OB-Wahl in Stuttgart

Einen klaren Favoriten gibt es nicht

10:03 Minuten
Zahlreiche Wahlplakate für die Oberbürgermeisterwahl am 8. November 2020 sind in Stuttgart zu sehen.
Chancen auf den OB-Sessel in Stuttgart haben den Umfragen zufolge gleich fünf Bewerber. © imago images / Arnulf Hettrich
Von Katharina Thoms |
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Am Sonntag wählt Stuttgart den neuen Oberbürgermeister. Es geht um viel: Jobs, den Wandel der Autoindustrie, hohe Mieten, Verkehrsprobleme. Wer die Stadt in Zukunft lenken wird, ist völlig offen. Und: Die Wahl ist anders als alle bisherigen.
In der Stuttgarter Schleyer-Halle, drei Wochen vor der Oberbürgermeisterwahl: Zwei Besucherinnen stehen etwas verloren im schummrigen Licht. "Ganz fremd, ganz unwirklich. Ich war letztes Jahr bei Herbert Grönemeyer hier, war ein bisschen was anderes", meint die eine.
Die Stuhlreihen und Ränge sind nur spärlich besetzt. 250 Menschen haben ein Ticket ergattert - dort, wo sonst 15.000 Menschen tanzen. Für die offizielle Kandidatenvorstellung der Stadt. Corona bestimmt den OB-Wahlkampf in Baden-Württembergs Landeshauptstadt. Die meisten Veranstaltungen finden mit wenig bis keinem Publikum statt. Dafür mit Kamera und Livestream.
"Die Aufzeichnung wird bis zur Wahl, also bis zum 8. November, auf der städtischen Internet-Homepage stehen."
Selten war die Wahl hier so offen. 14 Menschen bewerben sich. Einen eindeutigen Favoriten oder Favoritin gibt es nicht. Chancenreich sind, je nach Umfrage, fünf von ihnen. Der Stadtrat und Stuttgart-21-Gegner Hannes Rockenbauch: sehr öko, sehr links.
"Jetzt braucht es an der Stadtspitze jemand, der einen Plan für Stuttgart hat. Derjenige, der dort als Einziger die wissenschaftliche Erkenntnis Klimaneutralität bis 2030 umsetzt, ist der Rockenbauch."
Dann gibt es gleich zwei Kandidaten mit SPD-Parteibuch. Der offizielle: Martin Körner. Und Marian Schreier, der gegen den Willen seiner Partei antritt.
Körner* findet es wichtig, "dass wir gemeinsam für eine menschliche Stadtgesellschaft streiten". Für den Oberbürgermeister sei es die wichtigste und vornehmste Aufgabe, dieses Verbindende zu betonen und nach vorne zu stellen.
"Ich bin gelegentlich in diesem Wahlkampf gefragt worden: Sag mal, mit 30 Jahren, bist du da nicht etwas jung für das Oberbürgermeisteramt in Stuttgart?", sagt Schreier*.
Immer etwas weiter vorn in den Umfragen: der CDU-Mann und die Grünen-Bewerberin. "Letztlich kann nur eine prosperierende Wirtschaft einen nachhaltigen Umwelt- und Klimaschutz finanzieren." – "Die allererste Oberbürgermeisterin nach 800 Jahren Geschichte der Stadt. Ich wünsche mir überhaupt mehr Frauen in Führungspositionen."

