Obdachlose in Berlin

Rückkehr nach Polen

29:39 Minuten
Ein obdachloser Mann steht am 9.8.2016 neben einem Schlafsack und einem Fahrrad unter einer Brücke am Bahnhof Zoo in Berlin.
Unter einer Brücke am Bahnhof Zoo: Viele der obdachlosen Menschen in Berlin kommen aus Polen. © imago / Ralph Peters
Von Ernst-Ludwig von Aster |
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Tausende Polen leben Schätzungen zufolge in Berlin auf der Straße. Die Organisation Barka kümmert sich darum, dass sie zurück in ihr Herkunftsland kommen. Dort können die Obdachlosen auf Bauernhöfen ein neues Leben beginnen - ohne Alkohol.
Die Regionalzüge rollen über die Brücke am Bahnhof Zoo, auf der Straße darunter drängt sich der Berliner Autoverkehr. Miroslav sitzt mit dem Rücken zur Fahrbahn, direkt vor dem Eingang zum Supermarkt. Ein kleiner, schmächtiger Mann, 60 Jahre alt, in dicker Jacke, die Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Neben sich zwei große Plastiktaschen. Und drei Flaschen Bier.
Miroslav schiebt einen kleinen Teddybären in Position, witzelt: "Mein Assistent." Daneben platziert er den Becher für das Kleingeld der Passanten. Seit zwei Jahren sitzt Miroslav an der immer gleichen Stelle. Bettelt und trinkt Bier. Nur Bier, darauf legt er Wert. "Dziadek" nennen ihn die anderen polnischen Obdachlosen. "Dziadek" heißt Großvater. Przemek, ein sportlicher Mittvierziger setzt sich dazu, eine halbvolle Wodkaflasche in der Hand.

Die Mission: polnische Obdachlose nach Hause bringen

Ewa Sadowska und Wojtek Greh bleiben stehen. Beide 37 Jahre alt, beide in Jeans, mit festen Schuhen, warmen Jacken. Sie grüßen die Männer mit Handschlag. Wojtek: "Aber du, ich habe dich beim letzten Mal ein bisschen besser gesehen." Przemek: "Heute 1000 Prozent, zurück nach Hause."
Przemek will nach Hause. Wojtek und Ewa nicken. Sie wissen: Zwischen nach Hause wollen und nach Hause gehen liegt ein weiter Weg. Es ist ihr Job und ihre Mission, polnische Obdachlose von der Straße zu holen. Ihr Arbeitgeber ist Barka eine polnische Organisation, die sich um Menschen kümmert, die kein Dach über dem Kopf haben. Barka unterstützte auch schon polnische Obdachlose in London und Amsterdam, der Berlin-Einsatz ist in Deutschland eine Premiere.
Beharrliche Überzeugungsarbeit - Barka-MItarbeiter und polnische Obdachlose am Bahnhof Zoo
Beharrliche Überzeugungsarbeit: Barka-MItarbeiter sprechen am Bahnhof Zoo mit polnischen Obdachlosen.© Deutschlandradio / Ernst-Ludwig von Aster
In der Hauptstadt gibt es schätzungsweise 3000 obdachlose Polen und es werden immer mehr. Es besteht Handlungsbedarf – dachte zumindest die polnische Botschaft. Und finanziert das Projekt für drei Monate. Unterstützung vom Berliner Senat gibt es keine.

