Obdachlosenzeitung will "Hilfe zur Selbsthilfe" bieten
Seit der Einführung von Hartz IV verkaufen neben Obdachlosen zunehmend andere arme Menschen die Berliner Straßenzeitung "Straßenfeger", sagt Chefredakteur Andreas Düllick.
Jürgen König: Heute mit dem "Straßenfeger", der sozialen Straßenzeitung aus Berlin. Bei mir im Studio ist Chefredakteur Andreas Düllick. Schön, dass Sie gekommen sind, hallo!
Andreas Düllick: Schönen guten Morgen!
König: In Zusammenarbeit mit der Berliner Akademie der Künste machen Sie Anarchie zum Aufmacherthema der Januarausgabe des "Straßenfegers", denn am 24. Januar wird in der Akademie der Künste eine große Ausstellung zu George Grosz eröffnet, "Korrekt und anarchisch" heißt sie. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Düllick: Ja, wir arbeiten schon seit längerer Zeit mit der Akademie der Künste zusammen, speziell mit Klaus Staeck, dem Präsidenten. Wir haben bei der Heinrich-Zille-Ausstellung der Akademie vor zwei Jahren schon mal eine Zusammenarbeit gemacht, das hat ganz gut geklappt, gut gepasst. Wir finden beide, dass wir zusammenpassen, "Straßenfeger" und Akademie. Klaus Staeck ist ja, was seine künstlerischen Arbeiten angeht, auch, ich sag mal so, unserem Anliegen sehr verbunden, sieht sich selber ja auch in der Tradition von Grosz und von John Heartfield. Und ja, er ist an uns rangetreten, hat gefragt, ob wir nicht bei der Ausstellung wieder zusammenarbeiten könnten, und da haben wir natürlich gesagt, toll, super, machen wir, gern.
König: Unser Anliegen, sagen Sie, wie würden Sie das definieren, charakterisieren?
Düllick: Na ja, ich sag mal, wir beschäftigen uns ja mit Obdachlosigkeit oder mit Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht sind, mit Armen. Also ein neues Feld sind auch arme Menschen, seit Hartz IV hat sich da ja ein bisschen was verändert in Deutschland.
König: Die noch Wohnung haben, aber arm sind oder werden.
Düllick: Genau. Man muss ja unterscheiden, obdachlos, wohnungslos. Also Obdachlose, die gar nichts, gar kein Dach überm Kopf haben, Wohnungslose, die keine eigene Wohnung haben, und eben neuerdings auch viele Menschen, die eben wirklich arm sind. Und das ist unsere Zielgruppe, mit diesen Menschen beschäftigen wir uns, diesen Menschen wollen wir helfen, Hilfeangebote geben. Und ich sag mal, George Grosz hat sich ja auch mit dieser speziellen Schicht von Menschen beschäftigt zu seiner Zeit, gesellschaftliche Probleme aufgezeigt, sich künstlerisch damit auseinandergesetzt. Und von daher finden wir, dass es eben wunderbar zusammenpasst, "Straßenfeger" und diese Ausstellung.
König: Bleiben wir erst mal noch beim Titelthema "Anarchie". Klaus Staeck hat auch einen Beitrag über George Grosz geschrieben, außerdem findet man im neuen "Straßenfeger" unter anderem eine Geschichte der anarchistischen Bewegung, ein Porträt des italienischen Theatermachers Dario Fo, "Das anarchistische Kochbuch" des William Powell, eine Anleitung zum Bombenbasteln ist drin, ziemlich schräge Geschichte. Und auch sehr beeindruckend fand ich, anarchistische Tricks in der Jugendarbeit werden beschrieben. Die gehen zum Beispiel so: Immer da, wo Jugendliche nicht durch Straftaten auffallen oder immer weniger, da werden die Fördergelder für soziale Maßnahmen gekürzt oder ganz gestrichen. Und die Folge ist, dass Jugendliche dann – das ist ein Fall, den Sie beschreiben – eine Telefonzelle zertrümmern und warten, bis die Polizei kommt, oder dass sogar ein Sozialarbeiter selber sich daran macht, Autos anzuzünden, einfach um sozusagen die Förder ... , wie soll ich sagen, die Notwendigkeit der Fördermaßnahmen für seine Klientel wieder zu belegen und damit auch seine eigene Stelle zu finanzieren. Das funktioniert so?
