Digitale Teilhabe für Obdachlose

Zwischen Youtube-Videos und der Suche nach Steckdosen

29:23 Minuten
Eine Person in schwarzer Jacke hält sein Smartphone mit Schutzhandschuhen in der S-Bahn am Alexanderplatz in Berlin.
Wer keinen Zugang zum Internet hat, wird von der gesellschaftlichen Teilhabe immer mehr ausgeschlossen. © imago images / Emmanuele Contini
Von Vera Klocke und Julian Farny |
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Ob eine Chatnachricht, ein Unterhaltungsvideo oder eine E-Mail ans Amt – auch für wohnungslose Menschen wird das Smartphone immer wichtiger. Aber oft werden die Geräte geklaut, und der Strom dafür muss ja auch irgendwo herkommen.
„WLAN: anschalten. Mobile Daten: anschalten. Jetzt zeigt er an: Da ist was am Laufen. Gedrückt halten. BVG-Wifi. Gespeichert. Jetzt müsste eigentlich kommen: verbunden. Ja. Jetzt bin ich über BVG-Wifi im Internet. Jetzt bin ich im Internet.“
Berlin. Es ist ein kalter Tag im Januar 2022. Nico hat uns mit zu seiner Lieblingsbank in einer U-Bahnstation im Osten Berlins genommen, um uns zu zeigen, wie er ins Internet geht. Manchmal verbringt er hier viele Stunden, um Youtube-Videos anzuschauen. Am liebsten schaut er Tiervideos und die Testflüge der Falcon-Raketen von Elon Musk.
An uns vorbei laufen Passant:innen, die meisten zügig, fast alle schauen auf ihre Smartphones. Genau wie Nico. Doch für ihn ist die U-Bahnstation kein Ort, den er passiert, kein terminierter Aufenthalt auf dem Weg nach Hause. An manchen Tagen ist die Bank in der Mitte der Station sein Wohnzimmer. Denn Nico ist eine von vielen obdachlosen Personen in Berlin. Sein Smartphone: sein täglicher Begleiter. 

Mehr als 250.000 wohnungslose Menschen

In Deutschland leben circa 37.400 Menschen auf der Straße. Das zeigt eine Studie, die im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im September 2022 veröffentlicht wurde. 
Hinzu kommen viele wohnungslose Personen, die auch keinen festen Wohnsitz haben, aber oft noch bei Freund:innen, Familie oder in vorübergehenden Übernachtungsmöglichkeiten unterkommen. Aktuell wird die Gesamtzahl wohnungsloser Menschen von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. auf über 250.000 Personen geschätzt. 
In diesem Feature verwenden wir – in Absprache mit den obdach- und wohnungslosen Personen, ausschließlich ihre Vornamen.
Durch Corona hat sich die Mehrheitsgesellschaft noch einmal stärker digitalisiert. Es wurden schnellere Internetanschlüsse angeschafft, Schulunterricht und Treffen, die sonst im analogen Raum stattgefunden hätten, wurden zu Zoom verlegt. Gleiches gilt für Sozialämter. Während man dort früher persönlich vorbeigehen konnte, um Anträge einzureichen, werden mittlerweile oft nur noch E-Mails akzeptiert. Diese Entwicklungen treffen vor allem die Menschen, die es ohnehin schon schwer haben, an der digitalen Welt teilzuhaben. Dazu gehören obdachlose und wohnungslose Personen.
„WLAN ausbauen, öffentliches, freies, unbegrenzt natürlich ohne Datenvolumen. Mehr Informationen für die Obdachlosen, wo sie sich hinwenden können, ohne in die Massenunterkünfte zu müssen“, fordert Sven, ein obdachloser Mann aus Berlin.

