Moment werden vielleicht die Anhänger langsam misstrauisch. Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit, mehr weiß ich wirklich nicht.

Für Protest aus dem Ausland ist es "zu spät"

Wuttke: Verstehe ich Sie dann richtig, dass Sie glauben, Appelle, Aktionen aus dem Ausland können eigentlich gar nichts bewirken?
Erpulat: Ja, also, diese ganze Bemühung aus dem Ausland, dafür ist es zu spät. Wenn Europa was machen sollte, hätte es vor zehn Jahren was machen sollen. Auf einmal ist Deutschland darauf aufmerksam geworden, was für eine schlimme Person Erdogan ist. Bis vor zwei Jahren wusste Deutschland davon nichts. Es ist auch lächerlich. Ich glaube, die einzige Möglichkeit ist nur der wirtschaftliche Kollaps, mehr fällt mir nicht ein.
Wuttke: Sagt Autor und Theaterregisseur Nurkan Erpulat am 14. Juli 2017, ein Jahr nach dem Putschversuch in der Türkei. Danke, dass Sie hier waren!
Erpulat: Ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. DLFKultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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