Oberschlesiens Identität

Mit Heimatliebe zum Aufschwung

24:32 Minuten
Ein Bergmann in Kattowitz in Galauniform, Polen.
Ein Bergmann in Galauniform: Dass Oberschlesien den Strukturwandel gut meistert, baut auch auf Traditionen und dem kulturellen Erbe der Region auf. © Getty Images / iStockphoto / djedzura
Von Jan Pallokat |
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Oberschlesien wurde mit Steinkohle und Schwerindustrie reich und muss sich nun umorientieren. Den Menschen der Region im Süden Polens gelingt das erstaunlicherweise gut. Das hat vor allem einen Grund: die oberschlesische Identität.
Bei dieser Begegnung sollen Fans „Glory, glory, Tottenham“ erstmals angestimmt haben – heute Klassiker unter den Stadiongesängen bei den „Hotspurs“ im Norden Londons. Aber auch im polnischen Fußballgedächtnis ist die Paarung fest verankert: 1961, Europapokal der Landesmeister, Gornik „Bergmann“ Zabrze gegen Tottenham Hotspur.
Fussballspieler beim Spiel: Gornik Zabrze gegen Tottenham Hotspur in Chorzow, Polen am 13. September 1961. Gornik hat 4-2 gewonnen.
Gornik Zabrze gewinnt im Jahr 1961 gegen Tottenham Hotspur: Der oberschlesische Verein war Bergbau pur. Bis heute zieren Hammer und Hacke das Vereinsemblem.© picture alliance / PAP / Stanislaw Jakubowski
Mit 4:2 schicken die Polen die Engländer nach Hause. Die revanchieren sich mit einem satten 8:1. Der südpolnische Revierclub Zabrze war damals auf die polnische Meisterschaft abonniert. Auch international spielte man auf Augenhöhe, und Zabrze-Verteidiger Stanislaw Oslizlo war auf dem Weg zu einer polnischen Fußballlegende.
„Auf dem Papier waren wir Spieler selbst Angestellte der Bergwerke, praktisch ein Paradoxon jener Zeit“, erzählt er. „Denn wir waren Amateure, Fabrikarbeiter, die gegen Profimannschaften aus Deutschland, Italien, Holland oder Spanien antraten. Aber irgendwie haben wir es geschafft.“

Ein Ort polnischer Fußballgeschichte

Gornik Zabrze war Bergbau pur, bis heute zieren Hammer und Hacke das Vereinsemblem. An der Spitze des Vereins standen zu sozialistischen Zeiten Grubendirektoren und ein Vizebergbauminister, auf den Tribünen jubelten Bergleute und Stahlarbeiter.
Und auf dem Platz kickten: Bergarbeiter wie eben der langjährige Kapitän und Nationalspieler Oslizlo, der selbst vor Beginn seiner Fußballlaufbahn den Schacht hinuntergefahren war.
„Die Zeit, in der ich hier Fußball gespielt habe, war eigentlich sehr schön. Ich erinnere mich sehr gern daran, weil wir für wirklich tolle Leute gespielt haben, fantastische Kollegen aus den Gruben, mit denen wir täglich auch direkt zu tun gehabt haben, wir waren auch bei den Belegschaftsversammlungen dabei“, erzählt er.

Ich kannte den Bergbau sehr gut und hatte einen Heidenrespekt vor der Arbeit der Kumpel. Und dann ihr Jubel, wenn die Schiedsrichter und wir aus dem Tunnel in das Schlesische Stadion traten. Ich musste diesen Leuten wirklich mein Bestes geben, damit sie das Stadion zufrieden verlassen.

Stanislaw Oslizlo, polnische Fußballlegende

Heute beobachtet Oslizlo von einem Ehrenbüro hoch im Stadionrund aus live die weitere Entwicklung des Vereins. 85 Jahre ist er inzwischen alt und die großen Erfolge seines Teams sind lange her. Im neuen Jahrtausend hat Zabrze keine Titel mehr gewonnen, ist international irrelevant und krebst auch in der laufenden Saison im hinteren Mittelfeld der polnischen Bundesliga herum.
Ein Sinnbild auch für den Abstieg von Bergbau und Schwerindustrie in der Region, denen sie den Aufstieg zu einem der größten Ballungsräume in Mittelosteuropa verdankt.