Handys sind auch für Obdachlose wichtig

Das Thema Mediennutzung durch Obdach- und Wohnungslose ist ein noch wenig untersuchter Bereich. Das gilt zum einen für die wissenschaftliche Forschung, zum anderen aber auch für die Politik und soziale Einrichtungen. Diese haben sich lange Zeit kaum mit der digitalen Versorgung von wohnungs- und obdachlosen Personen auseinandergesetzt. 
Janet, eine Frau aus Berlin, die mehrere Jahre lang auf der Straße gelebt hat, erzählt uns, wie wichtig Handys sind, um in Kontakt mit dem eigenen Umfeld zu bleiben:

Man hat ja oft so das Gefühl, oder das Vorurteil, dass Obdachlose nur Obdachlose kennen, aber wir kennen durchaus auch noch andere Leute. Und mit denen Kontakt zu halten oder, bei anderen, mit den Eltern oder so was, da ist so ein Handy natürlich praktisch. Blöd ist nur immer, wenn es geklaut wird. Ist ja auf der Straße leider oft so, dass dir dein Handy geklaut wird oder sonst irgendwie was.

Janet

Janet ist eine von 50 obdach- und wohnungslosen Personen, die in der Habersaathstraße in Berlin-Mitte ein Haus besetzen. Dort hat sie mittlerweile WLAN und kann ins Internet gehen, ohne auf einen Hotspot im öffentlichen Raum angewiesen zu sein. Sie erzählt von Gewalt, der gerade obdachlose Frauen ausgesetzt sind. Smartphones, sagt Janet, seien auch wichtig, um im Notfall Hilfe rufen zu können.
In Berlin schätzt man die Zahl von obdachlosen Frauen auf circa 2500. Janet ist die Einzige von ihnen, die wir treffen, die der Aufnahme unseres Gesprächs zustimmt.

Ein Smartphone hilft im Tagesablauf

Während unserer Recherche lernen wir viele Personen kennen, denen es bei der Nutzung der Geräte vor allem um die Gestaltung des Tagesablaufs geht. Wenn Nico keine Videos schaut, spielt er Spiele oder hört Radio. Das Radio ist ihm besonders wichtig. Es ist das Erste, was er morgens einschaltet, nachdem sein Wecker geklingelt hat.
„Schon frühmorgens werde ich geweckt von Bach, der Goldberg- Variante. Und dann steck ich mir die Ohrstöpsel rein und dann als allererstes die Nachrichten vom RBB Info-Radio. Geht ja nur fünf Minuten, dann schalt ich um auf … Weil die Nachrichten beim Deutschlandfunk, die gehen ja länger, die sind ja dann zehn Minuten. Und dann kommt danach immer ´Informationen am Morgen`, wo sie dann immer auf Themen eingehen. Dann bleibe ich auch noch eine Weile hängen. Und höre dann noch eine Weile Deutschlandfunk an.“
Nico hört Radio über einen Empfänger, der in seinem Smartphone eingebaut ist. Internetradio nutzt er nicht. Dafür müsste er Datenvolumen kaufen, das er sich nicht leisten kann. 
„Deswegen nutze ich das Smartphone hauptsächlich also wie gesagt, unterwegs mit irgendwelchen Spielchen, von denen da einige reichlich vorhanden sind. Mittlerweile haben sich da schon einige angesammelt. Dann gibt es auch noch YouTube. Diese Shorts. Da sind so … von den Usern selber hochgeladene Geschichten … alle möglichen Themen, also lustige Katzen und Hundevideos. Oder irgendwelche Leute, die sehr interessante Stunts machen, auch sportlich … da gibt es alles, alles Mögliche.“
Wir fragen Nico, wie viel Zeit er täglich am Handy verbringt. 
„Wenn ich unterwegs bin, kann ich ja nicht viel anderes machen, außer halt ein paar Spiele. Ich bin auf jeden Fall … einige Stunden pro Tag. Also wie gesagt, wenn ich auch WLAN zur Verfügung habe, ist die Begrenzung immer die Zahl da.“
Nico deutet auf das Batteriesymbol. Insgesamt hat er drei Handys, die alle unterschiedliche Defekte haben. Ein altes Tastenhandy, mit dem er Anrufe macht. Ein Smartphone, das er gefunden hat und dass er zum Radio hören nutzt. Ein neueres Smartphone, mit dem er Youtube-Videos schaut. Alle drei Geräte trägt er in den verschiedenen Taschen seiner Weste. Manchmal klopft er die Weste ab, nur um zu schauen, ob sie noch alle da sind. 
Sie sind das Wertvollste, was er bei sich hat. Nachts schläft er mit den Geräten am Körper. Er erzählt uns, dass er auf sie aufpassen würde, wie ein “Schießhund”. Vor allem im Sommer, wenn er draußen schläft. Im Winter schläft er in einer Notschlafstelle in Berlin. 