Bedingung: Finger weg vom Alkohol

"Heute gibt es in Polen mehr als 30 Barka-Gemeinschaften", erzählt Ewa. "Meist sind es Bauernhöfe. Mit Viehzucht und Pflanzenzbau. Dort leben die Menschen zusammen, jeder hat eine Aufgabe. So wollen wir den Obdachlosen helfen, ein neues Leben aufzubauen." Das klingt gut für Miroslav und Przemek. Wäre da nicht noch eine Bedingung: Finger weg vom Alkohol. Przemek nickt, nimmt noch einen Schluck aus der Wodkaflasche.
Miroslav greift in seine Jackentasche, zieht ein Mobiltelefon hervor, startet ein Musik-Video. Die polnische Flagge erscheint auf dem zerkratzen Bildschirm. Wojtek erklärt: "Das ist ein Lied auf polnisch… Ich bin geboren in Polen, ich bin geboren in Polen, nochmal, und ein drittes Mal auch, und ein viertes Mal auch so…" Ritter, Reiter, Panzer – im Hintergrund immer wieder die polnische Flagge. Ein patriotisches Erbauungsvideo. Die beiden Obdachlosen wiegen lächelnd die Köpfe im Takt. Przemek: "Ich will zurück zu meinem Freund, zurück zu meinem Freund."
"Die Heimatgefühle, sind schon mal da", sagt Wojtek lachend. Der Drang zum Alkohol aber auch. Die beiden hängen an der Flasche, der eine am Bier, der andere am Wodka. Da wird es nichts mit der Barka-Gemeinschaft. Ewa und Wojtek müssen weiter. Sie wollen noch ein paar andere Obdachlose treffen. "Ich werde es mir noch einmal überlegen", sagt der alte Miroslav zum Abschied. Und Przemek verspricht: "Ich bin morgen Mittag nüchtern."

Fünf Pfandflaschen bringen eine Flasche Wein

Rund 300 Kilometer östlich, in Poznan, eilt Kryzstof über den hellen Flur eines Barka-Gebäudes. In einem der Außenbezirke. Ein kräftiger Mann, Anfang 60, mit Schnauzbart, der Pullover spannt über dem Bauch. Mehr als 30 Jahre hat er in Polen als Busfahrer gearbeitet. Dann verlor er seinen Job. Begann zu trinken. Er ging nach Berlin. Da war das Überleben auf der Straße einfacher als in Polen.
Kryzstof: "Ich bin wegen dem Alkohol nach Berlin gefahren. Dort kann man auch, ohne Geld zu haben, trinken. Man muss nur Pfandflaschen sammeln, dann bekommt man genug zusammen. Geschlafen habe ich immer in einem Müllraum von einem Mietshaus, in der Admiralstraße, am Kottbusser Tor. Eineinhalb Jahre habe ich ununterbrochen getrunken, Tag und Nacht."
Ein paar Liter-Billigwein, das ist in Berlin seine Tagesdosis. Fünf Plastikflaschen, ein Liter Wein, das ist seine Rechnung. Nachts schläft Kryzstof auf Bänken in Parks, im Winter im Müllraum und ab und zu in der Notübernachtung. Doch nach vier Jahren macht sein Körper nicht mehr mit. Ein Berliner Sozialarbeiter vermittelt ihm den Kontakt zu Barka. Seit zwei Monaten lebt Kryzstof jetzt wieder Polen, in Poznan. Er teilt sich mit einem anderen Mann ein Doppelzimmer, arbeitet in der Saatgut-Sortierung. Alkohol ist tabu.

