Schneller Absturz
Die Obdachlosigkeit in Berlin steigt. Das liegt auch an mehr Zwangsräumungen, die für Eigentümer attraktiver geworden sind. Sogar vom Senat finanzierte Hilfsprojekte für Obdachlose haben es schwer, Wohnraum zu finden.
Auf einem langen Tapeziertisch auf dem Gehweg vor der Bahnhofsmission am Zoo stapeln sich große Warmhalteboxen. Davor stehen mindestens drei Dutzend Obdachlose und warten auf ihre warme Suppe:
"Ist richtig gut, durch die Kälte, die herrscht und dann das warme Essen im Körper, das wärmt auch nochmal."
Ehrenamtliche aus Brandenburg und Berlin bringen einmal in der Woche abends warmes Essen für die Obdachlosen vom Zoo und servieren vor der Bahnhofsmission. Hier treffen sich die meisten Obdachlosen in Berlin. Viele schlafen in der Nähe, unter der Brücke, hinter dem Zoo, am Bahndamm oder im Tiergarten, sogar wenn es bitterkalt ist.
Tausende Menschen leben dauerhaft auf der Straße
Andere ziehen weiter in die Notunterkünfte, zum Beispiel am Hauptbahnhof. 30.000 Menschen in Berlin haben keine eigene Wohnung. Die Zahl der Menschen, die dauerhaft auf der Straße leben, steigt seit Jahren, zwischen 4000 und 10.000 schätzen Hilfsorganisationen sind es zurzeit, darunter immer mehr Frauen.
Sylvia etwa hat erst seit kurzem wieder eine Unterkunft in einem Wohnheim. Anderthalb Jahre hat sie auf der Straße gelebt und dabei immer Wert darauf gelegt, dass niemand ihre Obdachlosigkeit sieht oder riecht:
"Wo ich mich überhaupt nicht wohl gefühlt habe, wenn ich mich an der Bahnhofsmission angestellt habe an der Essensausgabe, da findet man auch Menschen, die eben nicht mehr so nett duften, das war schon eine harte Überwindung. Wenn man wirklich Wert drauf legt: Es ist umständlich und es ist schwierig, aber man kann trotz allem gepflegt und sauber rumlaufen. Also ich habe schon drauf geachtet, dass man es nicht sieht."
Die 56-Jährige verlor ihre Wohnung nach einem Wohnungsbrand. Die Kaution für eine neue Wohnung konnte sie nicht aufbringen, weil ihr aus Afrika stammender Mann ohne ihr Wissen Schulden gemacht hatte. Vom Amt kam kein Geld, weil ihr Mann noch Arbeit hatte.
Frühstück in "Evas Haltestelle"
Jetzt sitzt sie beim Frühstück in "Evas Haltestelle", einer Tagesstätte für wohnungslose Frauen in Berlin. Hier können sich die Frauen tagsüber aufwärmen und essen, wer möchte, findet Hilfe und Beratung, und nachts gibt es für 20 Frauen im Rahmen der Kältehilfe auch einen warmen Schlafplatz.
Inzwischen sind 25 Prozent der Obdachlosen weiblich, so eine Statistik der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. In ihrer Einrichtung steige vor allem der Anteil der älteren Wohnungslosen, meint Claudia Peiter von "Evas Haltestelle". Altersarmut sei der wichtigste Grund:
"Dass die Renten gerade nach Teilzeit oder Kindererziehungszeiten nicht sehr groß sind und dann in Ballungsgebieten, wo günstiger Wohnraum knapp ist, wo man sich dann nicht einfach verkleinern kann, wenn man merkt, die Rente reicht jetzt nicht mehr und der Umzug in was Günstigeres ist dann einfach nicht so schnell zu bewerkstelligen, als dass nicht in der Zeit schon Mietschulden auflaufen können."
Bei den obdachlosen Frauen ist der Ausländeranteil gering, ganz im Gegensatz zu dem bei den Männern. Bis zu zwei Drittel kommen aus Osteuropa, die Polen sind die größte Gruppe. Die meisten von ihnen kamen mit großen Hoffnungen nach Berlin, sagt Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach:
"Sehr viele Menschen aus europäischen Ländern, auch sehr viele aus osteuropäischen Ländern kommen hierher, um Arbeit zu suchen. Sie nehmen ihr Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit wahr. Und sie scheitern so wie andere Menschen auch scheitern, weil sie keinen Job finden, weil sie arbeitslos werden, weil sie oftmals auch Opfer von Arbeitsausbeutung werden."
Die meisten EU-Einwanderer schaffen den Sprung in den deutschen Arbeitsmarkt. Von denen, die auf der Straße landen, haben viele psychische oder Alkoholprobleme.
Polnische Sozialarbeiter suchen obdachlose Landsleute
Seit September waren zwei Sozialarbeiter von der polnischen Stiftung Barka in Berlin unterwegs, um gestrandete Landsleute heimzuholen und in einer Einrichtung in Polen zu betreuen. 18 obdachlose Polen haben Wojciech Greh und sein Kollege Darek auf ihren Touren durch die Straßen und Notunterkünfte überredet, wieder in die Heimat zurückzukehren, erzählt Wojciech Greh. Am wichtigsten dabei sei die Überzeugungskraft von Dareks Geschichte:
"Darek war auch auf der Straße, war obdachlos in London, er ist mit dem Barka nach Polen gekommen und für diese Leute ist er ein Vorbild. Unsere Methode ist Zigarettchen und Käffchen, das ist am besten, das ist unserer Methode, wir sind auf der Straße, wir haben kein Büro, wir machen Streetwork."