Forschungsprojekt zur Smartphone-Nutzung

Nico hat das Smartphone, mit dem er Videos schauen kann, vor neun Monaten von Forscher:innen der MOWO-Studie bekommen. Die Abkürzung MOWO steht für die Erforschung der Nutzung mobiler Medien durch Wohnungs- und Obdachlose in Berlin. Das Forschungsprojekt ist seit 2019 an der Universität der Künste in Berlin angesiedelt. Neben einer ethnografischen Erforschung der Mediennutzung haben die Forscher:innen auch eine Umfrage durchgeführt. Insgesamt wurden im Rahmen des Projekts circa 800 Smartphones an obdach- und wohnungslose Personen ausgeteilt.
„Ich bin Maren Hartmann, Professorin für Kommunikations- und Mediensoziologie an der UdK, also der Universität der Künste Berlin.“
Maren Hartmann hatte die Idee für die Studie.
„Als ich ursprünglich das Projekt entworfen hatte – das ist schon einige Jahre her – da war tatsächlich der Anteil derjenigen, die Smartphones haben, noch geringer. Da kann ich Ihnen keine Zahlen nennen, weil es sie damals einfach noch nicht gab. Aber es war in Beobachtungen zu sehen, dass es durchaus Leute gab, die auf der Straße lebten und keine Smartphones hatten. Das hat definitiv abgenommen. Also es gibt eine relativ weitreichende Nutzung. Aber, und das resultiert so ein bisschen aus dieser Idee von Verlust oder Ähnlichem mehr, es gibt eine sehr unterbrochene Nutzung von Smartphones, also immer wieder auch neue Telefone an sich, die besorgt werden müssen. Oder aber die SIM-Karte ist nicht mehr die gleiche wie vorher.
Das heißt, man hat nicht mehr die gleiche Nummer oder Ähnliches mehr. Diese Grundidee von Verbundenheit, von Konnektivität, die wir eigentlich in unserem Alltag leben. Ich bin unter der gleichen Nummer erreichbar. Ich habe eine über Jahre aufgebaute Liste von Kontakten oder Ähnlichem mehr. Die funktioniert in diesem Kontext nicht. Es gibt immer noch Leute, die ihre Smartphones dementsprechend temporär nicht haben oder die zu schlechte haben oder die dann doch gar keins haben. Aber diejenigen, die gar keins haben und auch lange Zeit nicht hatten, das ist tatsächlich eine geringere Zahl inzwischen.“

Neue Unterhaltungsmöglichkeiten mit dem WLAN

Davon, dass der Smartphonebesitz und die Internetnutzung bei obdach- und wohnungslosen Personen in den letzten Jahren stark zugenommen hat, hören wir bei unserer Recherche immer wieder. Der Mitarbeiter einer Wohnungslosentagesstätte erzählt uns, dass es seiner Wahrnehmung nach im Jahr 2015 eine Zäsur gab. Obdachlose Personen hätten nachts in einer Traube vor der Einrichtung gestanden, um das WLAN zu nutzen. Dabei sei es viel um das Schauen von Videos oder das Hören von Musik, um Ablenkung und Unterhaltung gegangen. 
Das zeigt auch die Forschung von David Lowis, der als Wissenschaftlicher Mitarbeiter gemeinsam mit Maren Hartmann in der Mowo-Studie mitarbeitet. 
„Am Projekt, an dem ich arbeite, haben wir zwischen April und Mai 2022 mit Menschen ohne festen Wohnsitz eine Umfrage durchgeführt. Dafür waren wir in Berlin bei fünf verschiedenen Tagestreffs und haben insgesamt mit 141 Menschen ohne festen Wohnsitz gesprochen.“
Bei der Umfrage haben die Forscher:innen rausgefunden, dass 59 Prozent der befragten obdach- und wohnungslosen Menschen in Berlin ein Smartphone besitzen. Dabei hat sich gezeigt, dass es vor allem um das Schauen von Videos geht. 
„Und zwar haben 86 Prozent unser Teilnehmenden YouTube genutzt. Das sind sogar noch mehr als die, die WhatsApp benutzen. Ungefähr 70 Prozent. Insgesamt hat sich dadurch einfach für uns gezeigt, dass die digitale Mediennutzung von obdachlosen Menschen auch vor allem Unterhaltung in den Vordergrund stellt.“ 

