Leben mit Menschen am Rand der Gesellschaft
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Wolfgang Willsch lebt seit mehr als 15 Jahren mit obdachlosen Menschen zusammen. Die katholische Gemeinschaft „Brot des Lebens“, der er angehört, sieht darin ihre Aufgabe – für ihn persönlich hat das auch viel mit Freiheit zu tun.
"Manchmal muss man auch rausgehen, an den Rand, raus aus der Kirche, raus aus der Gesellschaft, um zu finden", sagt Wolfgang Willsch. Er erinnert sich an seine Jugend. Ende der 1980er Jahre lebte er im beschaulichen Ravensburg in einem Haus mit Sinti und Roma, Punks und anderen Menschen vom Rand der Gesellschaft. Katholisch geprägt, persönlich fromm, fehlte ihm etwas, was er hier fand: Menschen, die anders leben wollten, deren Biographien Scharten und Brüchen hatten.
Besuch in einer katholischen Hippie-Kommune
Um dieselbe Zeit besuchte er eine Kommune der Gemeinschaft "Brot des Lebens" in der Normandie. Er erzählt: "Da war ein runtergekommenes Kloster. Es war kalt. Das erste Zimmer, worin ich geschlafen hab, das war dann in einem Schlafsack, da ist mir der Putz tatsächlich in der Nacht auf den Kopf gefallen. Ich dachte, was ist denn das? Und eigentlich wollte ich schnell wieder weg. Gleichzeitig war da was da, was mich berührt hat: Da war ein Priester vor Ort, da waren Nonnen vor Ort, Familien, die zusammengelebt haben. Es war für mich eine neue Erfahrung, dass diese unterschiedlichen kirchlichen Stände zusammengelebt haben."
Und das ein wenig wie in einer Hippie-Kommune mit katholischer Grundausrichtung, mit Gottesdienst, Eucharistie, Gebet und Gesang. Und noch etwas war ungewöhnlich. Mit ihnen lebten Obdachlose. Nicht zufällig. Das gehörte zum Wesenskern der Gemeinschaft.
So war es auch nicht zufällig, dass der junge, zwischen Ablehnung und Anziehung schwankende Besucher von einer nach klösterlichen Gelübden lebenden Schwester der Gemeinschaft gefragt wurde, wie sich Wolfgang Willsch erinnert: "Willst du einfach leben? Willst du arm leben?, hat sie mich damals gefragt. Und da hab ich gesagt: Nein. Das war ehrlich. Aber diese Frage hat in mir gearbeitet." Und die Frage wirkte. Bald entschlossen sich Wolfgang Willsch und seine Frau, der Gemeinschaft "Brot des Lebens" beizutreten.
Hausgemeinschaft mit Kapelle
Nach mehreren Stationen zogen sie 2004 mit ihren Kindern, Obdachlosen und Schwestern der Gemeinschaft in ein zuvor von einer Studentengemeinde genutztes Haus in Berlin-Friedrichshain. Im kleinen Innenhof befindet sich dort die Kapelle St. Nikolaus. Willsch zeigt sie: "Was man jetzt eigentlich in keiner Kapelle sonst findet in Deutschland, glaube ich, das ist, dass wir jetzt in der Kapelle eine Tür öffnen und dann kommen wir nicht in eine Sakristei, sondern wir kommen in einen Schlafraum. Wir sind hier jetzt in einem einfach nur durch Schränke abgetrennten Raum in der Kapelle. Und was hier passiert, das ist, dass vor allem in den Wintermonaten, in den Sommermonaten vereinzelt, obdachlose Männer übernachten."
Die Kirche als Zufluchtsort. In der Kapelle die Herzstücke der Gemeinschaft beieinander - das Gebet, vor allem die stille Andacht vor dem Allerheiligsten, und die Begegnung mit denen am Rand. In diesem Fall nicht jene, die mit im Haus leben, sondern die, die zeitweilig Schutz und Hilfe suchen. Für sie sorgt die Gemeinschaft auch in einer kleinen Notübernachtung neben der Kirche St. Pius.