Ob das von der polnischen Regierung bezahlte Projekt in diesem Jahr weitergeführt wird, steht bisher noch nicht fest. Anrecht auf Geld vom Staat haben die wenigsten obdachlosen EU-Ausländer. Nur wer schon fünf Jahre in Deutschland lebt, kann Hartz IV beantragen. Und wer länger als ein Jahr gearbeitet hat, bekommt auch Arbeitslosengeld.
Im Winter stehen den Osteuropäern die Schlafplätze der Kältehilfe zur Verfügung. Dort dürfen Obdachlose aber nur die Nächte verbringen, morgens um 8 Uhr müssen sie wieder auf die Straße.
Auch in diesem Jahr hat Berlin die Zahl der Notübernachtungsplätze im Winter wieder aufgestockt – auf 1.100 derzeit. Für obdachlose Familien mit Kindern gibt es inzwischen spezielle Angebote, so auch in dieser Notunterkunft für neun bis zehn Familien in Kreuzberg, erzählt die Leiterin Viola Schröder:
"Wir haben Familien zum großen Teil aus dem osteuropäischen Raum, die hier anfragen, aus Rumänien, aus Bulgarien, aus Ungarn. Wir haben viele Familien, die aus Spanien kommen. Wir haben Familien, die aus Italien kommen, die hier ein neues Leben starten wollen. Weil sie uns erzählen, dort gibt es keine Arbeit mehr, dort sind die Sozialleistungen so schlecht, wir kommen da nicht mehr klar. Und wir haben natürlich Familien, die hier aus einer Zwangsräumung kommen, Miete nicht mehr bezahlt, Briefe nicht mehr geöffnet."
Zwangsräumung: Zwei fehlende Mieten reichen aus
Zwei fehlende Mieten reichen aus, dann droht die Zwangsräumung. Und das gehe in Berlin inzwischen schnell, sogar wenn Kinder betroffen sind:
"Ich weiß, dass man da vor zehn Jahren auch nochmal anders mit den Vermietern verhandeln konnte. Hier ist eine Mutter mit Kindern, da wird die Miete sofort übernommen, wir kümmern uns, wir gehen zum Amt, die übernehmen das ja dann auch in der Regel, das ist härter geworden."
Der Grund dafür ist die katastrophale Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt, klagt Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach:
"Jede Wohnung, die heute geräumt wird, kann morgen eben auch teurer vermietet werden als sie vorher war. Das ist ein Anreiz in dieser Stadt, ist einfach so."
Und es ist auch ein Grund dafür, dass es das neue Projekt Housing first in Berlin so schwer hat. Den Obdachlosen, die in Berlin Anspruch auf Sozialhilfe haben, soll zuerst eine eigene Wohnung zur Verfügung gestellt werden − ohne Vorbedingungen − und erst dann werden alle anderen Probleme der Menschen gelöst:
"Housing first setzt an den Menschen an, die komplett gescheitert sind, also, die dieses Hilfesystem gar nicht nutzen können oder an dem Hilfesystem gescheitert sind. Sie müssen keine Voraussetzungen erfüllen mit der berühmten Wohnfähigkeit oder ähnlichem."
Die Leute beim Späti einsammeln
Wohnungen für das Projekt zu finden, ist im umkämpften Berliner Wohnungsmarkt ein großes Problem. Über Beschlagnahmung wird vereinzelt bereits nachgedacht. 1,1 Millionen Euro will das Land Berlin für die kommenden drei Jahre für Housing first zur Verfügung stellen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Menschen sich betreuen lassen, meint Martin Helmchen, vom zuständigen sozialen Träger "Neue Chance":
"Und wir gehen den Leuten auch hinterher. Das heißt, wenn die schlechte Phasen haben, wir gehen in die Wohnungen und klingeln oft genug und wenn wir wissen, der eine steht da vielleicht dauernd am Späti, dann gehen wir auch zum Späti hin und sammeln die Leute genau da ein, wo sie sind. Und das ist der Unterschied, man muss nicht dauernd in ein Büro kommen, fest Termine machen, alles genau einhalten, sondern wir versuchen erstmal, Beziehungsarbeit und Vertrauen in diesen Staat aufzubauen."
Vielleicht könnte auch Sylvia über das Projekt Housing first endlich wieder eine eigene Wohnung bekommen, vielleicht auch im betreuten Einzelwohnen. An ihre Zeit auf der Straße und die Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht erinnert sie sich nur ungern:
"Meistens habe ich nachts in der S-Bahn gesessen und bin die Ringbahn gefahren. Ab und an habe ich mal einen Schlafplatz in der Notübernachtung gehabt. Aber eben auch draußen auf der Parkbank oder so."
Sylvia ist optimistisch, dass sie ihr Leben jetzt wieder in den Griff bekommen wird. Wenn sie eine Wohnung hat, will sie irgendwann auch wieder arbeiten. Der Regelfall ist ihre Geschichte aber leider nicht.
"Also mich hat die Zeit nicht zerbrochen, mich hat sie eher stärker gemacht."