Ein Stück Privatsphäre im öffentlichen Raum

Die Smartphones bieten eine Möglichkeit von Rückzug und Privatheit im öffentlichen Raum. Gleichzeitig zeigen unsere Gespräche mit obdachlosen Personen auch, dass die Geräte es ermöglichen, sich über aktuelle Ereignisse zu informieren.
Wie bei Francesco, der ursprünglich aus Italien kommt und seit vielen Jahren in Berlin obdachlos ist. Täglich schaut er jedes einzelne Video, das in der Tagesschau-App bereitgestellt wird. 
„Das hier, das ist mein Leben. Hier zum Beispiel. Das ist aktuell. Geh ich dran und dann gucke ich mir mindestens zehnmal pro Tag. Und dann bin ich immer auf dem laufenden, von diesen ganzen, gerade militärischen Bewegungen, von dem ganzen Drama, das sich in der Welt abspielt.“
Als Francesco sein erstes Smartphone im Dezember 2021 bekommt, sagt er einen einprägsamen Satz. “Jetzt weiß ich, wie die Stimme von Jens Spahn klingt.” Jens Spahn war zu dieser Zeit als Gesundheitsminister omnipräsent. Zuvor kannte Francesco ihn nur von Fotos in der Zeitung. Er schläft in seinem Auto, das er unter einer Brücke abgestellt hat. Weil er in der Vergangenheit nachts Übergriffe erlebt hat, traut er sich aber nicht mehr, in der Dunkelheit zu schlafen. 

Weil, ich schlafe am Nachmittag ein paar Stunden und am Morgen, und nachts bleibe ich wach. Weil ich habe Angst, vergiftet oder einfach geschlagen zu werden. In der schwierigen Zeit, in der Dunkelheit, da versuche ich wach zu bleiben. Und damit habe ich einen Partner, eine Freundschaft: das Smartphone.

Francesco

Für drei Monate Guthaben muss Francesco im Schnitt drei Tage Flaschen sammeln. Doch das ist es ihm wert. Wenn wir uns treffen, erzählt Francesco von Videos, die er gesehen hat, und kommentiert politische Ereignisse. Und er zeigt Fotos aus seiner Heimatstadt in Italien. Fotos, die er im Internet findet. 
Auch Nico nutzt das Smartphone neuerdings, um Fotos zu machen. Die verschickt er dann manchmal über WhatsApp an Freunde und Freundinnen. 
„Und da jetzt auf dem Handy sind ja auch sogar viele Fotos. Das heißt, du benutzt das auch eigentlich, um so Erinnerungen festzuhalten …“
„Ja, so besondere Momente. Ich hab hier zum Beispiel meinen Spielplatz, da kommt mich ab und zu mal ein Füchslein besuchen.“
„Ah, das ist der Spielplatz, auf dem du im Sommer schläfst, oder? Der ist ja richtig nah …!“
„Jaja, der ist im Winter auch sehr zutraulich und guckt, was ich da mache. Wie gesagt, so eine lustige Geschichte, die muss man halt für die Nachwelt festhalten.“

