"Früher waren das für mich Penner"
Gerade einmal 46 Jahre beträgt die Lebenserwartung eines Obdachlosen in Hamburg. Auch weil Krankheiten viel zu spät erkannt und behandelt werden. Der Arzt Stanislaw Nawka will hier Abhilfe schaffen. Ehrenamtlich sucht er Menschen auf, die auf der Straße leben.
Stanislaw Nawka greift sich noch ein paar Medikamentenschachteln, streift die Regenjacke über. In Jeans und Hemd, auf jeden Fall nicht mit weißem Kittel, bereitet der Hamburger Hausarzt die nächste Tour mit dem Arztmobil vor.
"Wir haben feste Touren. Jeden Tag haben wir einen bestimmten Bereich. Das ändert sich manchmal. Und heute ist Mittwoch, da fahren wir erst zu 'Haus Betlehem', Budapester Straße. Dann zu 'Hinz und Kunzt', Steinstraße, und dann zur Bahnhofsmission. Und wenn unterwegs noch was passiert, sind wir einsatzbereit."
Der Arzt geht mit schnellen Schritten durch den Nieselregen. Der Fahrer des Arztmobils wartet im Hinterhof der "Caritas" in der Seewartenstraße im Stadtteil St. Pauli. Stanislav Nawka steigt hinten in den Kastenwagen, in dem die Obdachlosen untersucht werden können. Nawka zieht die Schiebetür zu, die Tour beginnt.
"Ich habe damals angefangen, das war eher ein reiner Zufall. Bis dahin waren die Obdachlosen für mich ehrlich gesagt 'Penner'. Und ich habe mich da nicht drum gekümmert. Aber über einen Kollegen bin ich dazu gekommen. Dann habe ich mir das angeguckt und ein paar Wochen später hat er mich gebeten, ihn zu vertreten. Er war der einzige Arzt damals. Und dann habe ich gesagt: 'OK, einen Mittwochvormittag habe ich Zeit, da kann ich das machen.' Und aus dem einen Mittwochvormittag wurden 22 Jahre."
Manche Patienten kennt er seit Jahren
Vorn lenkt der Fahrer das Arztmobil in die Parkbucht vor dem "Haus Betlehem". Jeden Tag werden Obdachlose hier mit Essen versorgt. Vor dem Eingang wartet der erste Patient. Michael ist ein großer Typ mit breitem Kreuz, ein Patient, den Stanislav Nawka schon seit Jahren kennt.
"Komm rein, Alter! Komm zu mir! Michael, was gibt's Neues? Fußball geguckt gestern?"
"Ja. – Die haben mir doch ein Teilknochen von hier rausgenommen und hier eingesetzt. Hier oben, im Halswirbel."
"Aber wann war das denn gewesen? Schon ein paar Jahre her!"
"Ja, 1994…"
"Ja. – Die haben mir doch ein Teilknochen von hier rausgenommen und hier eingesetzt. Hier oben, im Halswirbel."
"Aber wann war das denn gewesen? Schon ein paar Jahre her!"
"Ja, 1994…"
Gestern, erzählt Michael im breiten Behandlungsstuhl, ist er beim Gehen plötzlich weggesackt und hingefallen, irgendwas stimmt mit der Hüfte nicht. Stanislav Nawka geht in die Hocke, untersucht erst das rechte, dann das linke Bein, prüft die Rotation im Hüftgelenk.
"Hier, wenn du hier zur Seite so…, dann tut's weh."
"Siehste! Drück mal das Knie gegen meine Hand."
"Siehste! Drück mal das Knie gegen meine Hand."
Ein Nerv ist eingeklemmt, nichts Wildes, diagnostiziert der Arzt und versucht, die Blockade zu lockern. Wenn es nicht besser wird, soll Michael in einer Woche wiederkommen. Er nickt, ist dankbar für die Arbeit von Dr. Nawka und seinen Kollegen:
"Das ist optimal, sowas. Wenn man was hat, kann man mal nachgucken lassen. Und er sagt dann, ob ich wirklich zum Arzt gehen muss oder nicht. Also, zum richtigen, mit Wartezeit und so."
Auch Illegale bekommen ärztliche Hilfe
Michael steigt aus dem Arztmobil. Die nächste Patientin ist dran. Eine Frau Mitte Vierzig, neben sich ein kleiner Bollerwagen mit ein paar Habseligkeiten. Sie stammt aus Ungarn, in Hamburg sammelt sie Flaschen und freut sich, dass Stanislav Nawka - neben Grundkenntnissen in Polnisch und Rumänisch – auch ihre Sprache versteht:
Der Arzt versorgt die Ungarin mit Vitaminpillen. Ein anderes Medikament bringt ihr sein Kollege bei der Freitagstour mit.
Die Fahrt geht weiter – zur Kaffeestube der Obdachlosen-Zeitung "Hintz & Kunzt". 600 Menschen können Stanislav Nawka und seine Kollegen jeden Monat mit dem Arztmobil betreuen. Immer mehr Osteuropäer leben in Hamburg auf der Straße, erzählt Nawka. Und ob die Menschen hier schwarz arbeiten oder nicht, ob sie ausreisepflichtig sind oder nicht, das sei ihm als Arzt ganz egal.
"Ich bin Arzt. Und meine Pflicht ist, zu helfen. Da mache ich keine Unterschiede. Und wenn jemand illegal hier ist, kriegt er genauso seine Hilfe wie ein Flüchtling, der vielleicht ungerechtfertigterweise, was das Gesetz angeht, hier ist. Aber moralisch bin ich verpflichtet. Und ethisch bin ich als Arzt immer verpflichtet, ihm zu helfen, und ich mache das als Christ sowieso."
Die meisten Obdachlosen sind krankenversichert
Vor acht Jahren hat Stanislav Nawka zusammen mit dem Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel eine Studie zur Lebenserwartung der Obdachlosen in der Stadt vorgelegt. Das Ergebnis: Wegen der vielen und oft zu spät behandelten Krankheiten liegt ihre Lebenserwartung bei gerade mal 46 Jahren. Die meisten Obdachlosen in Hamburg seien zwar krankenversichert, aber allein der Gang in eine reguläre Praxis ist mit viel Scham behaftet, erklärt der Arzt und verweist auf eine weitere Schwierigkeit:
"Es ist ein Problem bei den Obdachlosen: Die Compliance oder die Adhärenz, das heißt, die Mitarbeit und die Zusammenarbeit lässt zu wünschen übrig. Wenn man denen sagt: 'Komm nächste Woche bitte zum Verbandswechsel', dann ist es in 50 Prozent der Fälle so, dass er nicht kommt. Wir haben schon Verbände gesehen, die drei Wochen drauf waren, die schon fast eingewachsen waren oder wo die Maden schon aus dem Gewebe raus kamen. Haben wir alles schon gehabt."
Ankunft in der Steinstraße, nicht weit vom Hauptbahnhof. Die ersten Patienten stehen schon auf dem Bürgersteig. Den einen kann Stanislav Nawka mit Medikamenten oder frischen Verbänden helfen. Andere zu niedergelassenen Fachärzten schicken. Und wieder anderen reicht es völlig, einfach mal zu reden, einen Zuhörer zu haben.