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Auch die Berliner Stadtmission sammelt Spenden und sucht zusätzlich dringend nach Männer-Kleidung: Unterwäsche, Schuhe, Jacken – alles, was frisch gewaschen ist, wird gerne genommen.
Die Pandemie trifft die Ärmsten
08:17 Minuten
Das Coronavirus bindet die Menschen an ihr Zuhause. Doch Menschen, die kein Zuhause haben, bringt das in existenzielle Nöte: Obdachlose sind auf Almosen von Passanten angewiesen. Berlin versucht das Problem mit kreativen Mitteln zu lösen.
Auf einer kleinen rosa Decke am S-Bahnhof Berlin-Tempelhof sitzt eine junge Frau mit Spitznamen "Kendy". Es ist bereits 18 Uhr und Kendy zählt das Geld, das sie während des Tages zusammengesammelt hat. Neben ihr schmiegt sich ihr kleiner weiß-braun gefleckter Terrier an. Seit das Coronavirus um sich greift, sind die U- und S-Bahnen leer und es wird immer schwieriger, das nötige Kleingeld für sie und ihren Hund zusammenzubekommen.
"Es sind wenig Leute auf der Straße unterwegs, und, ja, die haben Angst, sich anstecken zu können, und deshalb gibt’s halt weniger Geld für uns Obdachlose"
Die Straßen sind leer, Spenden werden knapp
Besorgt streicht sich die 25-Jährige die blonden Haare aus dem Gesicht.
"Die meisten Unterkünfte sind geschlossen. Und ich lebe halt im Hostel für 10€ pro Nacht, aber das geht auch nicht immer, weil jetzt, wo so wenig Leute unterwegs sind, habe ich halt auch keine Chance, irgendwie 10€ zusammenzubekommen."
Heute reicht das Geld fürs Hostel nicht. Und dazu die Sorge, sich selbst an Corona anzustecken, wenn sie Lebensmittel geschenkt bekommt, Hände reicht und Geld annimmt.
"Die meisten sagen, ach scheiß egal, es passiert schon nichts, ne. Es sind Leute an ganz anderen Sachen gestorben. Aber ich sehe es anders."
Über 6000 Schutzbedürftige in Berlin
Kendy ist eine der vielen Obdachlosen in Berlin. Ende Januar wurden fast 2000 Obdachlose in Berlin gezählt, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Der Caritasverband schätzt, dass über sechstausend Menschen in Berlin auf der Straße leben.
Wie sollen sich Menschen ohne Wohnung, Rückzugsraum und ohne regelmäßigen Zugang zu Sanitäranlagen vor dem neuartigen Corona-Virus schützen? Fragen, die die Politik nicht ignoriert.
Notunterkünfte als feste Aufenthaltsorte
Elke Breitenbach, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin sitzt in ihrem Büro und beantwortet Fragen am Telefon.
"Wir in Berlin, wir haben jetzt noch Einrichtungen der Kältehilfe. Es hat nicht alles zugemacht. Und wir versuchen jetzt auch, drei weitere Einrichtungen, die wir bisher in der Kältehilfe genutzt haben, quasi nochmal zu verlängern. Aber mit einem anderen Konzept, indem wir den Menschen nicht nur Schlafplätze für eine Nacht anbieten, sondern indem sie jetzt erst einmal einen festen Ort haben, an dem sie leben können, wo sie ihre Sachen unterstellen können, wo sie versorgt werden und wo sie einen festen Schlafplatz haben."
In der Wohnungslosenhilfe gibt es grob zwei Kategorien. Zum einen Angebote für wohnungslose Menschen, die sich beim Bezirksamt melden und bereit sind, kontinuierlich mit Sozialarbeitern zusammenzuarbeiten. Ihnen wird ein vorübergehendes Zimmer angeboten, in dem sie sich für mehrere Monate aufhalten dürfen.
Zum anderen gibt es niedrigschwellige Angebote, sogenannte Notunterkünfte. Diese haben teilweise ganzjährig geöffnet und teilweise nur in den Wintermonaten. Die Notunterkünfte bieten allerdings nur einen Schlafplatz und müssen am Morgen wieder verlassen werden. Der Senat plant nun, die Winter-Notunterkünfte als langfristige Aufenthaltsorte zu nutzen.
"Wenn die Menschen unser Angebot annehmen und in eine solche Unterkunft gehen, werden sie versorgt. So, und trotzdem wird es Menschen geben, die so nicht leben wollen. Die können wir nicht zwingen, die gehen dann zurück auf die Straße. Was wir haben auf der Straße ist eine medizinische Beratung."
Können Hotelzimmer für Obdachlose helfen?