Identitätsarbeit mit dem Smartphone

„Ja, mein Name ist Kai Hauprich, ich bin einerseits Sozialarbeiter, war aber auch lange Zeit an der Hochschule und bin auch Sozialarbeitswissenschaftler, das heißt, erforsche auch immer, wie soziale Arbeit gemacht werden muss, damit sie gut funktioniert.“
Kai Hauprich hat in seiner Doktorarbeit als einer der ersten in Deutschland die Handy- und Internetnutzung von wohnungslosen Menschen erforscht. Dabei hat er sich auch mit Fotos, wie sie Nico macht, befasst: 
„Das hat auch sehr viel mit Identität zu tun, digitale Mediennutzung. Alleine, was sie konsumieren und welche Informationen sie von sich ins Internet stellen und was sie da suchen und welche Apps sie sich runterladen. Die ganzen Fotos, die sie auf ihrem Smartphone haben, in den Kontakten, das ist ja eine Form von Identitätsarbeit. Und das machen Sie auch zu Hause bei sich. In der Wohnung oder auf dem Schreibtisch stehen die Fotos ihrer Liebsten, ihrer Mutter, ihrer Kinder oder sonst wem.
Und wenn sie das nicht mehr tun können, dann suchen sie eben auch andere Wege, um diese Identitätsarbeit zu leisten. Und das kann man auch mit Smartphones. Und wohnungslosen Menschen machen das auch. Die haben da alle ihre sozialen Kontakte drauf. Die haben Fotos von irgendwelchen schönen Ereignissen. Die haben die Fotos von ihrer Familie da drauf, diese Identitätsarbeit, die ist auch ganz wichtig.“
Uns begegnen diese Elemente von Identitätsarbeit immer wieder. Für einen jungen obdachlosen Mann, den wir treffen, der aber anonym bleiben möchte, ist es deswegen wichtig, ein Smartphone zu besitzen, weil er in einer festen Gruppe regelmäßig das Videospiel “Call of Duty” spielt. Call of Duty ist ein Ego-Shooter, bei denen Soldaten verschiedene Missionen erfüllen müssen. Oft sitzt er für mehrere Stunden im Park oder bei Kaufhof und spielt.
Die Personen, mit denen er sich dafür online verabredet, kennen ihn als gewissenhaften Anführer ihrer digitalen Gemeinschaft. Sie wissen nicht, dass er teilweise mit vielen anderen Personen in einer Notschlafstelle liegt, während er lustige Nachrichten in ihren Chat schreibt. Als er sein Handy einmal verliert, verliert er in dieser Zeit auch jeden Kontakt zu diesen Personen. Als er wieder an ein Smartphone gekommen ist, hat er als erstes “Callof Duty” heruntergeladen, sich eingeloggt und in den Chat geschrieben: “Ich bin wieder da.” 

Wie hilfreich sind Smartphones wirklich?

Dieser Mann hat sein Smartphone im Rahmen einer Handy-Austeilung erhalten. Die Austeilungen finden dezentral statt und werden über Spenden finanziert. Gespendete Geräte kommen dabei von sozialen Einrichtungen, Privatpersonen oder aus der Industrie.
Mehrere der obdachlosen Personen, mit denen wir sprechen, haben auf diesem Weg schon einmal ein Handy erhalten. Für sie war es zu diesem Zeitpunkt eine große Hilfe. Ein obdachloser Mann, Tomas, erzählt uns etwa, dass er mit einem solchen Smartphone einen Job gefunden hat. Trotzdem fragen wir uns, ob die Austeilung von Smartphones langfristig eine sinnvolle Lösung ist oder vom eigentlichen Problem ablenkt. Schließlich ist doch Wohnraum das Wichtigste, wenn es um die Bekämpfung von Obdachlosigkeit geht. 
„Einer dieser Widersprüche ist der, den Sie gerade benennen, nämlich zwischen pragmatischer, direkter Hilfe. Schlafsack austeilen, Lebensmittel rausgeben, jemandem das Handy laden lassen und so weiter und auf der anderen Seite eine langfristige, stabile und auf mit einer gesetzlichen Grundlage Form von Teilhabe. Und irgendwann muss es doch aber auch möglich sein, dass ich den Schlafsack nicht brauche, weil ich eine eigene Wohnung habe. Dass ich mein Handy hier nicht laden muss, weil ich eine eigene Wohnung habe, wo ich Strom habe, dass ich nicht Lebensmittel von jemandem anderen brauche, weil ich selber von Lohnarbeit mein Kühlschrank voll kriegen kann. Würdevoll", sagt Kai Hauprich.
Doch diese Widersprüche sind schwer aufzulösen. 
„Und deswegen sage ich: Selbstverständlich, wir brauchen so etwas wie eine Lebensmittelausgabe und eine Kleiderkammer, damit derjenige nicht friert und hungert. Aber im nächsten Schritt muss ich das doch auch politisch artikulieren und sagen: Liebe Leute, da stehen Menschen, die haben Hunger und frieren. Wie kann das eigentlich in unserem Wohlfahrtsstaat sein? Genauso würde ich auch sagen: Selbstverständlich, wenn ich ein gut erhaltenes altes Gerät habe, kann ich sagen, guckt man damit, kannst du wenigstens schon mal telefonieren. Aber gleichzeitig muss es doch dem Gesetzgeber auch sagen: Guck mal, da sind Leute, die müssen Zugang zum Mobiltelefon und zum Internet haben. Und wir brauchen eine gesetzliche Grundlage, damit die den Anspruch darauf haben, digital teilzuhaben", so Hauprich.