Neuanfang möglich

Im Arbeitsraum liegen Haufen von Samentüten auf den Tischen. Mohrrüben, Erbsen, Tomaten. Mitarbeiter greifen die Packungen, Sorte für Sorte fliegen die Tüten in braune Kartons. Tomaten nach links, Erbsen in die Mitte, Mohrrüben nach rechts. 30 Männer leben und arbeiten zurzeit in der Barka-Gemeinschaft. Bekommen den Mindestlohn und zahlen knapp ein Drittel für Zimmer und Verpflegung, so wie Kryzstof. Um 6.30 Uhr stehe ich auf, erzählt er, dann gibt es Frühstück, und dann geht es an die Arbeit. "Vorher aber müssen wir alle zum Alkoholtest."
Ein Mann sortiert Samentüten in Kartons.
Die Saatgut-Sortierung ist einer der Arbeitsbereiche bei Barka in Poznan.© Deutschlandradio / Ernst-Ludwig von Aster
Dass auch tagsüber nicht getrunken wird, darum kümmert sich Andrzej. Ein kräftiger untersetzter Mann, Mitte 60, gelernter Metzger, ehemals obdachlos. Dem Alkohol opferte Andrzej alles, seinen Beruf und seine Familie. Das ist schon lange her. Vor mehr als 15 Jahren kam er zu Barka, es war schwer, von der Sucht loszukommen. Aber nach mehreren Anläufen hat er es geschafft. Andrzej ist heute trocken. Die Gemeinschaft hat ihn zu ihrem Chef gewählt, weil er die meiste Lebenserfahrung hat. Oder Leidenserfahrung.
Andrzej leitet die wöchentlichen Treffen, auf denen jeder eine Stimme hat, moderiert, vermittelt Therapie-Plätze, wenn ein Gemeinschafts-Mitglied rückfällig wird. Vor allem aber ist er eines, ein lebendiges Beispiel dafür, dass ein Neuanfang möglich ist: "Es ist doch klar, dass die Leute am Anfang sagen, sie wollen nichts ändern. Sie sehen einfach keine Perspektive für sich. Aber wir bei Barka zeigen, dass es für jeden eine Perspektive geben kann. Wir sind dafür das lebende Beispiel."
Jeder ist willkommen, egal ob aus Warschau oder Berlin. Jederzeit. Nur nicht der Alkohol. Ein Konzept, das weniger auf der Hilfe von Sozialarbeitern beruht. Sondern auf der Lebenserfahrung der Gemeinschaftsmitglieder. Und auf Freiwilligkeit. Denn jeder kann jederzeit gehen.

Ordnungsamt fährt mit nach Polen

Berlin Hauptbahnhof, morgens um sechs Uhr. Ein leichter Nieselregen lässt den Vorplatz glänzen, die Leuchtanzeigen der Businformation verschwimmen. Zwischen den Eingangstüren haben Obdachlose ihre Tüten mit Habseligkeiten deponiert.
Eine kleine Gruppe Reisender wartet einige Meter weiter. Mit leichtem Gepäck. Kleinen Rollkoffern, Medium-Size-Rucksäcken. Sozialarbeiterinnen, zwei Mitarbeiter des Ordnungsamts, drei Journalisten. Barka hat sie eingeladen. Ein Obdachloser zückt den Sammelbecher: "Darf ich Sie was fragen: Kleingeld oder Scheingeld, Kollekte für die Armen."
Ulrich Gueckel sorgt sonst hier im Bezirk Berlin-Mitte für Ordnung auf den Straßen, von Amts wegen. Der Endfünfziger mit Zwirbelbart und Prinz-Heinrich-Mütze patrouilliert mit seinem Kollegen für das Ordnungsamt. Verteilt Tickets für Falschparker - und Platzverweise für Obdachlose. Heute aber will er mit Barka nach Polen: eine Dienstreise im Auftrag seines Arbeitgebers.
Gueckel: "Es ist so, dass wir vorm Ordnungsamt Mitte mitfahren, da wir ja tagtäglich die Obdachlosenkontrollen in Mitte durchführen müssen. Und uns das doch sehr am Herzen liegt, was aus den Menschen wird, wenn sie des Platzes verwiesen werden."