Düllick: Sagen wir mal so, wir hätten natürlich auch darüber schreiben können: Vorsicht, Satire! Es ist eine Mischung aus zwei Dingen. Also a) passieren solche Dinge natürlich in der Realität tatsächlich, und b) ist es natürlich von einem Autor, dieser Autor, der hat selber jahrelang in der Kulturarbeit, Jugendkulturarbeit gearbeitet, auch Erfahrungswerte, weil er gesehen hat eben, dass immer dann, wenn man Gelder braucht, keine Gelder bekommt, aber immer, wenn irgendwas passiert, wenn irgendjemand irgendjemand anders verprügelt hat, geschlagen hat oder Dinge zerstört worden sind, dann ist die Politik auf einmal schnell da und kommt mit dem sozusagen Salzstreuer und hier habt ihr Geld und nun macht mal. Und wenn aber wie gesagt Sachen gebraucht werden, dann bekommt man sie nicht. Und ja, wie kommt man nun an Geld, ist die Fragestellung. Und das ist, ich sag mal, das ist eine Mischung aus einer Satire und aus doch Dingen, die auch in der Realität so passieren können.
König: Ich habe mir diesen "Straßenfeger" vor zwei Tagen in der Berliner S-Bahn gekauft. Der Verkäufer war ausgesprochen gewandt, dieses Thema darzustellen, es haben auch sehr viele bei ihm gekauft. Also er fing gleich an, Anarchie, das sei eben nicht Gewalt und Chaos, sondern herrschaftsfreier Raum. Und als der Verkäufer dann im nächsten Wagen war, da wunderten sich alle, die dieses Blatt nun gekauft hatten, sehr über dieses Thema. Ich glaube, alle hatten ja andere Themen erwartet – also die Situation in den Wärmestuben, in den Unterkunftsmöglichkeiten und dergleichen. Wie kommen Ihre Themen zustande?
Düllick: Na, wir versuchen schon, uns von anderen Zeitungen ein bisschen abzuheben, und gucken immer, dass wir ich sag mal auch ein paar ausgefallene Themen bringen in der Zeitung, weil unser Prinzip ist, die Zeitung muss einen gewissen Nutzwert für die Leser haben, ansonsten würde niemand sie kaufen. Natürlich gibt es immer ich sag mal diesen modernen Ablasshandel, dass Leute die Zeitung kaufen, dem Verkäufer Geld geben und sagen, okay, das war es jetzt für uns. Das ist aber gar nicht unser Anspruch. Unser Anspruch ist schon, dass wir die Zeitung so gut machen, wie wir können, mit unseren wenigen oder beschränkten Möglichkeiten, und dazu gehört eben, dass wir schräge Themen finden und diesen Themen uns auch von allen Seiten nähern. Und wir haben natürlich die große Freiheit, wir können das, wir sind nicht an irgendwelche Vorgaben gebunden, wir sind frei, wir sind unabhängig. Das heißt, wir können auch bestimmte Themen auf andere Art und Weise bearbeiten, beleuchten, sodass es vielleicht für die Leser einen Lustgewinn gibt oder überhaupt eine Sache gibt, wo er sagt, Mensch, dafür gebe ich den 1,50 Euro gerne aus.
König: Ja, ich sah auch im Zug viele, die dann auch wirklich interessiert nicht nur geblättert haben und es dann mehr oder weniger weggelegt oder weggeschmissen haben, sondern die wirklich das gelesen haben. Und ich kann Ihnen sagen, ich fand das ein ausgesprochen gutes Heft, diese Ausgabe des "Straßenfegers". Wer sind Ihre Leser, wissen Sie das?
