Nur ein Schließfach im Bahnhof
14:43 Minuten
In München gibt es Menschen, die arbeiten, aber keine Wohnung haben. Zum Beispiel Irén. Die Hotelangestellte schläft oft auf der Straße – und hält morgens, bevor sie ihre Schicht beginnt, mit eiserner Disziplin eine bürgerliche Fassade aufrecht.
Irén hat sich an diesem Tag besonders schick gemacht. Die schlanke Frau mit dem flotten Kurzhaarschnitt hat eigens für das Treffen mit der Reporterin einen neuen modischen Rock gekauft, dazu einen schwarzen Pullover mit glitzernden Pailletten.
"Ich komme aus Ungarn, Budapest. Ich lebe seit zwei Jahren in München. Und ich gehe in die Schule, Deutschkurs, ich arbeite im Hotel, als Zimmermädchen, oder spüle oder putze."
Wer die 55-Jährige sieht, käme niemals auf die Idee, dass sie keine eigene Wohnung hat. Nicht einmal ein Zimmer oder irgendeine andere feste Bleibe. Nur eine Notlösung. Jeden Abend geht Irén in die ehemalige Bayernkaserne im Münchner Norden, ins sogenannte Kälteschutzprogramm der Stadt.
"Okay, alles okay. Wir haben das Zimmer zehn Leute, das ist super."
Beeindruckende Disziplin
Und vor allem ist es viel besser als im vergangenen Sommer. Damals war Irén Spülerin in einem Münchner Biergarten und die Bayernkaserne war – wie bisher immer im Sommer – zu. Die Ungarin hatte kein Dach über dem Kopf. Ihren schweren Alltag hat sie mit einer Disziplin bewältigt, die Sozialberaterin Katalin Toth noch immer beeindruckt.
"Auf der Straße hat sie übernachtet, im Schlafsack, auf einer Isomatte, irgendwo an einem der zentralen Verkehrswege in München, und ist jeden Tag aufgestanden, hat sich geduscht in einer der Stellen, wo man sich als Wohnungsloser sauber machen kann in München, und dann ist sie in die Arbeit gegangen."
"Es war okay, sie wurde auch eigentlich nicht geweckt, weil sie eine Stelle neben einer Botschaft in der Innenstadt gefunden hat, wo sie auch wusste, dass halbstündlich eine Polizeistreife vorbeigeht, und deshalb hat sie sich da sicher gefühlt."
Irén kommt regelmäßig zu Katalin Toth in die Beratungsstelle Schiller 25 nahe dem Münchner Hauptbahnhof. In der Einrichtung des evangelischen Hilfswerks kümmert man sich um Menschen wie sie – um Zuwanderer aus EU-Ländern, die in München zwar Arbeit, aber keine Wohnung gefunden haben. Die auch noch nicht lange genug da sind, um ins Sozialsystem zu kommen. Und die noch nicht wissen, dass das Daueraufenthaltsrecht auch nach fünf Jahren ein Traum bleiben wird, wenn sie sich nicht ordentlich im Kreisverwaltungsreferat anmelden.
"Diese Menschen sind unsichtbar"
Andreea Untaru, die Leiterin von Schiller 25 hört solche Geschichten ständig.
"Sehr, sehr, sehr, sehr oft erleben wir in der Beratungsstelle, dass Menschen keine Anmeldung haben. Die wohnen irgendwo, zahlen etwas, können nicht nachweisen, dass sie bezahlen, es gibt keinen Mietvertrag – man kann nichts nachweisen."
Damit sie nicht auf der Straße stehen, nehmen die Menschen, was sie bekommen können. Von schwarzen Mietverhältnissen spricht Andreea Untaru, die selbst gebürtige Rumänin ist.