"Sekte" oder "Arbeitslager auf dem Land"

Niemand weiß genau, wie viele polnische Obdachlose in Berlin leben. Die Schätzungen reichen von 1000 bis 3000. Jetzt kommt Zusanna Maczynska angeschlendert. Kapuzenpulli, dicke Jacke, Jeans, Gürteltasche, feste Stiefel, fester Händedruck. "Nennt mich Zusa", sagt sie zur Begrüßung: "Ich arbeite selbst als Straßensozialarbeiterin mit Wohnungslosen. Und da ich selber aus Polen komme, arbeite ich ganz oft mit polnischen Wohnungslosen. Und da jetzt Barka in Berlin arbeitet, wollte ich Barka ein bisschen besser kennenlernen."
"Gangway" heißt der Berliner Verein, für den Zusa Obdachlose betreut. Über die Arbeit von Barka in Berlin hat die Streetworkerin mit ihren Kollegen viel diskutiert. Von einer "Sekte" sprachen einige, andere von "Arbeitslagern auf dem Land". Auch darum hat Barka heute Interessierte eingeladen, um mit Vorurteilen aufzuräumen.
Zusa: "Ich denke, Barka hat ein bisschen andere Arbeitsweisen als ganz viele Träger, die in Berlin arbeiten und ich glaube auch, dass die Leute die da arbeiten, sind nicht professionell ausgebildet, das unterscheidet sich einfach vom deutschen Konzept eigentlich."
Ulrich Gueckel wuppt seine Reisetasche in den Kofferraum, klettert mit seinem Kollegen in den Kleinbus. Bisher war er in Polen nur in Slubice, dem Grenzort, gleich hinter Frankfurt Oder: zum Zigarettenkaufen. Wojtek blickt auf die Uhr. "Das sind 280 Kilometer nach Posen, drei Stündchen. Da machen wir eine Pause. Dass wir dann einmal Toilettenpause machen." Um kurz vor sieben setzt sich der Kleinbus in Bewegung zur Infotour nach Polen. Wojtek winkt zum Abschied. Er bleibt erstmal noch in Berlin.

Ein neuer Anlauf für Hilfe

Am Bahnhof Zoo riecht es nach Urin. Gleich neben der Wechselstube liegen fünf Männer auf dem Pflaster, trinken Kaffee, Bier und Wodka. Mittendrin hockt Przemek. Wojtek: "Einer der Mitarbeiter vom Hygienezentrum hat ihm ein Ticket gekauft, aber heute ist er voll betrunken."
Wojtek schüttelt den Kopf. Przemek sollte eigentlich längst in Flensburg sein bei einem Freund, der ihn aufnehmen will. Nun wird es wieder nichts. Wojtek kennt hier fast alle Obdachlosen. Und sie kennen ihn. Die Deutschen nennen ihn "Wolle", die Polen "Wojtek". Einen Teil seiner Zeit arbeitet er bei der Bahnhofsmission, den anderen für Barka. In Polen hat er Sozialpädagogik studiert, der Abschluss wird in Deutschland nicht anerkannt. So ist es eben, sagt Wojtek schulterzuckend. Als Sozialarbeiter sieht er sich trotzdem.
"Entschuldigung, Entschuldigung", lallt Przemek mit schwerer Zunge. "Ich habe nur ein bisschen getrunken". "Und deinen Zug mal wieder verpasst", spotten die Mittrinker. Przemek senkt den Kopf, das Zugticket ist verfallen. Verloren hat er es auch noch. Er greift in seine Jacke. Holt ein demoliertes Handy heraus, eine Fahrkarte, ein Kondom. "Mein Freund Jacek wartet doch auf mich", sagt er, "ich kann bei ihm arbeiten." Mit zitternden Händen sucht Przemek die Nummer im Speicher, versucht zu wählen. Es klappt nicht. Wojtek nimmt das Telefon, wählt die Flensburger Nummer. Niemand meldet sich. "Ist nicht erreichbar, ist nicht erreichbar, ok, …"
Przemek steckt Portemonnaie, Kondom und Telefon wieder ein, blickt bedröppelt aufs Pflaster. Dann klingelt es. Mit einem derben Schimpfwort begrüßt Prezmek seinen Flensburger Freund, gibt dann das Telefon weiter. "Hallo hier ist Greh, von der Stiftung Barka", meldet sich Wojtek. Drei Minuten dauert das Telefonat. Dann steht ein Plan...
Wojtek: "Der Plan ist so: Wir kommen morgen, um 12 Uhr, aber er muss trocken sein, dann kann ich ihn nach Flensburg schicken, mit dem Flixbus. Und auf ihn wartet eine Person, das ist sein Chef. Er bekommt da Hilfe, das ist nicht so, wir schieben von der Straße auf andere Straße. Naja, um zwölf Uhr."