Statt Stahlkocher nun „Open Space"

In der Bergarbeiterstadt Chorzow etwa, einst acht Gruben stark, lässt ein privater Betreiber derzeit ein letztes Feld ausbeuten: mit ferngesteuerten Maschinen und Fließbändern. Manneskraft wird hier kaum mehr gebraucht.
Hunderttausende Bergarbeiter und Stahlkocher verloren in den letzten 25 Jahren ihre Stelle. Andere betraten die Bühne: Solche wie Unternehmensgründer Mariusz Szymocha. 40 Jahre alt, Polohemd, Meckifrisur, jungenhaftes Lächeln.
„Das ist unser Büro Open Space, absichtlich kleiner als so ein großes Großraumbüro“, erklärt er. „Denn wenn hier vier oder fünf Leute arbeiten, konzentrieren sie sich auf ihre Aufgaben und niemand stört irgendjemanden.“
Computer und Schreibtisch statt Helm und Hacke, Businessenglisch statt Grubenschlesisch: Mariusz Szymocha arbeitete in Firmen in der ganzen Welt, bevor er aus – wie er sagt – Heimatverbundenheit zurück nach Schlesien ging und eine Unternehmensberatung gründete. Ein Lebenslauf im Kontrast zu den Altvorderen, die oft ein Arbeitsleben lang in ein und derselben Zeche arbeiteten.
„Wir arbeiten mit Unternehmen zusammen, die sehr traditionell orientiert sind, oft in Verbindung stehen mit dem Bergbau oder dem Hüttenwesen. Da denken die Leute dann oft immer noch in Begriffen wie ‚harte Arbeit‘, dass man einen Arbeitsplatz 20, 30 Jahre lang hat“, erzählt er.

Einige Bekannte laden uns zu ihren letzten Arbeitstagen ein und sagen zum Beispiel, dass sie hier 40, manchmal 50 Jahre an einem Ort gearbeitet haben. Aber das sind schon Ausnahmen, echte Perlen, Raritäten eben.

Mariusz Szymocha, Unternehmensgründer

Der Grubenarbeiter, im Sozialismus zu einer Art Elite der Arbeiterklasse stilisiert, war vielfach privilegiert. Seine Renten liegen bis heute höher als üblich. Szymochas Familie gehörte nicht zu dieser Elite und der junge Mariusz schaute bisweilen neidisch auf sie.

Industrie und Tradition neben IT und 3D-Brille

Heute hat sich das geändert, heute berät er Unternehmen, die von ihm wissen wollen, wie sie ihre Arbeitsweise verbessern können, darunter auch traditionelle Industriebetriebe, die es in Schlesien auch immer noch gibt.
„Wir haben es mit Industrie und Tradition zu tun und eine Straße weiter sitzen IT-Leute, die sich eine 3-D-Brille aufsetzen und ferngesteuert Aufgaben erledigen, etwa in einer Fabrik in Frankreich oder in Deutschland“, erklärt er. „Dann gibt es aber auch Kollegen, die ich sehr schätze, die immer noch wie wir hier in Schlesien sagen in die Scholle“ fahren und Kohle fördern. Es ist ein sehr interessanter Ort hier!“
Während Zigtausende Kohlekumpel und Stahlkocher ihren Arbeitsplatz verloren oder vorzeitig in den Ruhestand gingen, rekrutierten Service-Firmen aus aller Welt sprachgewandte Hochschulabsolventen, deren Stellen in den Statistiken als „unternehmensnahe Dienstleistungen“ geführt werden. Beratertätigkeiten wie bei Szymocha, aber auch im Outsourcing etwa von Finanzen, Buchhaltung, IT.
Von Oberschlesien aus steuern sie die Buchhaltung von Firmen, die sie oft nie besucht haben, oder sie pflegen per Fernwartung die IT in einem Betrieb am anderen Ende der Welt.
Vor allem Kattowitz, aber auch andere größere Städte Oberschlesiens entwickelten sich in den letzten Jahren zu regelrechten Dienstleistungszentren. Emsige Helfer der Weltwirtschaft, die den eigentlichen Unternehmen Arbeit abnehmen – dann doch auch wieder den Bergleuten gar nicht unähnlich, die ebenso unermüdlich Fuhre um Fuhre Rohstoff anlieferten, der die Weltwirtschaft unter Dampf hielt.

