Nuruddin Farah: "Jenes andere Leben"
Aus dem Englischen von Susann Urban
Surkamp Verlag, Berlin 2016
382 Seiten, 24,95 Euro
Es gibt sie, die afrikanische Mittelschicht
Der Somalier Nurrudin Farah zielt mit "Jenes andere Leben" auch auf europäische Leser ab. Er will ihnen zeigen, dass Afrika aus mehr als Armut besteht. Er positioniert sich auch sehr deutlich in punkto Homosexualität in Afrika. Stilistisch bleibt er aber teilweise hölzern.
Gerade ist der elfte ins Deutsche übersetze Roman des somalischen Autors Nuruddin Farah im Suhrkamp Verlag erschienen. Wie immer ist es das Anliegen des Autors, seinen Lesern möglichst viel über die Situation der Somalier zu vermitteln. Diesmal spielt die Familiengeschichte weitgehend im benachbarten Kenia, wirft aber in vielen Dialogen auch schlaglichtartig den Blick auf die somalische Diaspora in vielen anderen Ländern sowie auf die Situation in Mogadischu selbst. Dort arbeitet der Somalier Aar vorübergehend im Auftrag der UNO und kommt gleich zu Beginn des Romans bei einem Bombenattentat der Al Schabab Milizen ums Leben. Seine dreizehn Jahre jüngere Schwester Bella, ihrem Bruder in intensiver Liebe verbunden, lebt in Rom und führt als bekannte Fotografin ein Jet Set Leben rund um die Welt.
Gleich nach dem Erhalt der Todesnachricht eilt sie nach Nairobi, wo Aars halbwüchsige Kinder Salif und Dahaba im Internat leben. Auch Aars Noch-Ehefrau Valerie kommt nach Nairobi, um ihren Anspruch auf die Kinder und das Erbe anzumelden, obwohl sie die Familie schon vor Jahren für ihre Lebensgefährtin Padmini verlassen hat. Zwischen Valerie und Bella entspinnt sich ein gnadenloser Machtkampf - für Valerie allerdings von Anfang an aussichtslos. Nuruddin Farah zeichnet sie recht simpel und unsympathisch, so dass sie für den Leser nur die Böse sein kann, selbst wenn Bella versucht, den Gesetzen der Gastfreundschaft zu entsprechen und die Konflikte zumindest vor den Kindern entschärfen will.
Farah positioniert sich klar für die Freiheit des Einzelnen
Nurunddin Farah nutzt diese beiden Frauenfiguren um ausführliche Betrachtungen über das Thema Homosexualität in Afrika und die Stellung der Frauen allgemein anzustellen. Seine klare Positionierung für die Freiheit des Einzelnen ist für afrikanische Leser sicher sehr erhellend und gilt als Tabubruch, denn Homosexualität ist in vielen afrikanischen Staaten verboten und wird sogar mit der Todesstrafe geahndet. Seine ausführlichen Schilderungen des Alltagslebens einer afrikanischen Mittelschicht in Nairobi zielen eher auf die europäische Leserschaft ab, um mit den Klischees der "armen Afrikaner" aufzuräumen.
Der Autor nutzt die zahlreichen Dialoge auch, um das Leben der Somalier in der Diaspora zu zeigen, die Vorurteile, mit denen sie zu kämpfen haben, und fragt, welche Bedeutung können die alten Regeln und Traditionen im Exil noch haben. Wo und wie ist eine Veränderung notwendig? Leider sind einige Dialoge recht hölzern, insbesondere die Sprache der beiden Jugendlichen wirkt teilweise antiquiert und betulich. Trotzdem entwickelt die Geschichte ein ziemliches Tempo und steuert auf das schon vorgezeichnete Ende zu.
Sehr deutlich macht Nuruddin Farah, was der plötzliche Tod eines Familienmitglieds für die Überlebenden bedeutet. Er zeigt, wie viele Lebensfacetten der einzelnen Personen in solcher Extremsituation zutage treten. Außerdem stellt er eindringlich die Frage, wie sich Somalier zu ihrem Land verhalten sollen, ob sich eine Arbeit an einem möglichen Wandel und Wiederaufbau lohnt, wenn sie mit Lebensgefahr verbunden ist. Die Dichte der Trauer hat einen ganz persönlichen Grund. Im Nachwort erfährt der Leser, das die Lieblingsschwester des Autors während seiner Arbeit an diesem Roman bei einem UNICEF Einsatz in Kabul durch ein Bombenattentat ums Leben gekommen ist.