"O" wie Sauerstoff

Von Irene Meichsner |
Wissenschaftlicher Fortschritt ist auch eine Frage der gelungenen Kommunikation: Die Forscher müssen sich auf eindeutige Begriffe verständigen. In der Chemie herrschte in dieser Hinsicht bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts ein heilloses Durcheinander. Der Schwede Jörn Jakob Berzelius sorgte vor 200 Jahren dafür, dass man sich auf eine eindeutige Schreibweise einigte.
Generationen von Schülern sind an den chemischen Formeln schon verzweifelt. Die Chemiker selber bewegen sich in ihrer Symbolsprache so locker wie die Mathematiker in ihren Zahlenkolonnen. Jedes Element hat sein eigenes, eindeutiges Kürzel. Der Buchstabe "O" bedeutet zum Beispiel Sauerstoff oder auf Latein: "Oxygenium". "H" meint Wasserstoff oder "Hydrogenium". Die Erfindung dieser Zeichensprache ist dem 1779 geborenen Schweden Jöns Jakob Berzelius zu verdanken, einem der einflussreichsten Chemiker seiner Zeit. Berzelius war Chemieprofessor an der medizinischen Fakultät der Universität von Stockholm. Bei der Überarbeitung des schwedischen Arzneibuches wurde ihm bewusst, welches begriffliche Chaos damals herrschte. In einem auf Französisch erschienenen "Essay über die chemische Nomenklatur" klagte er im Herbst 1811:

"Dieselben Substanzen haben so unterschiedliche Namen, wie es Arzneibücher gibt. Oft ist es sogar so, dass völlig unterschiedliche Substanzen dieselben Namen haben."

Berzelius fand, es sei höchste Zeit, eine eindeutige Nomenklatur zu schaffen und empfahl dafür das altbewährte Latein.

"Ich wünsche gewiss nicht, dass die Zeit zurückkehre, wo die Gelehrten sich in ihren Schriften ausnahmslos der lateinischen Sprache bedienten. Selbst die Gelehrten aber brauchen gewisse allgemein bekannte Benennungen, auf welche die wissenschaftlichen Ausdrücke der verschiedenen Sprachen sich zurückführen lassen, und für solche allgemeine Benennungen ist keine Sprache geeigneter als die lateinische."

Gold nannte er "Aurum", Silber "Argentum", Quecksilber "Hydrargyrum". Aber das war nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer verbindlichen Ausdrucksweise. Der zweite betraf die Schreibweise der Elemente. Nach der Begründung der modernen Chemie durch Antoine Laurent de Lavoisier hatten dazu schon mehrere Herren Vorschläge unterbreitet. Der Engländer John Dalton, der 1803 das Atom als kleinste Einheit der Materie definierte, führte für die Elemente zum Beispiel verschiedenartig gestaltete Kreise ein. Andere zeichneten Kreuze, Triangeln oder kunstvolle Bogenlinien. Berzelius, der selber drei neue Elemente entdeckte, fand diese geometrischen Formen, die noch an die Symbole der Alchemisten anknüpften, viel zu unhandlich und unübersichtlich. Ende 1813 präsentierte er in einer Fußnote und Anfang 1814 in einem längeren Beitrag für die englischen "Annalen der Philosophie" sein eigenes viel einfacheres Konzept.

"Die chemischen Zeichen sollen Buchstaben seyn, um das Schreiben zu erleichtern und ein gedrucktes Buch nicht zu entstellen. Ich will daher als chemisches Zeichen den Anfangsbuchstaben des lateinischen Namens eines jeden elementaren Stoffes nehmen."

"S" bedeutete "Sulphuricum", das lateinische Wort für Schwefel. Hatte ein anderer Stoff denselben Anfangsbuchstaben, fügte Berzelius den zweiten Buchstaben hinzu: "Si" war sein Kürzel für "Silicium". Durch das Hinzufügen der Anzahl der Atome – anfangs in Form von Punkten, später als Zahlen - ergab sich die Formel für ein Molekül. Bekanntestes Beispiel: H2O, der chemische Ausdruck für Wasser, das aus zwei Wasserstoff-Atomen und einem Sauerstoff-Atom besteht. Die Reaktionen zwischen den Molekülen ließen sich in Gleichungen abbilden. Damit, so Berzelius, sei diese künstliche Sprache imstande,

"das numerische Resultat einer Analyse so einfach und auf eine so leicht zu behaltende Art auszudrücken, als solches durch die algebraischen Formeln in der Mechanik geschieht."

Obwohl die Vorteile dieser Zeichensprache auf der Hand lagen, dauerte es noch eine Weile, bis sie sich in allen europäischen Ländern durchsetzte. Vor allem in England wurde darüber noch heftig gestritten, bevor sich ein Ad-Hoc-Komitee 1835 für die Symbolsprache von Berzelius entschied. Sie hat sich, von kleineren Änderungen abgesehen, bis heute erhalten.

"Auch wenn die Schüler in aller Welt unter den ‚schrecklich komplizierten' chemischen Formeln stöhnen,"

schrieb der Chemiker Ernst Schwenk in seinem Buch über die "Sternstunden der frühen Chemie",

"einfacher ist eine gegebene chemische Reaktionsgleichung nicht auszudrücken."