Staat pachtet Flächen dazu

Ein Mann, Mitte 50 mit Schiebermütze und sehr schlechten Zähnen, lehnt die ganze Zeit an einer Laterne, beobachtet die Szene. Als Wojtek gegangen ist, möchte er auch noch etwas sagen. Aber nicht hier, vor dem Bahnhof, sondern ein Stückchen weiter, um die Ecke. "Das ist alles eine große Lüge, die Leute fahren nach Polen, essen, das ist nicht umsonst, wie du denkst. Die Leute müssen ein, zwei Wochen in Therapie, dann arbeiten, ganz andere Welt."
Es wird viel erzählt über Barka in Berlin, nicht alle polnischen Obdachlosen trauen der Sache. Auch etliche Behördenvertreter und Sozialarbeiter sind skeptisch.
Einige von ihnen sitzen gespannt in dem Kleinbus, der durch die flache polnische Landschaft hinter Poznan rollt. Endlose Felder, links und rechts, dazwischen alte Apfelplantagen. Ewa Sadowska hat sich zwischen die Reisenden gequetscht. "Das Land hinter den Bäumen gehört unserer Stiftung", sagt sie. 60 Hektar besitzt Barka, 420 sind vom Staat dazu gepachtet. Alles wird ökologisch bewirtschaftet. Links tauchen flache, weiße Stallbauten auf.
Die Ställe sind mehr als 100 Jahre alt, erklärt sie, früher residierte hier eine deutsche Adelsfamilie. In der Volksrepublik Polen bewirtschaftete eine PGR, eine sozialistische Agrargenossenschaft, den Betrieb. Heute arbeiten ehemals Obdachlose auf den Flächen, die Barka pachtet.
Ein alter Trecker tuckert über das Grundstück. Gut ein Dutzend Bewohner wartet vor den alten Unterkünften der Landarbeiter. Zwei Betonblöcke, dreistöckig, mit je zwei Eingängen. Die lindgrüne Fassadenfarbe ist an einigen Stellen abgeplatzt.

"Ich möchte noch ein paar Jahre leben"

Mit unsicheren Schritten kommt ein kleiner, schmächtiger Mann über den Hof. Er trägt neue Jeans, einen braunen Pullover mit der Aufschrift "Polar light" – alles ein paar Nummern zu groß. Schüchtern grüßt er in die Runde. Es ist Miroslav. Der Großvater vom Bahnhof Zoo, den hier alle Mirek nennen. "Herzlich willkommen bei Barka", sagt Ewa. "Ich hatte dir doch versprochen, dass ich darüber nachdenke", sagt der kleine Mann. Erst vor ein paar Stunden ist er aus Berlin gekommen. Sein neues Zimmer liegt im linken Block, im ersten Stock.
Oben wartet schon sein Mitbewohner, Tadeuz. Ein großer, schlaksiger Mittvierziger im Trainingsanzug. "Wir werden schon klar kommen", sagt Mirek. "Heute ist ja unser erster Tag. Vielleicht werden wir sogar mal Freunde. Wir rauchen beide, das ist schon mal gut". Er setzt sich aufs Bett. Ohne dicke Jacke und Wollmütze sieht er noch zerbrechlicher aus als am Bahnhof Zoo.
Mirek: "Die Situation in Berlin hat sich immer mehr verschlimmert. Ich habe weiter getrunken, aber immer nur Bier. Kein Wein, kein Wodka. Aber dann hatte ich genug. Ich bin doch nicht mehr der Jüngste. Und ich möchte noch ein paar Jahre leben. Keiner weiß, wie viel. Und da ist es doch schön, zu Hause zu sein." Als er seinen Entschluss gefasst hatte, informierte er Wojtek, schlief eine Nacht in einer Obdachlosenunterkunft, duschte, bekam neue Kleidung. Und dann ging es nach Polen. Ohne Alkohol.
"Viele am Zoo haben geweint, als ich gegangen bin", erzählt er. "Sie haben gesagt: 'Mensch, Opa, bleib doch.' Aber ich habe mich trotzdem entschieden." Die nächsten Tage wird er gucken, wo er auf dem Hof helfen kann. Marian, der Älteste, wird ihn dabei unterstützen. Für die Arbeit auf dem Feld ist er zu alt, vielleicht aber gibt es bei den Schafen oder Schweinen was zu tun oder in der Küche. Da findet sich schon was.
Das Leben ohne Alkohol macht ihm bis jetzt noch keine Probleme. Wenn sein Körper den Entzug nicht verkraftet, wird Barka ihn in eine Entzugsklinik vermitteln. Mirek greift zum Mobiltelefon. Sucht sein Lied. "Das habe ich immer am Bahnhof Zoo gespielt", sagt Mirek. "Und manchmal haben meine Kumpel geweint."

