Bei zehn Grad minus für die Nacht auf den Spielplatz
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In Berlin leben tausende Obdachlose. Wahrscheinlich. Wie viele genau, weiß niemand. Berlins Senat lässt die Obdachlosen nun zählen. Unterwegs durch Berlin mit Klaus Seilwinder, der erzählt, wie es läuft, wenn man auf der Suche nach einer Bleibe ist.
Auf dem Berliner Gendarmenmarkt flanieren die Touristen und die Weihnachtsbeleuchtung strahlt. Am Rand des Platzes steht ein kleiner hagerer Mann jenseits der 60 in Jeans und Kunstlederjacke mit dem Rücken zu einem historischen Toilettenhäuschen: "Hinter uns haben wir das Café Achteck. So sahen vor dem Krieg mal die Männerpissoirs aus. Und heutzutage ist es eine ganz normale Toiletteneinrichtung und das war früh immer mein Anlaufpunkt für meine Morgenhygiene. Da bin ich früh her, habe mir Hände gewaschen, Gesicht gewaschen, manchmal wenn es notwendig war, habe ich mich hier gleich rasiert und konnte so frisch gemacht in den Tag starten."
Klaus Seilwinder spricht von der Zeit zwischen 2002 und 2009, also von der Zeit, als er in Berlin auf der Straße lebte. In seinem Gesicht haben die Zeit der Obdachlosigkeit und der Alkohol deutliche Spuren hinterlassen. Vor ihm steht eine Gruppe Stipendiaten der Konrad Adenauer Stiftung. Junge gutangezogene und ehrgeizige Menschen, die vielleicht mal Karriere machen – und später mal mitentscheiden, wie man umgehen sollte mit dem Thema Obdachlosigkeit. Deshalb haben sie sich gewendet an den Verein Querstadtein, für den Klaus Seilwinder Führungen auf den Spuren seiner eigenen Vergangenheit anbietet, wie Studentin Leonie Mader erzählt. "Man hat da nicht so richtig den Kontakt zu, und das war einfach die Idee, dass durch diesen Verein jemand persönlich, sehr, sehr persönlich erzählt."
Mit dem Nato-Schlafsack gegen den Frost
In der Nähe der Leipziger Straße in Berlin Mitte geht es los. Das Holzhäuschen auf einem Spielplatz, in dem Klaus Seilwinder übernachtet hat, gibt es so an dieser Stelle allerdings nicht mehr: "Ich nannte das immer meine Piratenburg, und da habe ich drin gepennt und so, naja bis minus zehn Grad bin ich da auch draußen geblieben. Ich hatte da so einen netten Nato-Schlafsack, 'nen Bundeswehr-Schlafsack. Da stand drauf "Einsatzfähig bis minus 32 Grad", das habe ich nicht ausprobiert aber bis minus zehn Grad bin ich draußen geblieben."
Über 1000 Notübernachtungsplätze der Kältehilfe gibt es in Berlin für Obdachlose. Für viele sind die allerdings keine Alternative, meint Seilwinder: "Ich war da eine Nacht mal drin. Und da lag neben mir einer, obwohl das ja verboten ist, Drogen, Alkohol, aber wenn die Dinger überbelegt sind, verlieren die Mitarbeiter ganz einfach den Überblick, und neben mir lag so einer, der wollte sich unbedingt einen Schuss geben und dann ist mir das Blut übers Gesicht gespritzt und das war für mich ein No-go, ich konnte da nicht mehr rein in so ein Ding."
Berufssoldat, Zootechniker und später auf der Straße
In der DDR war Klaus Seilwinder Berufssoldat, danach Zootechniker, nach der Wende Saisonarbeiter, schließlich arbeitslos, häufig betrunken und am Ende auch noch ohne Wohnung, auf der Straße. Seit damals, dem Jahr 2002, hat sich die Zahl der Obdachlosen in Berlin vervielfacht. Nach der EU Osterweiterung sind viele Menschen z.B. aus Südosteuropa dazugekommen, die hier arbeiten wollten und aus den verschiedensten Gründen gescheitert sind. Von ihnen hat kaum jemand Anspruch auf Sozialhilfe oder eine dauerhafte Unterbringung. Also übernachten viele der Obdachlosen in U-Bahnhöfen, in Hauseingängen, unter Brücken, im Park und in Zelten, die häufig versteckt und illegal aufgestellt werden. Die Studenten, mit denen Seilwinder unterwegs ist, wollen wissen, wie man da helfen kann: "Die Frage tritt öfter auf. Also, ganz einfach: Fragt, wie ihr helfen könnt! Fragt: Kann ich dir was zu essen kaufen, willst du was zu trinken haben oder soll ich dir irgendwo eine warme Ecke zeigen? Fragen und helfen, das gibt den Menschen ihre Würde zurück".
Viele wollen gar nicht entdeckt werden
Klaus Seilwinder hat irgendwann mit Hilfe eines Freundes den Absprung geschafft. Heute lebt er in einer kleinen Wohnung, hauptsächlich von Hartz4. Geschätzte 8.000 - 10.000 Menschen leben in Berlin weiterhin dauerhaft auf der Straße. Wie viele Obdachlose es nun genau sind, soll in einer Nacht Ende Januar gezählt werden. Einfach wird das nicht vermutet Klaus Seilwinder: "Viele wollen ja auch gar nicht an ihren Schlafplätzen - das soll ja auch geheim bleiben - entdeckt werden. Das ist eine Frage auch der Sicherheit. Ich selbst habe damals zugesehen, dass keiner mitkriegt, wo du eben bist."