Obama und die Neocons

Von Alan Posener |
Auf meinem Schreibtisch liegt ein Heft, herausgegeben vom John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin, das zwei Aufsätze zum Thema Neokonservatismus enthält. Beide stellen den Tod dieser intellektuellen Strömung fest. Das Heft trägt das Datum Juni 1988.
Etwas mehr als 20 Jahre später könnte man meinen, mit dem Ende der Ära Bush sei die Prognose von damals nun endlich in Erfüllung gegangen. Das wäre ein Irrtum. Im Gegenteil: Barack Hussein Obama ist der erste neokonservative Präsident der USA.

Um diese Behauptung zu verstehen, muss man begreifen, was die Neocons sind; und vor allem, was sie nicht sind. Sie sind vor allem keine Konservativen. Konservative im amerikanischen Sinn misstrauen dem Staat, sind für niedrige Steuern, möglichst kleine Bürokratien und möglichst wenig Regulierung. Außenpolitisch neigen Konservative - nennen wir sie Paläokonservative, um sie von den Neokonservativen zu unterscheiden - zum sogenannten Realismus. Das heißt zur Wahrung amerikanischer Interessen durch eine Politik der Machtbalance auf der Basis amerikanischer militärischer Macht.

Ihre Ikone ist der Macchiavellist Henry Kissinger. Moralisch grundierte Konzepte wie "Nation Building" und Demokratieexport sind ihnen ein Gräuel. All das muss zwar nicht bedeuten, dass man außerdem ein "social conservative" ist. Die Neocons aber stellen diese konservativen Grundsätze in Frage.

Anders als die Paläokonservativen haben die Neocons kein Problem mit "big government". Konservative glauben, dass die Menschen ohne Einmischung des Staates schon das Richtige tun werden. Neocons halten das für naiv. Amerikanische Linke glauben, die Menschen würden schon das Richtige tun, wenn der Staat ihnen die Existenzsorgen abnimmt.

Das halten die Neocons für eine Einladung zum Sozialbetrug. Wie ihr Mentor Leo Strauss weisen sie einem aktiven Staat die Rolle zu, die Menschen zu moralischem Verhalten zu erziehen. In diesem Sinne war Gerhard Schröders "Agenda 2010" so etwas wie ein neokonservatives Programm. Außenpolitisch sind die Neocons Anhänger des Demokratieexports und entschiedene Gegner der sogenannten Realpolitik.

Der große Demokratische Präsident Woodrow Wilson wollte die Welt für die Demokratie sicher machen. Die Neocons wollen die Welt durch die Demokratie sicher machen. Wie die Linke glauben sie, dass Macht ohne Idealismus abstoßend wirkt; wie die Rechte wissen sie, dass Idealismus ohne Macht lächerlich ist. Die Neocons sind, in den Worten eines ihrer intellektuellen Väter, Linke, die von der Realität eins in die Fresse bekommen haben.

Und nun Obama. In seiner Antrittsrede betonte er die Notwendigkeit, "ausgelaugte Dogmen" zu überwinden: "Die Frage lautet nicht mehr, ob unsere Regierung zu groß oder zu klein ist, sondern ob sie funktioniert."

Und sie funktioniere, so Obama, wenn sie die Rückkehr zu alten Werten und Tugenden fördere. Das ist reinster Neokonservatismus.

In der Außenpolitik betont Obama genauso wie George W. Bush den Universalismus amerikanischer Ideale. Er ist dem Sieg der Freiheit in Afghanistan verpflichtet, und wenn manche davon reden, Afghanistan werde sein Vietnam, so erinnert das daran, dass auch Vietnam als ein Krieg der Linken begann - als Krieg John F. Kennedys und Lyndon Johnsons. Den Irak-Krieg, den Obama nicht aus Prinzip ablehnte, sondern weil er "dumm" war, hat er stillschweigend als gewonnen abgehakt.

Den Gegnern der USA bietet er, wie es die Liberalen wünschen, Verhandlungen an, meint aber auch, wie der Neocon-Ideologe Francis Fukuyama, dass Diktatoren und Terroristen "auf der falschen Seite der Geschichte" stehen: "Ihr könnt uns nicht überdauern, und wir werden euch besiegen", sagte Obama. Die Idee einer geschichtlichen Teleologie hin zu Demokratie und Freiheit ist für echte Konservative ein Gräuel; für Neocons ist sie ein Dogma.

Totgesagte leben länger. Und die Neocons, jene Zwitter aus linkem Idealismus und rechtem Realitätssinn, europäischer Staats- und amerikanischer Freiheitsgläubigkeit, 1988 und 2008 totgesagt, könnten paradoxerweise im Sieg Barack Obamas ihren größten Triumph erleben.

Alan Posener, Journalist und Autor, 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Seit 1999 ist er tätig für die "Welt" sowie die "Welt am Sonntag", unter anderem als Kommentarchef und Korrespondent. Posener publizierte neben Schullektüren unter anderem Rowohlt-Monografien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy. Zuletzt erschien "Das Imperium der Zukunft. Warum Europa Weltmacht werden muss".
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