Obdachlose

Was hilft das Helfen?

Udo, ein Obdachloser, sitzt in Berlin an der Spree im Regierungsviertel und bittet um Unterstützung.
Bettler gibt es viele, insbesondere in Großstädten. Viele ignorieren sie, mancher spendet etwas. © dpa / picture alliance / Kay Nietfeld
Von Eva Sichelschmidt |
Wem gebe ich etwas? Begegnen wir Bettlern, stellt sich diese Frage immer wieder von Neuem. Manch einer folgt einem Prinzip - ohne zu wissen, was wirklich hilft. Unsere Autorin Eva Sichelschmidt über ein Dilemma.
Als der Mann mit dem Schifferklavier über der Schulter und dem dreckigen Pappbecher in der Hand das enge italienische Restaurant betrat, verdrehte mein Freund A. die Augen. "Oh, nein! Jetzt bitte nicht noch Musik!" Doch schon erklang er, der Lambada. "Wenn sie musizieren, gebe ich immer etwas", sagte Freundin B.
Da stand A. auf und erklärte entschlossen, dass er dem Mann jetzt Geld geben würde, wenn er aufhöre sein Instrument zu quälen. Das sei zynisch, da waren sich alle anderen einig. Mit einem Euro helfen zu wollen, sei zynischer, entgegnete A. Und schon brandete eine heftige Diskussion auf.

Wem gebe ich was?

Der Weg vom Mitleid zum Gefühl der Belästigung ist kurz. Wer in einer europäischen Metropole vor die Haustür tritt, trifft nach wenigen Metern den ersten Bettler - und dann schnell den nächsten.
Nicht alle diese Existenzen öffnen einem das Herz. Viele wirken wie Mitglieder organisierter Wegelagerei. Jammernde Wahrsagerinnen, denen man nichts gibt, schleudern einem in Italien schon einmal die schlimmsten Flüche hinterher.
Wem gebe ich etwas? Mit dieser Frage sind wir ständig beschäftigt. Manch einer folgt einem Prinzip. Mein Freund D. gibt jedem alten Mütterchen etwas, weil es ihn an seine eigene Mutter erinnert. Meine Freundin K. gibt jungen Menschen und Kindern Geld, weil diese das Leben schließlich noch vor sich haben. Meine Freundin C. gibt immer dem ersten, den sie trifft, zehn Euro.

Hilfe kann auch bevormundend sein

Ich gebe denjenigen etwas, die so richtig fertig aussehen, weil der Leiter der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo der Meinung ist, die Kaputten hätten es am nötigsten, denn die würde niemand mehr anschauen wollen. Aber wie helfe ich richtig?
Meine Schwester fragt die Bettler vor den Supermärkten, was sie ihnen von ihrem Einkauf mitbringen soll. Nie werde ich vergessen, wie mich Ende der Achtziger ein Punk in Kreuzberg anranzte, weil ich ihm Leckerlis für seinen Hund gekauft hatte. "Ey, schau mal hier in die Tasche!". Er öffnete den Reißverschluss, und eine ganze Batterie Chappi-Büchsen kam zum Vorschein. "Was glaubt ihr eigentlich? Dass ich Hundefutter trinke?" Ich war achtzehn, als mir das Problem des bevormundenden Helfens auffiel.
"Why lie - I want a beer." Dieses Pappschild sah ich das erste Mal Mitte der Neunziger in San Francisco. Der Hut dieses Bettlers war gut gefüllt. Die Offenheit hatte etwas sympathisch Entwaffnendes.

20 Euro sind zynisch - oder nicht?

Am Tisch beim Italiener gab es ganz unterschiedliche Meinungen. Drogenabhängigen oder Alkoholikern Geld zu geben und damit ihre Sucht zu finanzieren, sei unverantwortlich, meinte A. beim dritten Rotwein. Gerade den Süchtigen müsse man etwas geben, da ihr Leben durch einen Entzug stärker bedroht sei als durch ihre Sucht, wusste B. und steckte dem durch die Stuhlreihen schleichenden Musiker demonstrativ einen 20-Euro-Schein in den Becher. 20 Euro sind nicht zynisch, rief sie triumphierend.
Kinder sollen in die Schule gehen. Gesunde Menschen arbeiten. Süchtige einen Entzug machen. Obdachlose sich eine Wohnung suchen. Frauen, die sedierte Säuglinge umhertragen, gehören Verbrecherbanden an ... Gründe die Geldbörse verschlossen zu halten, gibt es unzählige. Aber noch viel mehr als das gibt es Anlass zum Mitleid.
Psychologen wissen, dass wir dann am empfänglichsten für das Spenden sind, wenn es uns selber nicht so gut geht, in der dunklen Jahreszeit zum Beispiel. Ein Gang durch die Unterführungen und die Fußgängerzonen Berlins kann einen schon einmal in emotionale Seenot bringen.

Spende kann auch Selbsthilfe sein

Warum überhaupt noch helfen, wenn alles, was man tun kann, doch nur der zischende Tropfen auf die Herdplatte Armut ist? Vielleicht liegt eine ganz eigene Hilfe im Moment des aufrichtig empfundenen Mitleids, im Innehalten und Wahrnehmen einer fremden, traurigen oder tragischen Existenz. Und im Blickkontakt, beim Verschenken eines eventuell völlig unnützen Euro, der zumindest das eine bedeutet: Ich habe dich gesehen.

Eva Sichelschmidt, geboren 1970, wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Gesellenprüfung zur Damenschneiderin zog sie 1989 nach Berlin und machte sich mit einem Maßatelier für Braut- und Abendmoden selbstständig. Es folgten Aufträge als Kostümbildnerin bei Film und Oper. Seit 1997 ist sie Inhaberin des Geschäfts Whisky & Cigars, seit Beginn 2015 auch Repräsentantin des Berliner Auktionshauses Grisebach für Italien. Mit ihrem Ehemann Durs Grünbein und ihren drei Töchtern lebt sie in Rom und Berlin. "Die Ruhe weg" ist ihr erster Roman. Mehr Informationen unter eva-sichelmschmidt.de

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