Düllick: Das ist natürlich schwierig, weil wir haben natürlich nicht die finanziellen Möglichkeiten jetzt, Umfragen zu machen, Meinungsumfragen, wo jetzt genau rauskommt, wer sind die Leser, wie ist die Altersstruktur, sind es ich sag mal vorwiegend ältere Leute, junge Leute, Leute, die Geld haben, oder Leute, die arm sind. Was wir wissen, ist, dass das Spektrum relativ groß ist, dass wir, vor einer längeren Zeit war die Leserschaft sehr viel älter, jetzt haben wir sehr viel jüngere Leser auch bekommen, dazu bekommen. Das hören wir immer so aus Leserbriefen heraus oder auch wenn wir angesprochen werden, so im Freundeskreis. Also da hat sich schon ein bisschen was verändert, weil wir eben auch ein bisschen, ich sag mal ein bisschen moderner, ein bisschen schräger geworden sind. Wir haben ja zum Beispiel auch Ohl, den Karikaturisten gewinnen können, für uns immer, bei uns in der Zeitung auch zu schreiben, Witze, Comics abzuliefern halt. Neben unserem Hauskarikaturisten Andreas Prüstel, der schon vorher beim "Eulenspiegel" gearbeitet hat. Und ich sag mal, das führt dazu, dass die Zeitung sich verändert hat, dass sie besser geworden ist, jünger geworden ist, glaube ich. Und dann haben wir natürlich im letzten Jahr einen großen Schritt gemacht, wir haben das Format verändert, von 24 Seiten mit acht Farbseiten auf 32 Seiten komplett in Farbe, was natürlich auch dazu beiträgt, dass sich das ein bisschen geändert hat. Wir haben jetzt Veranstaltungstipps, die sich ein bisschen unterscheiden von "TIP" und "Zitty", weil wir natürlich denen keine Konkurrenz machen wollen und aber auch auf andere Sachen hinweisen wollen, die uns wichtig sind. Und ich glaube, das wird alles angenommen.
König: Wie hoch ist Ihre Auflage?
Düllick: Das schwankt. Wir richten uns natürlich immer danach, wie so ungefähr die Verkäufe der vorangegangenen Zeitung gelaufen sind. Aber wir haben im letzten Jahr eine verkaufte Auflage von rund 21.000 Stück alle 14 Tage gehabt, und das ist, ich sag mal, wer einmal einen Verkäufer begleitet hat und gesehen hat, wie schwierig es ist, eine einzige Zeitung vom "Straßenfeger" zu verkaufen, der staunt immer, muss immer wieder staunen darüber, wie es uns gelingt, diese hohe Zahl dann doch zu verkaufen.
König: Auch wirklich zu verkaufen, ja.
Düllick: Wirklich zu verkaufen. Also das sind jetzt keine geschönten Zahlen, sondern das sind wirklich Verkaufszahlen.
König: Die Verkäufer, wie kommen die zu Ihnen, wie kommen Sie zusammen, wie ist das organisiert?
Düllick: Na ja, mob e.V. heißt, Obdachlose machen mobil, ist eine Grundidee gewesen, Hilfe zur Selbsthilfe, also vor allen Dingen für obdachlose Menschen vor mittlerweile 15 Jahren. 15 Jahre gibt es uns, haben wir letztes Jahr den Geburtstag gefeiert, in diesem Jahr wird der "Straßenfeger" 15 Jahre alt. Ja, wie kommen die Leute? Die hören von uns, man erzählt sich auf der Straße natürlich irgendwie: Du, Mensch, da gibt es ein schönes Angebot, da kann man sich ein paar Euro dazuverdienen, geh da mal vorbei halt, ist zwar vielleicht kein leichter Job, aber da gibt es zum Beispiel auch noch das "Kaffee Bankrott", wo man sich aufhalten kann, wo man soziale Nähe bekommt, wo man einfach auch Familienersatz bekommt. Und deswegen kommen die Leute. Und ich sag mal so, es ist sehr schwierig oder anstrengend, den "Straßenfeger" zu verkaufen, aber für viele Menschen in Berlin sind ein Euro oder fünf Euro am Tag zusätzlich eine Menge Geld. Und ich denke mal, das ist ausschlaggebend dafür. Und dann, dass wir wirklich auch so einen relativ freien Umgang pflegen. Also jeder kann halt bei uns verkaufen, niemand muss verkaufen, die Leute sind nicht bei uns angestellt, sondern es ist ein Hilfeangebot zur Selbsthilfe.