"Da sind unglaublich viele Mietverhältnisse, wo Menschen Teile der eigenen Wohnungen weiter-, untervermieten, ohne Verträge. Die Menschen dürfen sich dort auch nicht anmelden, dürfen auch nicht postalisch erreichbar sein. So haben wir davon erfahren, weil die Menschen zu uns gekommen sind und gesagt haben, wir brauchen eine Postadresse von euch. Wir hatten letztes Jahr 1600 Postadressen. Diese Menschen sind unsichtbar, aber sie putzen unsere Toiletten und bauen unsere künftigen Wohnungen."
Mehr als 4000 Menschen sind vergangenes Jahr in die Beratungsstelle des evangelischen Hilfswerks gekommen. Die allermeisten sind Rumänen und Bulgaren. Aber auch Italiener, Ungarn, Polen sind dabei – und Deutsche, die einen Platz im Kälteschutz brauchen.
"Im Kälteschutz ist die Anzahl der Menschen, die in den letzten drei Jahren bei uns waren, konstant geblieben. Aber was sehr gestiegen ist, ist die Anzahl der Menschen, die in die Beratung kommen – mit denselben Problemen: Wohungslosigkeit, Arbeitslosigkeit – miteinander verbunden. Man hat mal eine Arbeit, weil man keine Wohnung hat, verliert man die Arbeit – viele drehen sich in diesem Teufelskreis und es ist sehr schwierig rauszukommen. Bei den Personen, die nicht mehr kommen, hoffen wir eigentlich immer, dass sie Glück hatten, dass es besser ist."
Bis zu 1000 Menschen obdachlos in München
Auf das Glück bei der Wohnungssuche wartet Florin noch. In sich zusammengesunken sitzt der stämmige 30-Jährige auf einer Holzbank in der Beratungsstelle. Seine Frau und den heute sechsjährigen Sohn hat er in Rumänien zurückgelassen, weil er dort keine Arbeit gefunden hat. Deshalb ist er nach Deutschland gegangen. Daheim in Rumänien ist er seit zwei Jahren nicht mehr gewesen. Aber – das ist dem zurückhaltenden Mann wichtig: Er schickt seiner Familie regelmäßig Geld, wie er mit Hilfe seiner Betreuerin Adriana Mihalita erzählt.
"Er arbeitet jetzt am Flughafen. Ich kenne ihn seit 2017. Ich weiß, dass er eine Weile in München versucht hat, einen Job zu finden. Das hat ganz einfach nicht geklappt. Dann hat er einen Job in Oldenburg gefunden. Dort hat er in einer großen, großen Metzgerei gearbeitet. Das waren ganz schwierige Arbeitsbedingungen. Irgendwann ist er krank geworden. Dann kam er zurück nach München, und hier hat er den Job am Flughafen gefunden."
Florin verdient das Geld mit der Reinigung von Flugzeugen, mit denen sich Urlauber dann den Traum vom Reisen erfüllen. Florin hat bescheidenere Träume, die trotzdem fast unerfüllbar sind.
"Er möchte arbeiten, mit Arbeitsvertrag, dass er mal irgendwann ein Auto kaufen kann, eine Wohnung hat und seine Familie aus Rumänien nachziehen kann."
Die Realität ist eine andere: Alles was Florin in Deutschland besitzt, passt in einen Rucksack und eine Plastiktüte. Der 30-Jährige hat die Sachen immer bei sich. Auch er schläft in der Bayernkaserne. Das heißt: Jeden Abend neu dort einziehen, in der Früh wieder ausziehen. Jeden Tag das gleiche Spiel: Immer wieder neue Zimmer, immer wieder andere Nachbarn.
In der Statistik ist Florin einer der Obdachlosen in München. An die 600 sind es nach offiziellen Zahlen, die aber schon etwas älter sind. Mittlerweile geht man von rund 1000 Menschen aus, die kein Dach über dem Kopf haben. Wenn Florin mal keinen Platz in der Bayernkaserne bekommen sollte, müsste er wohl unter einer Brücke oder in einem Hauseingang schlafen.
