Über die Pornografisierung der Gesellschaft
Die Marketing-Kampagne für Lars von Triers Film "Nymphomaniac" setzt auf die große Provokation. Dabei zeige der Film nur, wie die Pornografisierung der Gesellschaft unser Verhältnis zu Sex verändert, meint Filmkritikerin Katja Nicodemus.
Katrin Heise: Auf der Berlinale war er vor Kurzem als ungeschnittener Director's Cut zu sehen, Lars von Triers fünfstündiger Film "Nymphomaniac". Jetzt kommt der erste Teil dieser monumentalen Unternehmung bei uns in die Kinos, und zwar in gekürzter Fassung. Filmkritikerin der "Zeit", Katja Nicodemus ist bei uns. Willkommen im Studio!
Katja Nicodemus: Hallo!
Hanselmann: "Nymphomaniac" hat auf der Berlinale für ungeheuren Wirbel gesorgt. Was ist das denn nun für ein Film? Ist er provozierend?
Nicodemus: Ja, man sollte sich ja unbedingt provoziert fühlen. Eigentlich war das ja erst mal die Wirkung dieser Marketingkampagne, die alles getan hat, um ein Skandalon zu produzieren, allein schon durch das Filmplakat. Da sieht man ja, ich weiß nicht, zehn Darsteller des Films angeblich im Moment des Orgasmus.
Und dann gab es eben auf der Berlinale diesen enormen Wirbel um die ungekürzte Fassung des Films, wobei man sagen muss, in dieser ungekürzten Fassung sind einfach nicht nur mehr pornografische Szenen zu sehen, sondern überhaupt einfach hat der Film einen anderen erzählerischen Rhythmus. Also auch da war jetzt nicht so eine große Provokation dahinter.
Und ich muss sagen, dass der Film insgesamt, ob gekürzt oder ungekürzt, eigentlich gar nicht so provozierend daherkommt, liegt eigentlich an seiner Rahmenhandlung. Denn er beginnt er ja damit, dass die Hauptfigur, gespielt von Charlotte Gainsbourg, die spielt die Heldin Joe, dass die gefunden wird in einem Hinterhof, verletzt, und dann von einem älteren Herrn aufgelesen wird, das ist Stellan Starsgard, der spielt diesen Herrn Seligmann. Der nimmt diese Frau, so Ende 40 ist die, mit nach Hause und kocht ihr erst mal einen Tee, und dann fordert er sie auf zu erzählen, was ist denn eigentlich passiert. Und sie beginnt dann eben, ihre Geschichte zu erzählen, die Geschichte einer Nymphomanin, einer Sexbesessenen, und letztlich entsteht dann in dem Film erst mal so ein therapeutischer Raum.
Jemand versucht sich über eine Sucht klarzuwerden. Diese Sucht hat auch eine bestimmte Struktur, und diese Struktur wird dann in Rückblenden, in diesen Erzählungen, auch sehr klar. Und durch diesen Rahmen, durch dieses Narrativ, bekommen dann auch diese pornografischen Szenen, die man provozierend finden könnte, eigentlich was gar nicht Provozierendes. Es sind einfach erzählte Erinnerungen, in einem therapeutischen Raum.
Wie das Werk gedeutet werden kann
Hanselmann: Klingt vergleichsweise harmlos. Wie würden Sie den Film interpretieren? Wie kann man dieses monumentale Werk deuten?
Nicodemus: Ja, das ist natürlich eigentlich ein großer Diskursfilm erst mal, ein Monolith. Das war ja eigentlich auch die Absicht von Lars von Trier, mein Gott, fünf Stunden über Sex und Sexualität. Und ich hab diesen Film erst mal eigentlich als eine große Fragestellung oder Befragung gesehen, denn er stellt ja wirklich große Fragen: Was bleibt zum Beispiel von der sexuellen Revolution in den Zeiten, wo die sexuelle Revolution eigentlich alle Hindernisse überwunden hat? Also die Schuld- und Moralbegriffe der Kirche, die spießige bürgerliche Ideologie. Eben auch die Fortpflanzungsideologie – sie hat sich eigentlich auch aus dem Klammerbegriff des Religiösen, von jeder Romantik eigentlich auch befreit, von metaphysischen Deutungen, und jetzt sind wir da mit der Sexualität.