König: Wissen Sie, wie viel ein Verkäufer am Ende eines Tages im Durchschnitt oder höchstens verdient hat?
Düllick: Na, wir erheben da keine Statistiken, wogegen wir uns aber immer gerne oder wogegen wir uns wehren müssen, sind Aussagen von Verkäufern, sie hätten 50 Stück am Tag verkauft. Das ist natürlich Unfug, so viel verkauft niemand. Und das schürt natürlich auch nur sozialen Neid. Also wenn jemand dann hochrechnet und sagt, na ja, 50 Stück verkauft, 90 Cent kann der Verkäufer behalten von dem Verkaufspreis von 1,50, dann kommen wir auf 45 Euro mal 30, dann sind wir bei 1300 Euro, das ist natürlich der totale Unfug. Also die meisten Leute verkaufen ich sag mal vielleicht zwischen ein und fünf Stück, es gibt natürlich auch die Leute, die verkaufen auch mal 20, aber auch nicht jeden Tag. Also von daher ist es sehr unterschiedlich. Ich gehe aber mal in der Regel davon aus, dass die Leute vielleicht zwischen ein und fünf Zeitungen am Tag verkaufen. Und wenn man dann aber noch hochrechnet, wie viel Stunden sie damit zubringen, dann ist der Stundenlohn so gering, also das würde niemand von uns wahrscheinlich machen.
König: Schulen Sie Ihre Verkäufer? Es fällt mir immer auf, dass die, die rhetorisch gewandt sind und das ein bisschen pfiffig machen, sehr viel erfolgreicher sind als die, die einfach nur sozusagen simpel die Zeitung anbieten und mehr nicht.
Düllick: Ja, das Argument wird oft an uns rangetragen: Macht doch Verkäuferschulung, damit die Leute sozusagen besser, gewandter auftreten können, damit sie sich sauber kleiden, damit sie eben nicht betrunken oder angetrunken Zeitungen verkaufen. Das ist sehr schwierig. Die Leute sind natürlich ganz unten. Sie haben so viel multiple Probleme – also sie haben, viele sind drogenabhängig, viele sind alkoholabhängig, viele haben andere körperliche Gebrechen, viele sind verschuldet, und bei den meisten kommt alles zusammen. So, und diese Leute, die so sozialisiert sind, mit denen kann man keine Schulung machen, da kann man nicht sagen, jetzt kommt mal alle – wir haben ungefähr 500 Verkäufer momentan – jetzt kommt mal alle in Gruppen irgendwie, und jetzt bringen wir euch bei, wie man die Zeitung verkauft; a) würde es nicht funktionieren und b) ist ja auch unser Anspruch ein anderer. Wir sagen ja auch Hilfe zur Selbsthilfe, also die Leute sollen auch schon selber ihr Schicksal, ein Leben ein bisschen in die Hand nehmen, und dazu gehört natürlich auch, dass man sich mal Gedanken darüber macht, wie verkauft man am besten eine Zeitung. Also unsere Erfahrungen sind, Verkäuferschulungen würden nicht funktionieren.