Stadt will "keine verfestigten Camps"
Der vergangene Winter war bitterkalt. Trotzdem hat es auch da Menschen gegeben, die nicht in eine Notunterkunft wollten. Zum Beispiel weil sie unabhängig bleiben wollen. Weil sie Angst haben, dass sie gegängelt werden könnten. Lieber richten sie sich unter einer Isarbrücke ein.
"Komplett – Bett, Decken, Couch – alles. Aber alles nur durch Spenden, weil die Leute uns das immer runterbringen. Selbst würden wir uns gar nicht so viel anschaffen zum Teil."
Zwei Jahre hat dieser Mann unter der Wittelsbacher Brücke in der Nähe des Deutschen Museums geschlafen. Jetzt muss er von einem löchrigen Sofa aus mitansehen, wie ein Reinigungstrupp im Auftrag der Stadt alles entsorgt, was er und die anderen Obdachlosen angesammelt hatten. Schon um sieben Uhr früh sind die Arbeiter angerückt. Matratzen, Kartons, Wäscheständer, Taschen landen in Containern. Und die Arbeiter bringen auch die Bretter und Folien weg, aus denen die Obdachlosen provisorische Hütten gebaut hatten.
Tatsächlich lässt die Stadt in regelmäßigen Abständen die Lager unter den Brücken räumen. Die Haltung ist eindeutig, sagt Rudolf Stummvoll vom Amt für Wohnen und Migration. Er ist an diesem Tag selbst zur Wittelsbacher Brücke gekommen und überwacht die Räumungsaktion.
"Es gibt eine Grundhaltung in München, die heißt: Natürlich darf jeder auf der Straße übernachten, wenn er meint, das machen zu wollen. Aber wir wollen keine verfestigten Camps, das ist eine Linie: Und es muss in München niemand unter der Brücke leben, das muss niemand, es gibt Alternativen."
Das Sozialreferat verweist etwa auf das Kälteschutzprogramm, und verschiedene Wärmestuben. Und die Räumungsaktion wurde auch lange angekündigt, betont der Mann vom Amt.
"Streetworker, die von uns eingesetzt werden, nehmen laufend mit allen Menschen, die sich auf der Straße befinden, Kontakt auf – hier auch. Es ist auch Naturschutzgebiet ganz nebenbei. Es ist Hochwassergebiet – ganz nebenbei. Es geht auch darum, die Menschen zu schützen."
"Leute ohne Dach über dem Kopf werden weggeräumt"
Der Obdachlose, der unter der Wittelsbacher Brücke dick vermummt bis zuletzt ausharrt, sieht für sich selbst freilich keine Alternative.
"Aus Überzeugung gehe ich in keine Pension. Nein, ich teile keinen Wohnraum mehr mit anderen."
Auch nicht an einem Tag wie diesen? Wo wird er nächste Nacht schlafen?
"Ernste Frage? Heute Abend bin ich wieder hier."
In der Bayernkaserne könne man weder tagsüber bleiben noch Wertsachen sicher aufbewahren, in den Schlafsälen finde man keine Ruhe oder Privatsphäre. So steht es auch in einer Erklärung, die Bewohner des anderen Lagers, unter der Reichenbachbrücke, verfasst haben. Geholfen hatte dabei die Initiative für Zivilcourage, die dann auch mit gut 50 Leuten gegen die Räumungsaktion protestiert hat.
"Wohnraum für alle – jetzt! Leute, die kein Dach über dem Kopf haben, werden weggeräumt – peinlich für die Stadt München!"
Immer wieder bleiben während der Räumungsaktion Passanten stehen. Es sind Spaziergänger mit Hunden, Radler und Jogger aus den angrenzenden Stadtvierteln, dazu weitere Aktivisten.
"Ich finde es schrecklich, wenn Menschen, die irgendwie am Rand unserer Gesellschaft stehen, geräumt werden, das ist einfach so daneben." / "Ich finde es ein Unding, dass Leute geräumt werden und ihr ganzes Gut, das sie haben, hier abtransportiert wird."