Und die Frage ist natürlich auch, was wir damit anfangen, mit dieser letztlichen Sinnenleere. Und die Charlotte Gainsbourg, deren Heldin Joe, die irrlichtert ja durch diesen Film auf einer Suche, und sie verkörpert eigentlich alle diese Fragen, und sie stürzt sich eben in hemmungslosen Sex in Serie, und sie huldigt sozusagen dem Fetisch Sexualität und sucht eigentlich doch nach etwas anderem. Ich weiß nicht, ob es Romantik ist, teilweise könnte man auch sagen, es ist so ein kosmisches Empfinden. Das wird durch die Musik in dem Film immer wieder klar gemacht. Da wird sehr viel Mozart, sehr viel Bach ist da zu hören. Was aber diese Heldin letztlich findet, ist Sex ohne Liebe und Liebe ohne Sex. Und das finde ich erst mal ein interessantes Statement in unserer Zeit.
Hanselmann: Der Film heißt dennoch "Nymphomaniac", also da steckt ja die Manie drin, da steckt die Sexsucht drin. Wie setzt er, also Lars von Trier, diese filmisch um?
Nicodemus: Ja, das ist eigentlich sehr interessant. Er ist ja ein meisterlicher Inszenierer, eigentlich in all seinen Filmen. Er findet ja auch immer wieder unterschiedliche Formen, und auch hier ist es so, dass die Machart und der Rhythmus ganz unterschiedlich sind in dem Film. Teilweise ist die Kamera wie so ein Amateurporno, der so dann über die Geschlechtsteile streift, die Kamera, das Objektiv; dann wieder gibt es wirklich fast hollywoodhaft ausgeleuchtete, sehr schöne Bilder. Dann gibt es zum Beispiel ein langes Kapitel, in dem die junge Heldin, als junge Frau eben, da wird sie noch gespielt von Stacy Martin, in dem Kapitel empfängt sie in einer Nacht glaube ich zehn oder sind es zwanzig Liebhaber. Und dann teilt sich der Bildschirm oder die Leinwand eben auf in zehn Kästen, wo man ständig dann Sex sieht. Also es hat dann eben auch was Absurdes in dieser Übertreibung, in dieser Rhythmisierung des Sex.
Und man muss auch sagen, auch inhaltlich findet er eine interessante Form, denn dieses Gegenüber, dem Joe, die Heldin, ihre Sexsucht erzählt, dieser Herr Seligmann, das ist ein sehr gebildeter Mensch, der kennt sich aus in Musik, in Botanik, in Literatur, in Musikgeschichte, Religionsgeschichte. Und all diese Bezüge, die blendet der Lars von Trier dann teilweise auch so ein bisschen bildungsbürgerlich in die Sexszenen ein oder macht das dann mathematisch, drei mal zwei, in verschiedenen Stellungen und so weiter. Das finde ich eben sehr lustig.
Und sehr lustig ist zum Beispiel auch einmal, wenn dann die Heldin ihre Liebhaber in den Vergleich der Zoologie überführt und dann so analysiert: Knochenbau, Paarungsverhalten. Der eine ist wie ein Löwe, der andere ist wie ein Bär. Man sollte vielleicht nicht unterschlagen, von der Form gibt es eben auch sehr viel Spielerisches und sehr viel Lustiges in diesem Film.
Warum es trotzdem pornografische Bilder sind
Hanselmann: Trägt komische Züge. Hört sich so an. Erst mal ganz kurz: Sind es denn nun pornografische Bilder oder nicht. Weil, ich möchte gerne von Ihnen wissen, Sie kennen ja die Geschichte von Lars von Trier und von seinen Filmen – ist da irgendwo was zwangsläufig daran, dass er das jetzt bringt?