„Es geht um das kulturelle Gedächtnis“

Es sind moderne Jobs, die gutes Geld bringen, körperlich nicht so auszehrend und gefährlich wie die Arbeit unter Tage. Aber sie schaffen nicht die Verwurzelung, die die Arbeit im Bergwerk mit sich brachte, den Lokalstolz, den sie generierte.
„Die oberschlesische Industrie hat dieses Land geprägt, man könnte sogar sagen, sie hat das Land geschaffen. Was sie heute hier sehen, von der Anordnung der Straßen bis zu den Eisenbahnlinien: Alles entstand entlang der unterirdischen Kohleflöze, die ganze Topographie, die Orte und Arbeitersiedlungen“, sagt Beata Piecha-van Schagen.
Die Historikerin ist eine bedeutende Kennerin von Tradition und Soziokultur Oberschlesiens.

Es geht dabei nicht nur um das materielle Erbe, sondern auch um das kulturelle Gedächtnis. Für die Menschen, auch für die jungen, ist das Nachdenken über sich selbst in erster Linie ein Nachdenken über die Menschen „von hier“. Und das ist durchdrungen von der Schwerindustrie, die diesen Ort geschaffen hat.

Beata Piecha-van Schagen, Historikerin

Was unübersehbar ist, Oberschlesien ist durchzogen von Bahndämmen, ausgedienten Schachtanlagen, Schloten und verfallenen Werksgeländen: manchmal zum begehbaren Industriemuseum umgebaut, manchmal wie in Kattowitz zum Einkaufsparadies umfunktioniert mit bunt bemaltem Förderturm als Treffpunkt und Logo-Vorlage.

Nostalgische Verklärung des Industriezeitalters

Forscherin Piecha spürt nach, wie das Industrieerbe auch in den Köpfen weiterlebt, auf vielerlei Weise. Eine Ausstellung im Ethnografischen Museum Chorzow etwa zeigt Tätowierungen.
Historisches Foto von Bergarbeitern in Zabrze. "Königsmarckhütte. Die Belegschaft des Hochofens III", ca. 1890.
Bergarbeiter in Zabrze am Ende des 19. Jahrhunderts: Der Bergbau gehört zum kulturellen Gedächtnis der Region, erklärt die Historikerin Beata Piecha-van Schagen.© picture alliance / akg images
Oberschlesierinnen und Oberschlesier von heute sind zu sehen, die selbst schon nicht mehr unter Tage arbeiten, sich aber Ornamente des Industriezeitalters in die Haut ritzten. Den Hochofen etwa, an dem der Großvater arbeitete, den es aber schon lange nicht mehr gibt. Dass die Arbeit an den Öfen und im Stollen, die sich nun zusehends nostalgisch verklärt, hart und gesundheitsschädlich war, verraten die Tattoos nicht.
„Wir haben also ein gewisses Problem. Denn einerseits sind wir glücklich, wenn wir überall Fotovoltaikanlagen installieren, damit wir gesündere Luft atmen“, sagt die Historikerin. „Andererseits müssen wir entweder eine neue Identität finden, oder akzeptieren, dass wir darum kämpfen müssen, dieses Erbe zu bewahren und jede noch so kleine Spur der Erinnerung an diese großartige Industrie zu erhalten, die diese kleine lokale Welt um uns geschaffen hat.“

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Denn im Revier war die Arbeit nicht bloß ein Job: Sie prägte über Jahrhunderte den Alltag, die Beziehungen, Mentalität, Musik, sogar die Sprache. Kohle und Stahl: Das war das Rückgrat ganz Polens. Noch in den 1920er-Jahren lieferten sich Deutsche und Polen blutige Verteilungskämpfe um das Revier. Und nun: der Bergmann als Auslaufmodell, die Kohle schuldig an Smog und Klimakrise.
Arek Gola beobachtet als Fotograf seit Jahrzehnten den rasanten Wandel seiner Heimatregion.
„In Schlesien galt es früher als Zeichen des Scheiterns, in diesen typischen Arbeitermehrfamilienhäusern aus Ziegeln zu leben. Wer mehr wollte oder etwas mehr verdiente, der träumte davon, in einen Plattenbau zu ziehen, das war in den 1980er-Jahren ein Zeichen des Luxus“, erzählt er.

Oberschlesische Mentalität im Aufschwung

Das habe sich nun komplett geändert, erklärt der 50-jährige Schlesien-Enthusiast. Direkt nach dem Urlaub war er bereit zum Gespräch, zu Schlesien immer, hatte er gesagt.
„Jetzt gilt es als Luxus, in einer vom Bauträger hochgezogenen modernen Wohnsiedlung zu leben, die ihren eigenen ästhetischen Regeln gehorchen. Aber auch das ändert sich schon wieder und wir kehren zu den Backsteinhäusern zurück, zum Charakter dieser Bauten“, sagt er.