Später stellen sich neben der Brücke Obdachlose mit Schildern auf. "Wir wollen wie Menschen wohnen" steht da etwa, und "München für alle". Unter ihnen sind auch mehrere Männer, die wenige Wochen zuvor das Feuer unter der Reichenbachbrücke miterlebt haben. Das Lager war dabei vollständig abgebrannt. Kurz nach Mitternacht hatten Passanten Rauch bemerkt, wenig später schlugen Flammen über die Brückenbrüstung. Verletzt wurde zum Glück niemand, aber die Menschen unter der Brücke haben alles verloren.
"Alles ist verbrannt, das heißt sie mussten sich alles neu besorgen – teilweise aus dem Sperrmüll."
Erstmals auch Übernachtungsplätze im Sommer
Viele sind nach dem Feuer doch erst einmal in die Bayernkaserne gegangen. Dieses Jahr wird das Programm dort ausgeweitet: Zum ersten Mal gibt es nicht nur den Kälteschutz im Winter, sondern auch Übernachtungsmöglichkeiten im Sommer. Es ist ein Pilotprojekt und Andreea Untaru von der Beratungsstelle Schiller 25 hofft, dass es auch angenommen wird.
"In den letzten Jahren in der Sommerzeit, wenn die Menschen keine Alternativen hatten, haben wir viele angetroffen, die in Abbruchhäusern übernachtet haben, weil sie wirklich ein Dach über dem Kopf brauchen und sich auch wünschen, irgendwo zu schlafen und nicht unter freiem Himmel."
Zurück in der Beratungsstelle an der Schillerstraße: ein großes Büro, Schreibtisch an Schreibtisch, eine kleine Sitzgruppe. Neben Andreea Untaru sitzt jetzt Viorica mit einem Glas Wasser in der Hand. Die 40-jährige Rumänin hat schon ein Dach über den Kopf. Vor einem Jahr ist sie nach Deutschland gekommen, sie arbeitet bei einer Reinigungsfirma, vor zwei Wochen hat sie ihre beiden Töchter, acht und elf Jahre alt, nachholen können.
"Momentan wohnt sie in einem Appartement mit mehreren Personen, und sie hofft, dass sie künftig etwas Besseres finden kann, vielleicht auch einen extra Job, damit sie besser verdient, um künftig allein mit ihren Töchtern zu wohnen. Wo sie jetzt gerade arbeitet, lief es in den ersten drei Monaten gut, und jetzt nicht mehr."
Auch Irén aus Budapest möchte raus aus der Bayernkaserne. Ein bezahlbares Zimmer kann sie aber trotz intensiver Suche nicht finden. Mit ihrer Sozialberaterin überlegt sie, wie es weitergehen soll. "Ich suche im Internet, in der Zeitung..."
Toth sagt: "Am Hart hat sie sich zuletzt ein Zimmer angeschaut, da wollen die Vermieter 1000 Euro für ein Zimmer haben. Auch wenn sie das zu zweit angemietet hätten, hätte es nicht funktioniert, weil sie kann nicht 500 Euro zahlen."
Also packt sie weiter jeden Tag in der Früh ihre Sachen und gibt notgedrungen viel Geld für einen Spind am Hauptbahnhof aus.
"Wenn wir jetzt durchrechnen würden, wie viel sie monatlich für den Spind am Hauptbahnhof zahlt, damit sie ihre Sachen sicher untergebracht hat, da kommt schon ein billiges WG-Zimmer raus."
"Ungarn? Nein, ich bleibe in München"
170 Personen haben in den vergangenen fünf Jahren regelmäßig in der Bayernkaserne gelebt, insgesamt sind es jedes Jahr 3000 Menschen, die dort unterkommen, und den minutiösen Ablauf akzeptieren müssen.
"Frühestens um 17 Uhr darf man rein, in der Früh muss man spätestens um viertel vor neun raus."
Trotzdem: Nach Ungarn zurückgehen, kommt für Irén nicht in Frage.
"Ungarn? Nein, nein, ich bleibe in München – München okay, super – Deutschland super."