Zur (Un-)Möglichkeit politischen Verzeihens
Im Mai wird Barack Obama als erster US-Präsident Hiroshima besuchen. Es wird jedoch ein halbherziger Abstecher, denn eine Bitte um Vergebung wird es nicht geben. Politisch motivierte Reue hat ihre Fallstricke. Ist die Verweigerung Obamas also nachvollziehbar?
Als erster US-amerikanischer Präsident wird Barack Obama Hiroshima besuchen. Jenen Ort, an dem US-Streitkräfte 1945 eine Atombombe abwarfen, die 140.000 Menschen tötete. Noch im Mai, unmittelbar nach dem G7-Gipfel in Japan, werde die "historische Visite" stattfinden, so ein Sprecher Obamas, um sogleich klarzustellen: Auf keinen Fall sei der Besuch des amerikanischen Staatsoberhaupts als eine Bitte um Vergebung zu verstehen. Barack Obama unternehme keine Entschuldigungstour, sein Interesse gelte nicht der Vergangenheit, sondern einer Zukunft ohne Nuklearwaffen.
Wie aber ist diese Klarstellung zu bewerten? Ist es nicht schlicht feige, dass die Amerikaner auch 71 Jahre nach dem grausamen Massenmord an vollkommen unschuldigen Menschen nicht den Mumm haben, um Entschuldigung zu bitten? Gewiss, Hiroshima lässt sich nicht mit dem Holocaust vergleichen. Aber was, könnte man fragen, ist Obamas halbherziger Abstecher nach dem G7-Gipfel gegen den unvergesslichen Kniefall Willy Brandts vor dem Warschauer Ghetto im Jahre 1970? Bedarf es nicht einer solchen Demutsgeste, damit die Visite des amerikanischen Präsidenten tatsächlich mit Fug und Recht "historisch" genannt werden kann?
Wiedergutmachung statt Entschuldigung
Oder nehmen wir, um die Latte nicht allzu hoch zu hängen, Joachim Gaucks Besuch im griechischen Dorf Lingiades. 2014 bat er die Bewohner um Vergebung dafür, dass deutsche Wehrmachtssoldaten 83 Menschen im Zuge einer Vergeltungsaktion ermordeten. Sollte sich Obama nicht wenigstens an Gauck ein Beispiel nehmen?
Dass allerdings politische Vergebensakte durchaus eine Schlagseite haben, zeigte sich nicht zuletzt in Lingiades. Die Bevölkerung kam der Bitte des Deutschen nämlich nicht nach. Kaum hatte der Bundespräsident den Ort des Schreckens wieder verlassen, wurden Transparente ausgerollt: "Wiedergutmachung" stand dort in großen Lettern geschrieben. Mit welchem Recht sollten die Lingiader auch vergeben, wenn die eigentlichen Opfer tot sind? Und wären handfeste Reparationszahlungen an das krisengeschüttelte Griechenland nicht viel hilfreicher und angemessener gewesen als ein schales Lippenbekenntnis?
Derrida: ein "großes Szenarium der Reue"
Der französische Philosoph Jacques Derrida weist insofern zu Recht auf die tiefe Problematik politisch motivierter Vergebung hin. Wahrhaftige Vergebung, so der jüdischstämmige Philosoph, kann sich nur unmittelbar zwischen Täter und Opfer ereignen. Sobald ein Dritter, also etwa ein Staatsoberhaupt, interveniert, kann man von Amnestie oder Versöhnung sprechen, nicht aber von Vergebung. Die Vergebung lässt sich nicht in den Dienst instrumentalisierender Zwecke stellen, die den Akt allzu leicht ins Theatralische, Berechnende, Scheinheilige kippen lassen. Die Politik der Vergebung ist, um Derridas Worte zu gebrauchen, ein "großes Szenarium der Reue".
Ist die Weigerung Obamas, um Entschuldigung zu bitten, also einfach nur aufrichtig? Das wiederum wäre ein allzu positiver, ja falscher Schluss. Was der Präsident primär verhindern will, ist ein Eingeständnis der amerikanischen Schuld. Schließlich, so das Argument, ging Hiroshima der Angriff auf Pearl Harbour voraus. Die Bombe sei das einzige Mittel gewesen, die Japaner zur Kapitulation zu zwingen. Die Amerikaner hatten also keine Wahl? Ob, wer so argumentiert, sich wirklich überzeugend für eine Zukunft ohne Nuklearwaffen aussprechen kann – das darf, muss bezweifelt werden. Warum kann Obama nicht zur amerikanischen Schuld stehen, und zwar ohne gleich selbstreinigend um Vergebung zu bitten? Genau das wäre aufrichtig und im Mai in Hiroshima die richtige Geste.