Individuelle Schulungen

Als Francesco vor einem Jahr sein erstes Smartphone bekam, war es, wie er sagt, der erste Touchscreen, den er je berührt hat. Mittlerweile möchte er das Smartphone nicht mehr missen. Jedes Mal, wenn wir ihn treffen, kann er etwas mehr mit dem Gerät machen. Zu Beginn übt er, wie er vom Sperrbildschirm zu WhatsApp kommt. Mittlerweile findet er ohne Probleme zur Tagesschau-App.  
Sein Beispiel zeigt, wie wichtig digitale Kompetenzen für eine digitale Teilhabe sind. Und die sind vor allem dann schwer zu erlernen, wenn der Lebensmittelpunkt die Straße ist. Ein Hilfsangebot bietet der Verein „Neue Chance“ mit dem Projekt "Digitales Zuhause". Wir treffen Anna Lederle, die Sprecherin des Vereins:
„Das ´Digitale Zuhause` ist ein Projekt für wohnungslose Menschen, die bisher eigentlich mehr oder weniger offline waren. Zum einen, weil sie keine Geräte besitzen und zum anderen aber auch, weil ihnen bestimmtes Wissen oder bestimmte Kompetenzen in der Nutzung von digitalen Angeboten fehlen.“
Deshalb werden die wohnungslosen Personen über das Projekt zum einen mit technischen Geräten versorgt, bekommen aber zum anderen auch in Einzelterminen Schulungen, in denen auf die jeweiligen Bedürfnisse eingegangen wird.

Es macht keinen Sinn, Leute in Gruppen da reinzusetzen, zu sagen, wir zeigen euch jetzt mal, wie man eine E-Mail schreibt, weil die Voraussetzungen so unterschiedlich sind und das, was die Leute machen wollen, damit einfach total unterschiedlich ist. Und sie so auch einfach nach ein paar Wochen kommen können und sagen können: Ich wollte eigentlich nur WhatsApp Nachrichten schreiben. Aber ich hab‘ jetzt gesehen, man kann ja damit auch das und das machen … Kannst Du mir das mal erklären.

Anna Lederle

Besonders durch die Pandemie ist die Nachfrage nach digitalen Schulungen und Geräten noch einmal drastisch gestiegen. Dabei sind die Bedürfnisse der Personen, die zum digitalen Zuhause kommen, sehr verschieden. 
„Das heißt, der Bedarf ging tatsächlich von ´ich will eigentlich einen Schulabschluss machen. Aber jetzt ist überall irgendwie nur noch online Unterricht möglich. Und ich habe gar keinen Laptop, der funktioniert‘ bis hin zu ‚ich habe 15 Jahre auf der Straße gelebt. Ich habe keine Ahnung, wie das Internet funktioniert, und hatte auch noch nie wirklich einen Computer‘.”

Die Suche nach einer Steckdose und WLAN

Die Kompetenz, Messenger-Dienste wie WhatsApp, Telegram, aber auch Facetime und Internetanrufe nutzen zu können, wurde durch Corona noch einmal besonders wichtig. Viele der Personen, von denen Anna Lederle spricht, und die zum Digitalen Zuhause kommen, sind wohnungslos. Anders als obdachlose Personen wie Francesco, der im öffentlichen Raum übernachtet, kommen wohnungslose Personen noch zeitweise unter. Sie schlafen auf den Sofas von Freundinnen oder in staatlichen Unterkünften für wohnungslose Personen.