Allein auf der Straße zu leben, ist gefährlich

Zusa, die Besucherin aus Berlin, steht draußen auf dem Hof, unterhält sich mit einigen Bewohnern. Es sind vor allem Männer, um die 60. Die meisten sind zufrieden mit dem Leben auf dem Land, hört sie. Zusa: "Ich denke, ich werde Barka nicht allen Leuten empfehlen. Aber es kann sein, wenn ich so ein bisschen ältere Männer auf der Straße treffe, die einfach in einem ganz schlechten gesundheitlichen Zustand sind, würde ich fragen, willst du vielleicht mit Barka-Leuten reden. Und wenn die Person ja sagt, dann würde ich Wojtek anrufen. So junge Leute, ich glaube, ich könnte die auch fragen und einfach die Option präsentieren. Aber ich denke, das wäre nicht so die beste Option für so junge, alternative Punkie-Leute und so was."
In Berlin am Bahnhof Zoo kommt ein älterer Mann mit schleppendem Gang über den Bürgersteig. Er will zur Bahnhofsmission. Neue Jeans, zerfetzte Jacke, auf dem Rücken einen schwarzen Rucksack. Bruno erzählt: "Ich gehe einkaufen, immer zu Ullrich. Ich habe kranke Beine, aber ich sammle Flaschen. Und ich kaufe. Alle, alle Kassiererinnen kennen mich: Bruno, Bruno, grüß dich."
Wackelig hält sich Bruno auf den Beinen. Wojtek grüßt ihn per Handschlag. Er kennt ihn schon lange. Seit einem Arbeitsunfall vor zehn Jahren lebt der gelernte Koch in Deutschland auf der Straße. Geboren ist er in der Nähe von Danzig. Bruno: "Allein das Leben zu leben ist wirklich in Berlin gefährlich. Wir halten uns alle zusammen. Weil sonst das ist echt wirklich, wirklich gefährlich."
Sein Mobiltelefon haben sie ihm neulich gestohlen, seinen Freund verprügelt. Das Leben auf der Straße wird immer härter, sagt Bruno. Aber es ist lange noch nicht so hart, wie das Leben in Polen. Meint er.
Wojtek: "Bruno, ich habe gehört, du hast eine Schwester in der Mitte in Polen." Bruno: "Ja, die Jüngste, Hanna." Wojtek: "Na dann fahren wir zu Hanna." Bruno: "Nein, nicht in meinem Zustand."
Traurig schüttelt der Mittsechziger den Kopf. Er schämt sich, sagt er. So will er seine polnische Verwandtschaft nicht treffen. Dabei hatte er schon alles für einen Besuch vorbereitet. "Ich war schon vorbereitet, dass ich in die Heimat fahren werde. Ich habe in dem Rucksack zwei CD Kassetten für sie, schon gekauft: Mit griechischer Wein, mit 66..."
Wojtek fasst Bruno am Unterarm. "Komm mit zu Barka", sagt er. "Wir haben immer einen Platz für Dich." Bruno: "Ich werde mal sehen." Wojtek: "Der Wolle fährt mit Bruno nach Polen." Er will drüber nachdenken, sagt Bruno zum Abschied. Und geht weiter. Wojtek blickt auf die Uhr. Przemek hat er gestern tatsächlich in den Bus gesetzt: nach Flensburg, nüchtern.