König: Vielen Dank! Das "Feuilletonpressegespräch", heute mit der sozialen Straßenzeitung "Straßenfeger", erscheint in Berlin. Da hören Sie Deutschlandradio Kultur auf 89,6 Megahertz. Gast im Studio war der Chefredakteur des "Straßenfeger", Andreas Düllick. Ich danke Ihnen!
Düllick: Danke schön!
Andreas Düllick: Schönen guten Morgen!
König: In Zusammenarbeit mit der Berliner Akademie der Künste machen Sie Anarchie zum Aufmacherthema der Januarausgabe des "Straßenfegers", denn am 24. Januar wird in der Akademie der Künste eine große Ausstellung zu George Grosz eröffnet, "Korrekt und anarchisch" heißt sie. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Düllick: Ja, wir arbeiten schon seit längerer Zeit mit der Akademie der Künste zusammen, speziell mit Klaus Staeck, dem Präsidenten. Wir haben bei der Heinrich-Zille-Ausstellung der Akademie vor zwei Jahren schon mal eine Zusammenarbeit gemacht, das hat ganz gut geklappt, gut gepasst. Wir finden beide, dass wir zusammenpassen, "Straßenfeger" und Akademie. Klaus Staeck ist ja, was seine künstlerischen Arbeiten angeht, auch, ich sag mal so, unserem Anliegen sehr verbunden, sieht sich selber ja auch in der Tradition von Grosz und von John Heartfield. Und ja, er ist an uns rangetreten, hat gefragt, ob wir nicht bei der Ausstellung wieder zusammenarbeiten könnten, und da haben wir natürlich gesagt, toll, super, machen wir, gern.
König: Unser Anliegen, sagen Sie, wie würden Sie das definieren, charakterisieren?
Düllick: Na ja, ich sag mal, wir beschäftigen uns ja mit Obdachlosigkeit oder mit Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht sind, mit Armen. Also ein neues Feld sind auch arme Menschen, seit Hartz IV hat sich da ja ein bisschen was verändert in Deutschland.
König: Die noch Wohnung haben, aber arm sind oder werden.
Düllick: Genau. Man muss ja unterscheiden, obdachlos, wohnungslos. Also Obdachlose, die gar nichts, gar kein Dach überm Kopf haben, Wohnungslose, die keine eigene Wohnung haben, und eben neuerdings auch viele Menschen, die eben wirklich arm sind. Und das ist unsere Zielgruppe, mit diesen Menschen beschäftigen wir uns, diesen Menschen wollen wir helfen, Hilfeangebote geben. Und ich sag mal, George Grosz hat sich ja auch mit dieser speziellen Schicht von Menschen beschäftigt zu seiner Zeit, gesellschaftliche Probleme aufgezeigt, sich künstlerisch damit auseinandergesetzt. Und von daher finden wir, dass es eben wunderbar zusammenpasst, "Straßenfeger" und diese Ausstellung.
König: Bleiben wir erst mal noch beim Titelthema "Anarchie". Klaus Staeck hat auch einen Beitrag über George Grosz geschrieben, außerdem findet man im neuen "Straßenfeger" unter anderem eine Geschichte der anarchistischen Bewegung, ein Porträt des italienischen Theatermachers Dario Fo, "Das anarchistische Kochbuch" des William Powell, eine Anleitung zum Bombenbasteln ist drin, ziemlich schräge Geschichte. Und auch sehr beeindruckend fand ich, anarchistische Tricks in der Jugendarbeit werden beschrieben. Die gehen zum Beispiel so: Immer da, wo Jugendliche nicht durch Straftaten auffallen oder immer weniger, da werden die Fördergelder für soziale Maßnahmen gekürzt oder ganz gestrichen. Und die Folge ist, dass Jugendliche dann – das ist ein Fall, den Sie beschreiben – eine Telefonzelle zertrümmern und warten, bis die Polizei kommt, oder dass sogar ein Sozialarbeiter selber sich daran macht, Autos anzuzünden, einfach um sozusagen die Förder ... , wie soll ich sagen, die Notwendigkeit der Fördermaßnahmen für seine Klientel wieder zu belegen und damit auch seine eigene Stelle zu finanzieren. Das funktioniert so?
