Obdachlosigkeit

Liebe Politiker, schaut hin!

Ein Schlafsack und eine Jacke liegen vor einer Wand und einem Rolladen mit Graffitis.
Schlafplatz eines Obdachlosen © picture alliance / Arco Images
Ein Appell von Eva Sichelschmidt · 16.01.2019
Sie liegen in Kälte und Regen unter Brücken, in Bahnhöfen, auf Parkbänken: Obdachlose, die ganz unten angekommen sind. Die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt kann es nicht fassen, dass so wenig für diese Menschen getan wird - in einem so reichen Land.
Irgendwann hatte der Leiter der Berliner Bahnhofsmission am Zoo, Dieter Puhl, die Nase gestrichen voll. Immer mehr Menschen starben in ihren Schlafsäcken, ohne auch nur ein einziges Hilfsangebot bekommen zu haben, starben unter der Überführung, an den Mauern der S-Bahn-Brücke, keine hundert Meter von seinem Büro entfernt oder auch schon mal direkt vor der Eingangstür. Denn geht es einem Obdachlosen richtig dreckig, schaut keiner mehr hin und auch die Sanitäter in ihren Rettungswagen sind nur schwer zu motivieren, wenn es sich um Alkoholabhängige und Drogensüchtige handelt.
Die Menschen sind an ihrem Schicksal selber schuld, lautet das gängige Vorurteil. Sie könnten schließlich auch arbeiten, so wie alle anderen.
Mit Unterstützung der Deutschen Bahn, der Berliner Verkehrsbetriebe, eines privaten Spenders und der Spendengelder der Bahnhofsmission gelang es Puhl, vier Arbeitsstellen für die sogenannten mobilen Einzelfallhelfer zu schaffen.

Das Erlebte verfolgt sie bis in den Schlaf

Vier junge Menschen zwischen 26 und 32 Jahre alt sind es derzeit, die sich um einzelne Obdachlose kümmern, ohne Zeitdruck, ganz individuell. Mit dem Ziel, sie von der Straße zu holen, sie wieder in die Gesellschaft zu integrieren, oder manchmal auch nur noch, ihnen ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen. Überflüssig zu sagen, dass der Job miserabel bezahlt wird, die Arbeit unvorstellbar hart ist, das Erlebte einen bisweilen in den Schlaf verfolgt.
Doch die Helfer beklagen sich nicht. Es sind intelligente Leute, sie könnten ebensogut Hochschulprofessoren oder Hirnchirurgen werden, aber sie haben sich für die soziale Arbeit entschieden. Dass gerade dieser Berufszweig so wenig Anerkennung und Wertschätzung erfährt, kann einen zum Verzweifeln bringen.
Und dass die Politik auf die wachsende Zahl der Obdachlosen kaum reagiert, dem Zuzug vor allem osteuropäischer Wohnungsloser ratlos gegenübersteht, während in den Großstädten der Wohnraum immer teurer wird, immer weniger Platz zur Verfügung steht, ist nicht zu verstehen.

Idealisten braucht der Staat

Was geschieht eigentlich mit unseren Steuergeldern? Die Frage ist vermutlich so alt wie die Pyramiden von Gizeh.
Die Obdachlosenhilfe ist auf Idealisten und selbstlose Spender angewiesen, wie so viele Organisationen, die für ein wenig Humanismus oder unsere Umwelt kämpfen.
Bürger helfen. Im Mittelmeer angeln engagierte Fischer nach Plastikmüll. Auf Facebook gibt es Gruppen von Umweltaktivisten, die sich an Wochenenden in den Großstädten zusammenfinden, um Plätze, Strände, Straßen und Wände zu säubern. In den Schulen renovieren Eltern während der Sommerferien die Klassenzimmer ihrer Kinder. In der Bahnhofsmission halten unzählige freiwillige Helfer den Betrieb am Laufen.
So weit, so schlecht. Das aber kann aber kann das Engagement einer Regierung nicht ersetzen. Unser Sozialsystem darf sich nicht allein auf private Spenden und die Freiwilligenarbeit stützen.

Auch die Helfer brauchen Hilfe

Liebe Politiker in Berlin und dem Bundestag, wie wäre es mit einem Gang durch die Straßen unserer Großstädte, mit offenen Augen? Auch ein Besuch der Bahnhofsmission kann nicht schaden.
Manche Politiker kommen tatsächlich vorbei, einige sogar regelmäßig. Man könnte den Aktiven, die täglich diesen unglaublichen Job machen, öfter mal Danke sagen und begreifen, dass Einzelfallhelfer ihrerseits Hilfe brauchen. Man könnte für sie Planstellen schaffen, zeitlich unbegrenzte.
Ist das zu viel verlangt von einem Staat, der so unverschämt reich ist wie dieser?

Eva Sichelschmidt, geboren 1970, wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Gesellenprüfung zur Damenschneiderin zog sie 1989 nach Berlin und machte sich mit einem Maßatelier für Braut- und Abendmoden selbstständig. Es folgten Aufträge als Kostümbildnerin bei Film und Oper. Seit 1997 ist sie Inhaberin des Geschäfts Whisky & Cigars, sie arbeitete als Repräsentantin des Berliner Auktionshauses Grisebach für Italien. Mit ihrem Ehemann Durs Grünbein und ihren drei Töchtern lebt sie in Rom und Berlin. Die Ruhe weg ist ihr erster Roman. Seit April schreibt sie den Blog Frauschreibtmann, www.eva-sichelschmidt.de

© Privat
Mehr zum Thema