Gemüseanbau in einer alten Schule

Wojtek: "Wir warten jetzt auf eine Person, es ist halb zwölf, er hat zu uns gesagt: 'Ja, ich komme um elf pünktlich und so. Und ich will unbedingt nach Polen.' Naja, das ist so." Und dann muss er nach Polen, um die deutsche Besuchergruppe zu treffen. Für die steht – zusammen mit Ewa Sadwoska – am späten Nachmittag ein Schulbesuch auf dem Programm.
"Die Uhr gab es schon hier, als ich noch ein Kind war", sagt Ewa Sadowska. Und lauscht lächelnd dem Glockenschlag. Die 37-Jährige lässt den Blick durch den großen Raum wandern. Hier, in der alten Schule in Polen, sind sie und ihre beiden Schwestern aufgewachsen. Noch immer hängt die Uhr am alten Platz, in dem großen Saal, direkt neben der Essensdurchreiche. Auch das Kreuz von damals ist noch an derselben Stelle, über dem Kamin. Nur der lange Esstisch ist etwas moderner geworden.
An einem langen Tisch sitzen Menschen zusammen.
30 ehemalige Obdachlose leben und arbeiten heute in der alten Barka-Schule.© Deutschlandradio / Ernst-Ludwig von Aster
Vor knapp 30 Jahren zog hier die Familie Sadowska mit den ersten Barka-Mitgliedern ein. Heute leben hier gut 30 Männer und Frauen, bauen Gemüse an, betreiben eine ökologische Pilzzucht. Das Essen kommt, wie damals, aus der Gemeinschaftsküche. Heute sind die Plätze am langen Esstisch alle besetzt: Bewohner, Besucher aus Deutschland. Auch Tomasz und Barbara Sadowska sind gekommen, sie leben gleich um die Ecke.
"Wir haben hier mit 20 Leuten angefangen", erinnert sich Tomasz Sadowska. Die Familie, dazu einige Obdachlose, ein paar entlassene Straftäter und ehemalige Psychiatrie-Patienten. "Wir waren ein bisschen verrückt", ruft seine Frau Barbara vom anderen Ende des Tischs herüber.
"Einmal rief meine Schwiegermutter an und fragte, ob wir denn auch unsere Haustür abgeschlossen hätten. Und wir merkten: Wir hatten gar keinen Schlüssel. Tomasz sagte nur: 'Warum sollen wir die Tür abschließen? Alle Gauner und Verrückten sind doch bei uns im Haus!'"

Das Barka-Modell heißt "Soziale Therapie"