Düllick: Sagen wir mal so, wir hätten natürlich auch darüber schreiben können: Vorsicht, Satire! Es ist eine Mischung aus zwei Dingen. Also a) passieren solche Dinge natürlich in der Realität tatsächlich, und b) ist es natürlich von einem Autor, dieser Autor, der hat selber jahrelang in der Kulturarbeit, Jugendkulturarbeit gearbeitet, auch Erfahrungswerte, weil er gesehen hat eben, dass immer dann, wenn man Gelder braucht, keine Gelder bekommt, aber immer, wenn irgendwas passiert, wenn irgendjemand irgendjemand anders verprügelt hat, geschlagen hat oder Dinge zerstört worden sind, dann ist die Politik auf einmal schnell da und kommt mit dem sozusagen Salzstreuer und hier habt ihr Geld und nun macht mal. Und wenn aber wie gesagt Sachen gebraucht werden, dann bekommt man sie nicht. Und ja, wie kommt man nun an Geld, ist die Fragestellung. Und das ist, ich sag mal, das ist eine Mischung aus einer Satire und aus doch Dingen, die auch in der Realität so passieren können.
König: Ich habe mir diesen "Straßenfeger" vor zwei Tagen in der Berliner S-Bahn gekauft. Der Verkäufer war ausgesprochen gewandt, dieses Thema darzustellen, es haben auch sehr viele bei ihm gekauft. Also er fing gleich an, Anarchie, das sei eben nicht Gewalt und Chaos, sondern herrschaftsfreier Raum. Und als der Verkäufer dann im nächsten Wagen war, da wunderten sich alle, die dieses Blatt nun gekauft hatten, sehr über dieses Thema. Ich glaube, alle hatten ja andere Themen erwartet – also die Situation in den Wärmestuben, in den Unterkunftsmöglichkeiten und dergleichen. Wie kommen Ihre Themen zustande?
Düllick: Na, wir versuchen schon, uns von anderen Zeitungen ein bisschen abzuheben, und gucken immer, dass wir ich sag mal auch ein paar ausgefallene Themen bringen in der Zeitung, weil unser Prinzip ist, die Zeitung muss einen gewissen Nutzwert für die Leser haben, ansonsten würde niemand sie kaufen. Natürlich gibt es immer ich sag mal diesen modernen Ablasshandel, dass Leute die Zeitung kaufen, dem Verkäufer Geld geben und sagen, okay, das war es jetzt für uns. Das ist aber gar nicht unser Anspruch. Unser Anspruch ist schon, dass wir die Zeitung so gut machen, wie wir können, mit unseren wenigen oder beschränkten Möglichkeiten, und dazu gehört eben, dass wir schräge Themen finden und diesen Themen uns auch von allen Seiten nähern. Und wir haben natürlich die große Freiheit, wir können das, wir sind nicht an irgendwelche Vorgaben gebunden, wir sind frei, wir sind unabhängig. Das heißt, wir können auch bestimmte Themen auf andere Art und Weise bearbeiten, beleuchten, sodass es vielleicht für die Leser einen Lustgewinn gibt oder überhaupt eine Sache gibt, wo er sagt, Mensch, dafür gebe ich den 1,50 Euro gerne aus.
König: Ja, ich sah auch im Zug viele, die dann auch wirklich interessiert nicht nur geblättert haben und es dann mehr oder weniger weggelegt oder weggeschmissen haben, sondern die wirklich das gelesen haben. Und ich kann Ihnen sagen, ich fand das ein ausgesprochen gutes Heft, diese Ausgabe des "Straßenfegers". Wer sind Ihre Leser, wissen Sie das?