Ruhe finden im Wohncontainer
Dort nutzt sie Wohncontainer für Einzelpersonen, die im Sommer auf Festivals stehen. Während der Kälteperiode waren es acht, zur Zeit stehen dort noch vier. Nico, ein älterer Obdachloser, fand in einem eine Unterkunft. Er zeigt sie: "Das Bett und ein bisschen Platz, wo man sich drehen und wenden kann. Meine Privatsachen sind hier in den Taschen verstaut und das war's eigentlich. Aber man hat's warm und trocken. Man hat hier seine Privatsphäre. Also da schnarcht niemand oder irgendwie sonst was. Man hat seine Ruhe."
Das war Mitte April. Inzwischen ist die Kälteperiode vorbei. Die Wohncontainer eigneten sich wegen der Corona-Regelungen gut dafür, Obdachlose unterzubringen. Die veränderten Umstände haben auch ihnen zu schaffen gemacht. Eine französische Schwester von Brot des Lebens aus der Wohngemeinschaft im Friedrichshain, die in der Notübernachtung geholfen hat, erzählt: "Zum Beispiel hat einer gesagt: Auf der Straße gibt es weniger Leute und das macht eine besondere Atmosphäre und ich fühle mich nicht gut. Ich habe Husten wegen Rauchen zum Beispiel und die Leute schauen sehr böse zu mir."
Obdachlosen fehlen Verdienstmöglichkeiten
Nicht nur der Argwohn ihnen gegenüber aus Angst vor einer möglichen Ansteckung macht den Obdachlosen das Leben schwer. Ihr gesamtes System an Anlaufstellen und Aufenthaltsorten brach zusammen. Auch ihre Verdienstmöglichkeiten sind drastisch zurückgegangen, was die ohnehin mühevolle Alltagsorganisation erschwerte.
Das erfuhr auch die Studentin Simone Jahnkow, die für den Sozialverein Karuna die Obdachlosen mit Suppe, Hygieneartikeln und kleinen Geldbeträgen versorgte: "Jetzt gerade fragen uns die Leute immer wieder: Ja, wann kommt ihr denn morgen wieder hierher? Und wir können es ihnen nicht sagen. Weil wir es nicht genau wissen, wo wir morgen lang fahren. Und ich glaube, diese Unplanbarkeit ist auch extrem anstrengend, weil du nie weißt, wo du was bekommst, wo du nichts bekommst. Du kannst dir nie ganz sicher sein, krieg ich heute was Warmes zu essen oder nicht, kriege ich heute die zehn Euro oder nicht."
Befreiung in der Begegnung mit armen Menschen
Simone hat nur einen kurzen Einblick in die Situation der Obdachlosen bekommen. Wolfgang Willsch, der seit anderthalb Jahren Obdachlosenseelsorger im Erzbistum Berlin ist, teilt sein Leben seit vielen Jahren mit ihnen. Nicht nur aus Mitleid. Denn er ist überzeugt: "Wir können nicht Kirche sein, wir können uns im Glauben nicht entwickeln, wenn wir nicht mit den Armen zusammen sind."
In der Wohngemeinschaft im Friedrichshain steht dafür der große Gemeinschaftsraum, in dem sich alle treffen und gemeinsam essen: die zwei französischen Schwestern von Brot des Lebens, eine ledige Frau der Gemeinschaft, drei Männer, die einst auf der Straße lebten, Obdachlose aus der Notübernachtung. Und Wolfgang Willsch mit seiner Familie, die nebenan eine kleine Wohnung hat. Vier Kinder sind hier groß geworden. Eine Tochter lebt derzeit noch hier.
Nicht immer ist das Leben mit den Menschen am Rand einfach. Für Wolfgang Willsch hat es dennoch einen unschätzbaren Vorzug: "Ich bin eigentlich ein Freiheitsfanatiker. Ich glaube, im Reich Gottes gibt es so was wie eine Narrenfreiheit für Arme. Man wird freier, aber das ist eine innere Freiheit, das hat nichts mit Formen zu tun, man ist in genauso viel Zwängen drin wie jeder andere. Aber es geht um eine innere Freiheit, Befreiung."