Nicodemus: Also es ist so: Es sind auf jeden Fall der Definition nach pornografische Bilder. Wenn Geschlechtsteile in einer bestimmten offenen Form auf der Leinwand zu sehen sind, wenn die nicht nur angedeutet sind, dann ist es einfach Pornografie. Das muss man schon sagen.
Hanselmann: Und wie ordnet sich das ein in das Werk von Lars von Trier?
Nicodemus: Also man kann, glaube ich, das Werk von Lars von Trier wirklich nur sehr schwer betrachten, wenn man nicht den Neurotiker Lars von Trier zumindest mitdenkt. Das geht, glaube ich, gar nicht anders. Er hat sich ja immer wieder obsessiv an den eigenen Obsessionen abgearbeitet, und man weiß zum Beispiel, dass seine Mutter da eine große Rolle spielt. Das sagt er auch immer wieder in Interviews. Und die Rolle dieser Mutter an diesen Obsessionen ist nicht – darüber kann man vielleicht nur spekulieren. Aber Tatsache ist, dass er diese Neurosen stets an weiblichen Helden abarbeitet. Das war ja zum Beispiel in "Dogville" mit Nicole Kidman so.
In seiner Kindheit hat die Nächstenliebe als Begriff eine wichtige Rolle gespielt, von seiner Mutter vermittelt, und da hat er dann in "Dogville" den Begriff der Nächstenliebe so in die Perversion, ins Extrem getrieben. In "Antichrist" hat er sich mit weiblicher Hysterie befasst, in "Melancholia" mit seiner eigenen Depression, auch wieder mit zwei Heldinnen. Und jetzt, muss man sagen, geht es um die Folgen der sexuellen Revolution, und da zeigt er eben, was die bewirkt hat, eben sinnentleerten Sex, sagt er. Und wie begegnet man dem? Indem man diesen sinnentleerten Sex eben bis zum Exzess zeigt.
Im Grunde ist das dann Exorzismus durch Wiederholung, eben auch ein therapeutisches Verfahren, und ich hab manchmal das Gefühl, dass das Kino sozusagen von Lars von Trier für seine eigene Therapie eigentlich –
Mit Lars von Trier auf der Couch
Hanselmann: Selbsttherapie.
Nicodemus: Selbsttherapie. Dass wir uns da sozusagen mit ihm auf die Couch legen.
Hanselmann: Es scheint ja sowieso immer wieder das Bedürfnis zu geben im Autorenkino, pornografisch oder zumindest mit Sexszenen zu arbeiten. Vor nicht allzu langer Zeit lief der letztjährige Cannes-Gewinner: "Die Geschichte der Adèle". Hier ging es um eine lesbische Liebesgeschichte, und auch hier wurden ja explizite Liebes- und Sexszenen eingearbeitet und gezeigt. Wie erklären Sie sich dieses Interesse der Filmemacher?
Nicodemus: Ich glaube, es ist ja letztlich so eine Art, kann man sagen, anthropologische Konstante des Kinos. Also der große Japaner, der Nagisa Oshima, hat ja 1971 den Film "Im Reich der Sinne" gedreht, da geht es eben auch um eine Obsession. Mann und Frau sind so sexuell voneinander besessen, das endet dann in Tod und Kastration. Und der hat gesagt, eigentlich träumt jeder Regisseur davon, den Sex zu zeigen und den Tod zu dokumentieren.
Und ich habe so das Gefühl, alle zehn, fünfzehn Jahre gibt es eben so einen Meilenstein, so einen Film, der eben so etwas über den sexuellen Diskurs seiner Zeit sagt. Das war zum Beispiel für mich ganz wichtig, Mitte der 90er-Jahre die Filme von Catherine Brejat, "Romance". Da hat sie auch eine junge Frau, so ein bisschen ähnlich jetzt, Charlotte Gainsbourg hat sie da durch eine abgründige Reise durch ein fast surreales Abenteuer geschickt. Oder wenn man denkt an "Intimacy" von Patrice Cherau, zwei Menschen treffen sich, zwei wildfremde Menschen treffen sich nur zum Sex, und sobald dieser Sex ihnen eine andere Art von Intimität gibt, wird er beendet.