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Oftmals haben sie dadurch noch verhältnismäßig gute Bedingungen, um an Ressourcen wie Strom oder Internet zu kommen. Dies gestaltet sich für obdachlose Personen meistens als Herausforderung. Für viele von ihnen ist die Suche nach einer Steckdose oder einem offenen WLAN-Netz inzwischen fester Bestandteil des Alltags. Francesco zum Beispiel fährt fast jeden Tag mit einem der neueren Linienbusse vom Berliner Stadtteil Schöneberg nach Zehlendorf – und zurück. Mehr als 40 Minuten pro Strecke, nur um den Akku eines Geräts über die im Bus verbauten USB-Anschlüsse aufzuladen. 
Cristian, ein Ende 30-jähriger obdachloser Mann aus Rumänien, ist mittlerweile seit einem Jahr in Berlin. Er nimmt uns mit zu seiner Steckdose in der Nähe der Technischen Universität im Westen Berlins. An diesem Tag hat Cristian Probleme beim Laden seines Smartphones. Die Steckdose hat ihm ein Freund gezeigt, der ebenfalls obdachlos ist.
Seitdem besucht er sie fast jeden Tag, um sein Smartphone zu laden, und im offenen WLAN der Universität zu surfen. Mittlerweile sitzen sie hier oft nebeneinander, laden die Geräte und schauen Videos, bevor sie zurück zu ihren Schlafplätzen gehen. Diese Orte, die Steckdose und das offene WLAN-Netz, bestimmen Cristians täglichen Weg durch die Stadt. Cristian nutzt das Smartphone kaum, um mit anderen zu sprechen. Eine SIM-Karte und eine Handynummer bräuchte er eigentlich gar nicht, erzählt er uns.

Folgen des Anti-Terror-Gesetzes für Obdachlose

Viele der Personen, die wir treffen, haben ein schwieriges Verhältnis zu SIM-Karten. Das liegt daran, dass die Karten ohne feste Anschrift und ohne Personalausweis in Deutschland seit einigen Jahren nicht mehr legal erhältlich sind: seit 2017. Eine Folge des Anti-Terror-Gesetzes. Mit dieser Maßnahme reagierte die Regierung auf Attentäter, die SIM-Karten auf falsche Namen registriert hatten, um anonym kommunizieren zu können. Betroffen sind davon auch Personen ohne festen Wohnraum, die sich nicht ausweisen können und über keine gültige Adresse verfügen.
Viele von ihnen greifen seitdem auf vorregistrierte SIM-Karten zurück, die in Kiosken unter dem Ladentisch verkauft werden. Diese Prepaid-Karten sind um einiges teurer als langfristige Handyverträge. Zudem kaufen sich viele der Personen immer wieder neue Sim-Karten, um von den anfänglichen Rabatten profitieren zu können. Durch die sich ständig wechselnden Nummern, sind die Personen noch einmal schwerer zu erreichen. 
Als wir uns mit Cristian für ein weiteres Treffen verabreden wollen, erreichen wir ihn plötzlich nicht mehr. Wir gehen noch einmal am Bahnhof Zoo entlang, wo er sich häufig aufhält – finden ihn jedoch nicht. Vielleicht ist sein Handy kaputt, vielleicht hat er es verloren oder durch eine neue Sim-Karte seine Nummer gewechselt. Wir erleben das, was Maren Hartmann, die Initiatorin der MOWO-Studie, als “Diskonnektivität” bezeichnet: Die Verbindung von Cristian zu uns und die Verbindung von Cristian zur digitalen Welt sind unterbrochen. Er ist offline, unerreichbar, wie verschwunden. Die Zahlen, die David Lowis in seiner Umfrage mit den wohnungs- und obdachlosen Personen erhoben hat, zeigen, dass das häufig geschieht. 
„Von den Menschen, die wir befragt haben, haben 72 Prozent im letzten Jahr mindestens ein Smartphone verloren. Das ist eine wahnsinnig hohe Zahl. Wir wissen zwar nicht genau, wie viele Menschen pro Jahr in Deutschland ihr Smartphone verlieren, aber in der britischen Gesamtbevölkerung haben wir die Zahlen tatsächlich: Und das sind weniger als ein Prozent der Menschen im Jahr. Das heißt, es ist eine unglaublich viel höhere Zahl, um die es sich hier handelt.“ 