Düllick: Das ist natürlich schwierig, weil wir haben natürlich nicht die finanziellen Möglichkeiten jetzt, Umfragen zu machen, Meinungsumfragen, wo jetzt genau rauskommt, wer sind die Leser, wie ist die Altersstruktur, sind es ich sag mal vorwiegend ältere Leute, junge Leute, Leute, die Geld haben, oder Leute, die arm sind. Was wir wissen, ist, dass das Spektrum relativ groß ist, dass wir, vor einer längeren Zeit war die Leserschaft sehr viel älter, jetzt haben wir sehr viel jüngere Leser auch bekommen, dazu bekommen. Das hören wir immer so aus Leserbriefen heraus oder auch wenn wir angesprochen werden, so im Freundeskreis. Also da hat sich schon ein bisschen was verändert, weil wir eben auch ein bisschen, ich sag mal ein bisschen moderner, ein bisschen schräger geworden sind. Wir haben ja zum Beispiel auch Ohl, den Karikaturisten gewinnen können, für uns immer, bei uns in der Zeitung auch zu schreiben, Witze, Comics abzuliefern halt. Neben unserem Hauskarikaturisten Andreas Prüstel, der schon vorher beim "Eulenspiegel" gearbeitet hat. Und ich sag mal, das führt dazu, dass die Zeitung sich verändert hat, dass sie besser geworden ist, jünger geworden ist, glaube ich. Und dann haben wir natürlich im letzten Jahr einen großen Schritt gemacht, wir haben das Format verändert, von 24 Seiten mit acht Farbseiten auf 32 Seiten komplett in Farbe, was natürlich auch dazu beiträgt, dass sich das ein bisschen geändert hat. Wir haben jetzt Veranstaltungstipps, die sich ein bisschen unterscheiden von "TIP" und "Zitty", weil wir natürlich denen keine Konkurrenz machen wollen und aber auch auf andere Sachen hinweisen wollen, die uns wichtig sind. Und ich glaube, das wird alles angenommen.
König: Wie hoch ist Ihre Auflage?
Düllick: Das schwankt. Wir richten uns natürlich immer danach, wie so ungefähr die Verkäufe der vorangegangenen Zeitung gelaufen sind. Aber wir haben im letzten Jahr eine verkaufte Auflage von rund 21.000 Stück alle 14 Tage gehabt, und das ist, ich sag mal, wer einmal einen Verkäufer begleitet hat und gesehen hat, wie schwierig es ist, eine einzige Zeitung vom "Straßenfeger" zu verkaufen, der staunt immer, muss immer wieder staunen darüber, wie es uns gelingt, diese hohe Zahl dann doch zu verkaufen.
König: Auch wirklich zu verkaufen, ja.
Düllick: Wirklich zu verkaufen. Also das sind jetzt keine geschönten Zahlen, sondern das sind wirklich Verkaufszahlen.
König: Die Verkäufer, wie kommen die zu Ihnen, wie kommen Sie zusammen, wie ist das organisiert?
Düllick: Na ja, mob e.V. heißt, Obdachlose machen mobil, ist eine Grundidee gewesen, Hilfe zur Selbsthilfe, also vor allen Dingen für obdachlose Menschen vor mittlerweile 15 Jahren. 15 Jahre gibt es uns, haben wir letztes Jahr den Geburtstag gefeiert, in diesem Jahr wird der "Straßenfeger" 15 Jahre alt. Ja, wie kommen die Leute? Die hören von uns, man erzählt sich auf der Straße natürlich irgendwie: Du, Mensch, da gibt es ein schönes Angebot, da kann man sich ein paar Euro dazuverdienen, geh da mal vorbei halt, ist zwar vielleicht kein leichter Job, aber da gibt es zum Beispiel auch noch das "Kaffee Bankrott", wo man sich aufhalten kann, wo man soziale Nähe bekommt, wo man einfach auch Familienersatz bekommt. Und deswegen kommen die Leute. Und ich sag mal so, es ist sehr schwierig oder anstrengend, den "Straßenfeger" zu verkaufen, aber für viele Menschen in Berlin sind ein Euro oder fünf Euro am Tag zusätzlich eine Menge Geld. Und ich denke mal, das ist ausschlaggebend dafür. Und dann, dass wir wirklich auch so einen relativ freien Umgang pflegen. Also jeder kann halt bei uns verkaufen, niemand muss verkaufen, die Leute sind nicht bei uns angestellt, sondern es ist ein Hilfeangebot zur Selbsthilfe.