Und bei "La Vie d'Adèle" ging es eben um eine große Leidenschaft, der im vergangenen Jahr im Kino zu sehen war, zwischen zwei Frauen, und diese Leidenschaft musste eben gezeigt werden, um auch zu zeigen, woran diese Liebe scheitert, nämlich an der unterschiedlichen Herkunft der beiden Frauen. Und ich glaube, wenn Autorenfilmer klug sind, dann ist Pornografie immer – dann kann sie einfach nicht nur pornografisch sein, sondern wird dann eigentlich immer zum Diskurs, wie auch in "La Vie d'Adèle".
Hanselmann: "Nymphomaniac" war nicht der einzige Film auf der Berlinale, bei dem es um Sex und Sexualität ging. Wie sehen Sie die anderen Regisseure und Regisseurinnen? Mit welcher Haltung gehen die daran?
Nicodemus: Ich fand, es gab auf der Berlinale zwei Filme, die da besonders interessant waren. Der eine war "Top Girl" von Tatjana Turansky mit Julia Humme als Sexarbeiterin, die wirklich ganz nüchterne Sexarbeiterin ist. Das geht vom Umschnalldildo bis zum Cat-Woman-Kostüm. Und es geht eben auch nicht, hat man das Gefühl, um Prostitution. Da ist kein Zuhälter dahinter, da geht es auch nicht um die Frau als Opfer, sondern wirklich um nüchterne Arbeit. Und um "She‘s lost control" von Anna Marquardt über eine Sextherapeutin in New York.
Und ich fand es schon interessant, dass wirklich Sex ganz entromantisiert und entnüchtert als Arbeit gezeigt wird, die von Frauen verrichtet wird, und die dann eben auch selbstbestimmt arbeiten. Und letztendlich hat ja auch Charlotte Gainsbourg jetzt bei Lars von Trier was Selbstbestimmtes, weil sie sich wirklich hemmungslos in diese Sucht stürzt und das sozusagen auch bis zum Exzess auslebt.
Unser Verhältnis zur Körperlichkeit
Hanselmann: Wir sind seit Jahren gewöhnt, nackte Körper überall in der Werbung, sonstwo, jetzt wird wieder diskutiert, sind Fotos von nackten Kindern schon Pornografie, dürfen die überhaupt verkauft werden und so weiter. Wird da im Kino so ein Gegengewicht gebildet zu diesen oft ausbeuterischen Bildern, die wir sehen?
Nicodemus: Ich hab wirklich das Gefühl, ja, weil als ich den Film von Lars-von-Trier-Film gesehen hab, hab ich mich wie so erleichtert gefühlt. Und ich hab neulich mal im Privatfernsehen, hab ich irgendwie Sylvester Stallone nachts gesehen, und ich hab mal gezählt, da waren 18 Sex-Anzeigen, Clips, die einem da entgegendonnern. 0190-Nummern, Frauen in Lackleder.
Und angesichts dieser Berieselung, die Sie ansprechen, im Internet, in der Werbung, überall, ich glaube schon, dass das unser Verhältnis zur Körperlichkeit irgendwie und zu Sex bestimmt, und wenn auch nur unbewusst. Und ich hab das Gefühl, dass so ein Film wie jetzt der Lars von Trier, dass "Nymphomaniac" dann letztlich auch eine Ratlosigkeit formuliert und eben die richtigen Fragen stellt, und dass man sich damit vielleicht nicht so alleine fühlt, wenigstens das, und dass man sich an diesem Diskurs irgendwie ein bisschen orientieren kann. Mir ging es so, ich war wirklich erleichtert.
Hanselmann: Vielleicht wollen wir ja jetzt auf Jahre hinaus überhaupt keine Nacktszenen mehr sehen. Das könnte ja auch passieren. Vielen Dank, Katja Nicodemus über "Nymphomaniac", den neuen Streifen von Lars von Trier. Katja Nicodemus, "Zeit"-Filmkritikerin, danke schön!
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