Da muss Tomasz Sadowska lachen. Damals war es nicht immer so lustig. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus regierte das Chaos, vertraute Strukturen zerbrachen. Jeder Dritte verlor seine Arbeit, oft regierte das Recht des Stärkeren. Die Sadowskas schafften es mit Unterstützung von Freunden die alte Schule zu übernehmen, bekamen günstig etwas Land der ehemaligen Agrarbetriebe. Sie kündigten ihre Jobs als Psychologen im Krankenhaus, starteten ihr Sozial-Projekt.
Die Idee: Dass durch Arbeit in einer Gemeinschaft jeder seinen Platz in der Gesellschaft finden könne. "Soziale Therapie" nannte Tomasz Sadowska das. Dieses Barka-Modell funktioniert seit 30 Jahren. Sogar einige selbstverwaltete Sozialunternehmen sind daraus entstanden. Tomasz Sadowska ist jetzt über 70. Er kann in Ruhe angeln gehen, seine drei Töchter kümmern sich weiter um Barka.
Die Eingangstür öffnet sich: noch eine Gruppe Besucher. Wojtek ist aus Berlin gekommen, hat schnell noch Mirek auf der Farm eingesammelt. Den Opa vom Zoologischen Garten. Der soll hier einen alten Bekannten treffen: Marek. Der 51-Jährige lebt seit zwei Wochen hier.
Wojtek: "Die beiden kennen sich. Und ich habe ihm gesagt: 'Weißt du, wer das ist?' - 'Äää!? Er sagt doch immer, ich komme nicht nach Polen.' Und Marek war jetzt ein bisschen sprachlos." Marek steht perplex neben dem Tisch. Zieht die Schultern hoch. "Auf der Straße sehen wir doch alle ganz anders aus", flüstert er und guckt genauer hin. "Natürlich kenne ich dich", sagt Marek lachend, "du bist doch der Opa vom Zoologischen Garten."

Vertrauen und Verweise passen nicht zusammen

Zum Abendbrot gibt es Hähnchen mit Stampfkartoffeln und Soße, dazu Tee und selbstgemachte Limonade. Ordnungsamts-Mitarbeiter Gueckel genießt das Essen, unterhält sich mit seinem Nachbarn. Der lebte vor zwei Wochen noch in Berlin auf der Straße.
Gueckel: "Wie alt bist du?" – "60." Gueckel: "Ach, da bist du ja älter als ich... und das ist ja auch: Dauerhaft draußen zu schlafen, das ist ja auch für den Rücken nicht gut." - "Nein, nein." Gueckel: "Ich drücke dir fest die Daumen und alles Gute wünsche ich dir."
Demnächst, hat sich Ulrich Gueckel überlegt, wird er Informationen über Barka mit auf seine Kontrolltouren nehmen. Für die polnischen Obdachlosen. Eigentlich wollte er sogar, dass ihn die Barka-Mitarbeiter begleiten. Obdachlosenhelfer und Ordnungsamt, Seite an Seite. "Nein, das geht nicht", war die Antwort: Vertrauen und Verweise – das passt nicht zusammen.
Wojtek nimmt noch einen Schluck Tee, blickt auf die Uhr. Er muss gleich wieder zurück nach Berlin. Die Nachtschicht wartet. Und die Obdachlosen: "Geht ganz gut, das kann man sagen. Das ist der dritte Monat, fast der dritte Monat und wir haben insgesamt 16 Leute zurück nach Hause gebracht. Für uns ist das ein Erfolg, weil am Anfang waren wir skeptisch... und das ist für uns auch ein gutes Zeichen, die Leute wollen nach Polen."
Mirek und Marek sitzen sich gegenüber. Der Opa vom Bahnhof Zoo guckt seinen alten Bekannten an.
"Ist es hier nicht besser als in Berlin?", fragt Mirek "Na klar", sagt Marek: "Ich habe aber meinen Schlafsack trotzdem mitgebracht". "Ich habe meinen am Bahnhof Zoo gelassen", antwortet Mirek. "Genauso wie den Teddybären."

Erstsendedatum: 06.01.2019, aktualisiert am 06.12.2019.
Die polnische Botschaft finanziert das Projekt inzwischen nicht mehr, es werden neue Geldgeber und Spenden gesucht. Wojtek musste darüber das Projekt verlassen und arbeitet nun in der Bahnhofsmission. Der "Opa vom Bahnhof Zoo" hat es geschafft: er ist nach wie vor in Polen und hat aufgehört zu trinken.

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