Innovationen gezielt für wohnungslose Menschen

Es ist ungleich schwerer, ein Handy zu behalten, wenn der Lebensmittelpunkt die Straße ist. Die häufigste Ursache für einen Verlust ist Diebstahl, sagt Lowis. Außerdem gehen die Geräte im Alltag auf der Straße schneller kaputt. Um das zu vermeiden – oder zumindest die Gefahren zu mindern – haben Forscherinnen und Forscher der Technischen Hochschule Nürnberg im Rahmen des Projektes Smart Inklusion für Wohnungslose, kurz SiWo, unter anderem abschließbare Ladestationen in der Innenstadt Nürnbergs aufgestellt. Dort können Smartphones in kleinen Boxen geladen werden, während die Geräte sicher aufbewahrt sind.
Solche Innovationen sind wichtig. Das findet auch Sven, der obdachlose Mann aus Berlin. Trotzdem befürchtet er, dass mit dem Aufbau dieser Infrastruktur vom eigentlichen Problem abgelenkt wird. Und das sei, dass es zu wenig Wohnraum gebe und Menschen auf der Straße leben müssten. 
„Wohnraum für die Obdachlosen, nicht diese Infrastruktur. Klar, Infrastruktur ist auch wichtig. Weil es ja Leute gibt, die wollen keine Wohnung. Für die müsse man natürlich auch eine Lösung haben, die keine wollen. Aber es gibt halt viele, viele Leute, die brauchen eine Wohnung von den Obdachlosen. Dann können wir uns Gedanken machen, wie es weitergeht. Sie wieder in den sozialen Bereich zurückzukriegen.“

Das oberste Ziel ist eine eigene Wohnung

Wohnraum ist immer noch der wichtigste Bedarf von obdach- und wohnungslosen Menschen. Das betonen auch das Forschungsteam der Technischen Hochschule Nürnberg und die anderen Expertinnen und Experten, mit denen wir sprechen, immer wieder. Eine Initiative, um Wohnraum ohne Vorbedingungen an Menschen zu vermitteln, ist Housing First. In Berlin ist “Housing First”, also “Wohnraum Zuerst”, seit 2018 ein gemeinsames Pilotprojekt der Berliner Stadtmission und der Neue Chance gGmbH. Seitdem wurden insgesamt 95 Wohnungen an obdachlose Menschen in Berlin vermittelt. 
Wir treffen uns mit Vertreterinnen der Initiative. Dagmara Lutoslawska erklärt das Prinzip von Housing First:
„Wir wissen zwar, dass das in der echten Welt nicht ganz so ist, aber wir haben diesen Gedanken, dass Wohnen ein Menschenrecht ist mal für voll genommen und stellen an die Menschen, die von uns Wohnraum vermittelt bekommen, keine Anforderungen. Das heißt, kein Mensch muss irgendwelchen Regeln folgen oder irgendwelche Dinge erfüllen, um von uns den Wohnraum zur Verfügung gestellt zu bekommen."
Auch hier zeigt sich wieder, wie wichtig die Nutzung digitaler Medien für Menschen ohne eigene Wohnung ist. Denn Merle Klonk, Sozialarbeiterin in dem Projekt erzählt uns, dass die meisten Anfragen auf digitalem Wege kommen. 
„Für die aktuellen würde ich tatsächlich fast 95 Prozent sagen, die über irgendeinen digitalen Weg, das bedeutet E-Mail, Telefon, Festnetztelefon beziehungsweise auch eigenes Handy uns erreicht haben.“
Es ist kaum noch möglich, ohne digitale Medien an der Gesellschaft teilzuhaben. Smartphones sind wichtig, um Wohnraum und Jobs finden zu können. Aber, und das haben unsere Gespräche gezeigt, auch um Videos zu schauen und Musik zu hören und so – zumindest für einen Moment – den Lärm der Stadt zu vergessen. Deshalb hat Nico auch eine Forderung:
„Weltweit freies WLAN!“
Das löst zwar das grundsätzliche Problem noch nicht, wäre aber zumindest ein erster Schritt in die richtige Richtung. 

Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Friederike Wigger
Technik: Sonja Maronde
Es sprechen: Vera Klocke und Julian Farny

Transparenzhinweis: Unsere Autorin Vera Klocke hat für dieses Feature auch auf Erkenntnisse zurückgegriffen, die sie als Mitarbeiterin an der MOWO-Studie gewonnen hat.

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