Die bemerkenswerte Geschichte eines Klassikers
Amerikanische Folksongs und deutsche Weihnachtslieder haben mehr miteinander zu tun, als es auf den ersten Blick scheint. Über die globale Geschichte von "O du fröhliche".
Wie die Menschen dieser Welt, so ist auch Musik schon immer auf Reisen – und zeugt oft von jahrhundertealten Verwandtschaftsverhältnissen. Auch hinter den zuckersüßen Streichern und Kinderchor-Arrangements, die einem in den Einkaufspassagen als feierliche Kaufreiz-Begleitmusik entgegen dudeln, steckt eine Geschichte, die von sizilianischen Seefahrern bis zur Sklaverei in den USA, von einem trauernden Vater in den Wehen der napoleonischen Kriege bis zur Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre erzählt.
Ein Lied auf dem Seeweg Richtung Norden
"O sanctissima", eine katholische Hymne, kam ursprünglich aus Sizilien und gelangte sozusagen auf dem Seeweg Richtung Norden. Die einfache Melodie mit dem lateinischen Text wurde von Seefahrern des Abends gesungen als Huldigung ihrer mütterlichen Schutzpatronin, der Jungfrau Maria – und landete sowohl in Deutschland als auch in England, wo das Lied unter anderem in der Zeitschrift London Review zum ersten Mal notiert wurde, das war im Jahr 1792.
Hier in England wurde die Melodie mit neuen Texten weiterhin in kirchlichen Zusammenhängen verwendet, unter anderem als Rezessionslied "Lord Dismiss Us With Thy Blessing".
In Deutschland nahm der Weimarer Dichter Johann Gottfried Herder Anfang des 19. Jahrhunderts den Song in seiner Sammlung "Stimmen der Völker in Liedern" auf. Und genau hier, nämlich in Weimar, entstand "O du fröhliche", und zwar unter hoch dramatischen Umständen. Hier herrschten Elend und Krankheit als Folge der napoleonischen Kriege, der theologische Schriftsteller und Kirchenlieddichter Johannes Daniel Falk verlor vier seiner sieben Kinder durch die in Weimar grassierende Typhusseuche.
Leid in Trost verwandeln
Er beschloss, sein Leid in etwas Positives zu verwandeln, und gründete das "Rettungshaus für verwahrloste Kinder", bis heute ein Vorbild für ähnliche karitative Einrichtungen.
Für die aufgenommenen Kinder schrieb er Weihnachten 1816 ein trostspendendes Lied: "O du fröhliche".
Die Melodie hatte Falk – wie schon gesagt – aus Herders Liedersammlung, eine Tonfolge, die schon in simpler Einstimmigkeit die Harmonien mitklingen läßt.
Wenn das kein Folk ist!
Was hat die Bürgerrechtshymne "We Shall Overcome" mit "O du fröhliche" zu tun? Ganz einfach: Beide Songs haben in der ersten Strophenhälfte dieselbe Melodie. Das lateinische "O sanctissima" war zusammen mit Einwanderern auch nach Amerika gelangt und fand dort u.a. seinen Weg in afroamerikanische Gemeinden. Spirituals waren ja oft die musikalische Grundlage für Protestsongs, und so tauchte 1946 "We shall overcome" zum ersten Mal auf, gesungen von streikenden Arbeitern in South Carolina, gegen die American Tobacco Company. Wenig später erschien es im "People's Songs Bulletin", einer Sammlung von Widerstands- und Arbeiterliedern.
Einer der Herausgeber war Folksänger Pete Seeger, dessen Version im Hintergrund noch läuft.
Folk: Vermischung verschiedener Tunes
Ein typisches Folk-Phänomen ist ja auch die Vermischung verschiedener Tunes zu einem neuem. Wo und wie das genau passierte, ist meist nicht zu sagen. Jemand fängt mit einer Melodie an, ein Anderer singt eine zweite dazu, möglicherweise, funktioniert das Ganze so besser mit dem Text zusammen. "We Shall Overcome" ist so ein Hybrid, die zweite Strophenhälfte stammt von einem anderen Gospelsong.
Aber die Reise geht noch weiter: Derselbe Melodiestrang wie bei "O du fröhliche" bzw. "We Shall Overcome" tauchte in Amerika noch früher auf, und zwar in einer Sammlung sogenannter "Negro"- Spirituals. Darin zu finden war der Song "No More Auction Block For Me", ein Song gegen die Sklaverei. Der "Auction Block" diente als Podest, auf dem die zum Kauf angebotenen Sklaven stehen mussten, um gesehen zu werden. Auch hier spielt das ursprüngliche "O sanctissima" höchstwahrscheinlich eine impulsgebende Rolle.
Der Song wurde wiederum an die hundert Jahre später von Bob Dylan aufgegriffen.
Von "O du fröhliche" bis "No More Auction Block For Me", den römisch-katholischen Kirchengemeinden Siziliens bis hin zu Bob Dylan ist es zugegebenermaßen eine weite Reise, die man durchaus auch als Spiegel der fortwährenden Migrationsbewegungen von Menschen zu allen Zeiten lesen kann.
Etwas, über das es sich gerade heutzutage in der Weihnachtszeit lohnt, nachzudenken.