Strukturwandel und wenig bezahlbare Wohnungen

Jeder vierte, jede vierte Wählerin ist noch unentschlossen. Dabei geht es um viel. Die Autoindustrie steht vor dem größten Wandel ihrer Geschichte. Bleiben Jobs und Reichtum? Wohnungen sind knapp. Und dann sind da ja noch Staus und Stickoxide, Fahrverbote: Der viele Verkehr bleibt ein Problem.
"Da ist nur noch Beton, Stein und nichts Grünes, Verkehrstempo 40. Keiner hält sich dran", sagt jemand am Wahlkampfstand der Grünen Veronika Kienzle. "Stuttgart ist einfach nicht mehr lebenswert." Sie entgegnet: "Na also, da sind sie jetzt schon sehr streng."
Veronika Kienzle, Ende 50, steht da, mit Abstand und Maske: ruhig und zugewandt. Die Frau mit den langen blonden Haaren ist eher nicht die Frau der großen Bühne. Hauptberuflich organisiert sie Bürgerbeteiligungen für die grün geführte Landesregierung. Kienzle macht das auch zu ihrem Wahlkampfthema.
"Wir können, strategisch und auch finanziell hinterlegt, die wunderbarsten Klimaschutzpakete schnüren", sagt sie. "Wenn wir sie nicht begreifbar machen, dann werden wir sie immer mit falschen Attributen, mit defizitären Gedanken – wie: Da will mir jemand was verbieten – in Verbindung setzen." Es brauche eine positive Einstellung zu diesen Themen. "Und das erreichen wir nur mit der Zivilgesellschaft."

Stolperstart für die Grünen

Die Grünen haben in Stuttgart die Mehrheit im Gemeinderat. Dass Kienzle trotzdem nicht klar vorn liegt, hat sie auch dem bisherigen OB, dem Grünen Fritz Kuhn, zu verdanken. Er hat viele enttäuscht. Auch in der Partei. Vor allem seine überraschende Ankündigung Anfang des Jahres, nicht wieder antreten zu wollen. "Also, ich glaube, da war niemand so richtig vorher eingeweiht oder vorbereitet darauf."
Der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) während einer Veranstaltung am 25.04.2016 in Stuttgart (Baden-Württemberg).
Kandidiert nicht mehr: Fritz Kuhn, Stuttgarter Oberbürgermeister.© picture-alliance/ dpa/ Franziska Kraufmann
Ein Stolperstart in die Wahl. Statt Amtsinhaberbonus hektisches Kandidaten-Suchen. Wochenlang gab es Absagen von bekannten Stuttgarter Grünen wie dem Bundespolitiker Cem Özdemir oder Landtagspräsidentin Muhterem Aras. Dann kam die Bezirksvorsteherin Kienzle.
"Und deshalb wurde ich gefragt, ich habe gleich ja gesagt. Insofern, sage ich Ihnen ganz offen, fühle ich mich als erste Wahl."

Zwei Knopper vom CDU-Kandidaten Nopper

Auch die CDU hat sich schwer getan mit der Bewerbersuche. Und dann einen Oberbürgermeister aus der Region gekürt. Der ist auf Wahlwerbetour: "Hallo, ich begrüße Sie. Die Dame! Den Corona-Willkommensgruß. Darf ich Ihnen das verehren? Ein Prospekt. Und zwei Knopper vom Nopper."
Frank Nopper verteilt seine Schokowaffeln im Wahlkampf meist im Anzug. Gern blaue Nadelstreifen. Die grauen Locken zurück gegelt, das breite Lachen versteckt unter der Maske mit seinem Namen eingestickt.
Schnell weiter. Dabei hatte er es gar nicht so eilig, aus seiner Kreisstadt Backnang wegzukommen. Seit 18 Jahren ist er dort gern Stadtoberhaupt. Die Menschen dort haben ihn schon drei Mal gewählt. Aber: "Ich bin in Stuttgart geboren und aufgewachsen. Ich bin Stuttgarter vom Scheitel bis zur Sohle."
Für die CDU die große Hoffnung, dass die acht Jahre mit einem Oberbürgermeister der Grünen nur ein Ausrutscher waren. Sicher und sauber müsse Stuttgart wieder werden. Repression und Prävention. Beim umstrittenen Verkehrsthema, sagt Nopper, müsse es dagegen versöhnlicher zugehen. "Wir brauchen meines Erachtens einen Mobilitätsfrieden zwischen den verschiedenen Verkehrsteilnehmern."
Aber den Autos die Straßen wegnehmen? Zurückbauen, für Fußgänger und Radfahrende, wie es die anderen links der Mitte fordern? Das lehnt er ab.
"Jetzt gibt es einen radikalen Gegenentwurf, das ist die autofreie Innenstadt mit einem radikalen Ansatz. Das halte ich für einen wirklichkeitsfremden Irrweg. Ich glaube, der richtige Ansatz ist die menschengerechte Innenstadt. Mit dem Auto der Zukunft, Elektromobil, mit Wasserstoff angetrieben – oder vielleicht auch von einem Verbrennungsmotor getrieben, der mit grünen Kraftstoffen betankt wird."