Es beginnt plötzlich, Luxus zu werden, in diesen Ziegelbauten zu leben, die sie eben noch alle loswerden wollten. Denn die Leute wollen etwas, das ihre Identität definiert, und in Schlesien ist eben der Backstein stark: die Form, der Schwung. Darauf kommen wir wieder zurück. Die Bauherren merken, dass sie auf mehr Zuspruch stoßen, wenn sie auf diese Ziegelästhetik zurückgreifen.

Arek Gola, Fotograf

Oder gleich im Original wie in Nikisowiec, einer Backsteinsiedlung, einst verrufen und heute sauber und hübsch saniert und plötzlich angesagter Ort mit hohen Preisen. Ein Beispiel, das Schule macht. Im Städtchen Ruda ist ein Straßenzug alter Arbeiterhäuschen restauriert worden und lockt nun mit Laden und Clubhaus zum Miteinander. Die Rutsche auf dem Spielplatz gegenüber ist in Form eines Förderturms gestaltet.
Eine Rückbesinnung auf vielen Ebenen: Die schlesische Sprache, lange eher als minderwertig belächelte Mischung aus Polnisch und Deutsch, greifen Jüngere heute mit Stolz in der Stimme auf und bedrucken damit T-Shirts. Bergmannslieder, die das Leben der Familien in allen Facetten beschreiben, werden gespielt und für die Nachwelt gesichert.

Eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten Polens

Die Suche nach der eigenen Identität ist auch deswegen möglich, weil es Oberschlesien insgesamt gut geht und der Verlust so vieler Industriearbeitsplätze vergleichsweise gut verkraftet wurde. Heute hat die Region eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten Polens. In Zentren wie Kattowitz oder Gleiwitz herrscht praktisch Vollbeschäftigung.
Aus dem Fenster seiner kleinen Kattowitzer Unternehmensberatung sieht Gründer Mariusz Szymocha vier Bürotürme, auf denen die Schriftzüge weltweit bekannter Beratungsgesellschaften prangen: Szymochas globale Konkurrenten, die ihre Büros auf einem früheren Areal aus Kohlemine und Stahlwerk hochzogen, nur eine Backsteinkirche blieb stehen.
„Wir stehen im Schatten dieser vier Bürotürme, aber es ist ein warmer Schatten, und auch eine Inspiration für uns“, sagt er. „Wenn sie hier erfolgreich sind, warum sollten wir es nicht auch sein, mit eigenem Wissen, eigener Erfahrung!"

Das oberschlesische Arbeitsethos

Zahlreiche Hochschulen, gutes Bildungsniveau, verbreitete Sprachkenntnisse: Darauf verweisen Experten, wenn sie erklären sollen, warum gerade Oberschlesien der Ort ist, an dem globale Service-Dienstleister ihre verlängerten Computerbänke aufstellen.
Auch der Ruf der lokalen Bevölkerung mag eine Rolle spielen – sie sollen besonders tüchtig und ehrlich sein, meint Kulturforscherin Piecha.
„Ja, das oberschlesische Arbeitsethos! Damit war gemeint, dass die Arbeit immer gewissenhaft erledigt werden musste. Man hat seinen Vorgesetzten bedingungslos zu gehorchen“, erklärt sie.
Denn: „Diese Unterwerfung unter eine bestimmte Ordnung, einschließlich der gesetzlichen Ordnung, ergab sich einfach aus den Arbeitsbedingungen in einem Berg- oder Stahlwerk. Wenn du nicht hörst, dich nicht an die Regeln im Arbeitsprozess hältst, den Rat erfahrener Arbeiter ignorierst, gefährdest du die Gesundheit oder sogar das Leben der ganzen Arbeitseinheit.“
Und auch im Fußballstadion lebt trotz ausbleibender Erfolge von Bergmann Zabrze die Tradition, auch wenn die „Kibice“, wie Fußballfans auf Polnisch heißen, selten noch selbst Bergleute sind wie früher, als Vereinslegende Oslizlo von seiner Verteidigerposition aus das Spiel dirigierte.
„Wir begegnen vielen Anhängern und manchmal denke ich, Junge, du warst wahrscheinlich noch nicht mal auf der Welt, als Gornik seine Erfolge feierte“, sagt er „Ich ziehe daraus den Schluss, dass sie etwas mit dem Verein verbindet, denn wenn es irgendein Klub wäre und sie ihn nicht lieben und verehren könnten, würden sie nicht kommen.“
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