König: Wissen Sie, wie viel ein Verkäufer am Ende eines Tages im Durchschnitt oder höchstens verdient hat?
Düllick: Na, wir erheben da keine Statistiken, wogegen wir uns aber immer gerne oder wogegen wir uns wehren müssen, sind Aussagen von Verkäufern, sie hätten 50 Stück am Tag verkauft. Das ist natürlich Unfug, so viel verkauft niemand. Und das schürt natürlich auch nur sozialen Neid. Also wenn jemand dann hochrechnet und sagt, na ja, 50 Stück verkauft, 90 Cent kann der Verkäufer behalten von dem Verkaufspreis von 1,50, dann kommen wir auf 45 Euro mal 30, dann sind wir bei 1300 Euro, das ist natürlich der totale Unfug. Also die meisten Leute verkaufen ich sag mal vielleicht zwischen ein und fünf Stück, es gibt natürlich auch die Leute, die verkaufen auch mal 20, aber auch nicht jeden Tag. Also von daher ist es sehr unterschiedlich. Ich gehe aber mal in der Regel davon aus, dass die Leute vielleicht zwischen ein und fünf Zeitungen am Tag verkaufen. Und wenn man dann aber noch hochrechnet, wie viel Stunden sie damit zubringen, dann ist der Stundenlohn so gering, also das würde niemand von uns wahrscheinlich machen.
König: Schulen Sie Ihre Verkäufer? Es fällt mir immer auf, dass die, die rhetorisch gewandt sind und das ein bisschen pfiffig machen, sehr viel erfolgreicher sind als die, die einfach nur sozusagen simpel die Zeitung anbieten und mehr nicht.
Düllick: Ja, das Argument wird oft an uns rangetragen: Macht doch Verkäuferschulung, damit die Leute sozusagen besser, gewandter auftreten können, damit sie sich sauber kleiden, damit sie eben nicht betrunken oder angetrunken Zeitungen verkaufen. Das ist sehr schwierig. Die Leute sind natürlich ganz unten. Sie haben so viel multiple Probleme – also sie haben, viele sind drogenabhängig, viele sind alkoholabhängig, viele haben andere körperliche Gebrechen, viele sind verschuldet, und bei den meisten kommt alles zusammen. So, und diese Leute, die so sozialisiert sind, mit denen kann man keine Schulung machen, da kann man nicht sagen, jetzt kommt mal alle – wir haben ungefähr 500 Verkäufer momentan – jetzt kommt mal alle in Gruppen irgendwie, und jetzt bringen wir euch bei, wie man die Zeitung verkauft; a) würde es nicht funktionieren und b) ist ja auch unser Anspruch ein anderer. Wir sagen ja auch Hilfe zur Selbsthilfe, also die Leute sollen auch schon selber ihr Schicksal, ein Leben ein bisschen in die Hand nehmen, und dazu gehört natürlich auch, dass man sich mal Gedanken darüber macht, wie verkauft man am besten eine Zeitung. Also unsere Erfahrungen sind, Verkäuferschulungen würden nicht funktionieren.
König: Vielen Dank! Das "Feuilletonpressegespräch", heute mit der sozialen Straßenzeitung "Straßenfeger", erscheint in Berlin. Da hören Sie Deutschlandradio Kultur auf 89,6 Megahertz. Gast im Studio war der Chefredakteur des "Straßenfeger", Andreas Düllick. Ich danke Ihnen!
Düllick: Danke schön!