Mitte-Links-Kandidaten mit minimalen Unterschieden

Die autofreie City ist in Stuttgart längst beschlossene Sache – umgesetzt ist sie noch nicht. Als Bezirksvorsteherin** in der Stadtmitte macht sich Veronika Kienzle seit Jahren dafür stark.
"Deshalb müssen wir den ÖPNV ausbauen. Wir müssen die Taktzahlen erhöhen. Wir müssen schauen, dass wir da, wo wir noch einen Wagen dranhängen können, das auch machen."
Und damit liegt die Grüne sehr nah bei den anderen Mitte-Links-Kandidaten. Die Unterschiede? Die Geschwindigkeit des Umbaus, die Radikalität. Der ökosoziale Hannes Rockenbauch will Bus und Bahn kostenlos machen. Martin Körner, SPD-Fraktionschef im Stuttgarter Gemeinderat, will soweit nicht gehen.
"Mein Ziel ist ein 365-Euro-Jahresticket, und zwar für das ganze Verbundgebiet. Das können wir seriös schrittweise machen, aber nicht auf einen Schlag."
Immerhin ist der Stadt eine Tarifreform gelungen. Einfacher, billiger sind Bus und Bahn geworden. Daran hat auch Körner Anteil. Aber klar ist: Für eine große Verkehrswende reicht das nicht. Der SPD-Mann in Jeans und dicker Herbstjacke verteilt Rosen auf dem Wochenmarkt. Und hat ein Problem – denn Körner ist nicht der Einzige aus der SPD im Wahlkampf.
Der andere SPDler kommt an, auch wenn sein Parteiamt für den Wahlkampf ruhen muss. Mit 30 Jahren der jüngste Kandidat und schon Bürgermeister einer Kleinstadt. "Der Junge kann das", ist sein selbstironischer Slogan. Noch jemand, der mitte-links viele Stimmen für sich beansprucht.

Teuerste Großstadt in Deutschland

"Wie gehen wir mit Grund und Boden um?", fragt Marian Schreier. "Denn die Erfahrung vieler europäischer Großstädte von Wien bis Zürich zeigt, dass ein Teil des Wohnungsmarktes der Spekulation entzogen sein muss, wenn Mieten sinken sollen."
Eine städtische Stiftung will Schreier dafür gründen. Denn Stuttgart ist seit Kurzem teuerste Großstadt in Deutschland, im bundesweiten Mietspiegelvergleich vor München. Bezahlbare Wohnungen fehlen.
Menschen gehen über die Königstraße und den Schlossplatz.
Teuerste Großstadt: In Stuttgart sind vor allem günstigere Wohnungen knapp.© Marijan Murat/dpa
"Ich finde, wir müssen zurückkaufen, auf Deutsch gesagt: wieder Land gewinnen", so Kienzle.* "Wir brauchen wieder Grundstücke."
"Ich habe auf meinen Rundfahrten durch alle Stadtbezirke, überall wirklich Garagenlandschaften gesehen, wo ich mir sehr gut vorstellen kann, dass man aufstockt, dass man dort darauf baut.
Stuttgarts Problem: Viele schon geplante Wohnungsbauprojekte hängen an anderen. Wann wird Stuttgart 21 fertig – damit auf den Bahngleisen ein neues Stadtviertel gebaut werden kann? Und ziehen die US-Soldaten wirklich ab, damit ihre Quartiere zu Wohnungen werden können?
Am Wohnungsbau wird der oder die nächste OB gemessen werden. Wer diese Versprechen einlösen muss, ist völlig offen. Voraussichtlich werden sich die Menschen in Stuttgart zwei Mal entscheiden müssen. Erst in der zweiten Wahlrunde wird ein klares Ergebnis erwartet. Überraschungen nicht ausgeschlossen.
*An dieser Stelle haben wir die Zuordnung des Zitats korrigiert.
** An dieser Stelle haben wir die Bezeichnung des Amtes korrigiert.
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