Schnell müssen also die vielen dauerhaften Aufenthaltsorte für obdachlose Menschen organisiert werden. Hierfür arbeitet der Senat eng mit sozialen Trägern zusammen. Einer dieser Partner ist die KARUNA Sozialgenossenschaft. Jörg Richert, Geschäftsführer von KARUNA, sitzt in seinem Arbeitszimmer. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Unterlagen. Mit mehreren Hotels ist Richert bereits in Kontakt, um Einzelzimmer für Obdachlose anzumieten.
"Die Hotels haben unterschiedliche Motivation. Einmal sozusagen die Hoffnung, dass sie sich in dieser auch wirtschaftlichen Krise vielleicht irgendwie rüber retten können. Und dann jene, die das Herz am rechten Fleck haben. Nichtsdestotrotz kriegen ich oder die Senatsverwaltung auch Angebote, die weit weg von Gut und Böse sind, da wird dann mit 100% und mit hohen Bettpreisen gerechnet, so wird das auch nichts. Aber wir werden uns da schon durchwursteln."
Hotelzimmer für Obdachlose. Eine Umnutzung von ohnehin leeren Hotelräumen, die plausibel klingt. Doch auch hier gibt es, laut Richert, einige Herausforderungen zu bedenken.
"Wir stellen dann die Hotelbetten zur Verfügung und werden dann vielleicht merken, dass nur 70% oder vielleicht noch weniger dieses Angebot annehmen wollen. Ja, warum? Viele haben Klaustrophobie, die haben Platzangst. Dann haben wir sehr viele Menschen, die alkoholabhängig sind. Das kann man sicherlich regulieren, indem man Alkohol zur Verfügung stellt. Wir können da keinen Entzug organisieren. Und dann haben wir ja auch noch illegale Drogen im Spiel. Das ist dann richtig kompliziert, wenn die noch nicht substituiert sind, da kann man jetzt nicht Original-Substrat-Abgabe machen. Man sieht: Es ist sehr komplex, sehr schwierig."
Geld, Handys und eine App für den Überblick
Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Antworten. Und so sind Hotelzimmer für Obdachlose nicht die einzige kreative Lösung, die in der momentanen Situation für Menschen ohne Wohnung gesucht wird. KARUNA plant zusätzlich Menschen auf der Straße mit Handys auszustatten. Die Idee: Obdachlose sollen mit aktuellen Nachrichten über die Corona-Situation informiert werden und sich schnell melden können, wenn sie sich krank fühlen.
"Wir wären heute ganz woanders, wenn wir schon dafür gesorgt hätten, dass die Obdachlosen dieser Stadt Handys haben. Wir haben das schon gut ein Jahr gefordert. Das müssen wir jetzt nachholen. Wir suchen einen Sponsor, der 1000 Handys kauft oder bezahlt, damit wir sie weitergeben können. Dann können wir uns mit den Obdachlosen vernetzen."
Richert ist überzeugt von den Möglichkeiten der Digitalisierung in der sozialen Arbeit. Seit dieser Woche ist eine App im Einsatz, auf der die Karuna-Mitarbeiter eintragen, wo sie Kontakt mit Obdachlosen hatten und so einen Überblick behalten, wenn sie in der Stadt unterwegs sind. Gerade, wenn es darum geht, in der Coronakrise Menschen schnell zu erreichen, sei es wichtig, möglichst effektiv zu arbeiten.
"Wir werden jetzt praktisch ganz Berlin abscannen und dann Markierungen machen, um zu wissen, wo wir schon waren und wo wir demnächst hinmüssen."
Da es neben Informationen und schneller Erreichbarkeit aber auch ganz akute Hilfe benötigt, greift KARUNA dieser Tage zu einer weiteren ungewöhnlichen Maßnahme: Jedem Obdachlosen, den sie seit Montag antreffen, geben sie 10€ als Corona-Soforthilfe auf die Hand. Und das sei auch das, was jeder Einzelne momentan tun könne: Zu Hause bleiben und spenden.
Das Ansteckungsrisiko ist hoch
Zurück zu Kendy, die am S-Bahnhof Geld für einen Schlafplatz sammelt und darauf hofft, auch ohne eigene Wohnung, selbst gesund zu bleiben. Die 10€ Soforthilfe hätten ihr heute eine Nacht im Hostel ermöglicht, stattdessen wird sie auf der Straße schlafen.
"Ich will nicht in Unterkunft gehen. Das ist mir zu riskant, mich dann anstecken zu können. Habe auch nicht medizinischen Sachen wie Krankenkarte und so. Wäre echt scheiße, wenn ich angesteckt bin."
Seit zwei Jahren lebt die 25-Jährige auf der Straße. Bisher war sie noch nie krank. Von den vielfältigen Ideen der Politik und sozialen Träger hat sie noch nichts erfahren. Ein Hotelzimmer würde ihr und ihrem Hund heute Nacht Ruhe und Sicherheit geben.