Obstbau wie vor 100 Jahren

Pastorenbirne trifft rheinischen Bohnapfel

11:34 Minuten
Weinreben in Reih und Glied sowie Obstbäume in saftig-grüner Hügellandschaft
Weinberge und Obstwiesen in Staufen im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald: Obstanbau funktioniert auch ohne Chemie. © Deutschlandradio / Michael Frantzen
Von Michael Frantzen · 17.11.2020
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Biobauer Martin Geng produziert Obst. Ungespritztes Obst. Er behandelt seine Bäume nicht – weder chemisch noch biologisch. Stattdessen setzt er auf alte Apfel- und Birnensorten und das Rotkehlchen als Schädlingsbekämpfer.
Äpfel, Birnen, Kirschen. Seit zehn Jahren produziert Biobauer Martin Geng aus dem Breisgau südlich von Freiburg auf 16 Hektar Obst. Alles bleibt ungespritzt.
Der eine oder andere konventionelle Bauer findet das ziemlich rebellisch. Der 58-Jährige einfach naheliegend: "Über 85 Prozent der Bevölkerung bevorzugen ungespritztes Obst. Aber es gibt so gut wie keines mehr."
Es ist Mittwoch Morgen, kurz nach acht. Der Mann mit den buschigen Augenbrauen und dem sonnengegerbten Gesicht ist schon seit zweieinhalb Stunden auf den Beinen. Bei der Apfelernte müssen alle früh raus, der Chef genauso wie sein zehnköpfiges Team.
Geng zeigt auf die Kisten voller Äpfel in der Lagerhalle. Das meiste davon rheinischer Bohnapfel, eine alte Sorte: leicht säuerlich im Geschmack, bekömmlich, besonders für Apfel-Allergiker. Und ideal als Saft.
"Wir probieren jetzt mal den Frischgepressten. Denn der Frischgepresste hat eine supertolle Aroma-Note. Das geht so ein bisschen ins Bananige."

Hinweise aus alten Büchern

Rund 300 verschiedene alte Apfelsorten und 70 alte Birnenarten hat der Quereinsteiger in den letzten zehn Jahren am Fuße des Schwarzwaldes angebaut. Es sind Sorten, die man im Supermarkt lange suchen kann.

Geng schließt auf dem Hof seines Obstbetriebs kurz die Augen, ehe er anfängt, die Namen der Oldtimer aufzuzählen: Rheinischer Bohnapfel. Champagner Renette. Pastorenbirne. Allesamt Klassiker, allesamt resistenter als die glatt polierten Supermarkt-Früchte.
Äpfel für den Hofladen in großen grünen Plastikkörben
Äpfel für den Hofladen: Die Früchte sind reif und schmackhaft.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
"Ich wollte mich ja wirklich auf den Weg machen und Obst anbauen ohne zu spritzen, nachdem die ganze Fachwelt immer gesagt hat: Vergiss es, das geht nicht! Aber gerade in den alten Büchern gab es natürlich Hinweise: Es gab ja gar keine Spritzmittel. Also musste es funktionieren. Ich habe Schriften aus der Zeit von 1900 bis 1920 gelesen. Da war beschrieben, das Rotkehlchen sei so spannend, weil es so viele Schädlinge fresse. Ein Vogelpaar mit seiner Familie frisst im Jahr 75 Kilo Insekten. Und wir haben mittlerweile pro Hektar an die 25 Nistkästen. Und wir können heute sagen: Wir beherbergen pro Hektar wirklich 20 Vogelfamilien."

Keine faulen Kompromisse

"Da sind wir jetzt in unserer Mosterei. Die Mosterei steht unter dem Motto: ohne faule Kompromisse."
Ohne faule Kompromisse: Das heißt für Mitarbeiter Jonas Meier: sortieren, sortieren, sortieren. Und höllisch aufpassen, dass nicht ein fauler Apfel durchflutscht.
"Monoton ist es auf jeden Fall. Aber auch kontemplativ. Ich habe acht Jahre studiert, und nun nach einfacher, sinnvoller Arbeit gesucht. Wenn man das zwei, drei Tage macht, dann kann einem das zwar schon auf den Keks gehen. Aber wir fahren dann auch wieder raus, müssen neu auflesen. Das ist dann schon abwechslungsreich."
Jonas hat Philosophie studiert, im nahe gelegenen Freiburg. Der 28-Jährige lacht. Natürlich haben ein paar seiner Freunde und alten Kommilitoninnen anfangs Sprüche geklopft: Ob das jetzt dialektisch zu verstehen sei, die Sache mit dem neuen Job. Und ob er wirklich für elf Euro die Stunde schuften wolle.
Will er: "Mir war klar, dass ich nach meinem Studium in irgendeiner Form an Geld kommen muss. Dass ich aber was Sinnvolles machen wollte. Es lagen auch andere Dinge auf dem Tisch, ich hätte meine Doktorarbeit schreiben können. Das wollte ich aber nicht, nach der langen Zeit an der Uni."

Drei Euro für das Kilo Grafensteiner

Kundschaft! Eckhart Müller kauft sein Obst direkt im Hofladen. Es lasse sich dann einfacher transportieren, meint der Ex-Winzer, ehe er ein paar Boxen mit Apfelsaft in den Kofferraum seines Geländewagens hievt:
"Das ist für uns privat, für die Familie. Wir haben jetzt Golden Delicious und Grafensteiner. Und noch den alten rheinischen Bohnapfel."
Gut drei Euro kostet das Kilo Grafensteiner, einige der ganz alten Sorten knapp fünf Euro. Doch zum Ausgleich gibt es auch Zweite-Wahl-Obst für die Hälfte des Preises. Martin Geng ist das wichtig, schließlich sollen sich nicht nur Besserverdiener sein "Gourmet-Obst" leisten können.
Letztes Jahr hat er seinen Umsatz verdoppelt, noch mal fünfeinhalb Hektar dazugekauft, Richtung Markgräflerland und Kaiserstuhl. Darunter alte Streuobstwiesen, die sonst verfallen wären.
Er kann sich das leisten. Zwar ist sein Ertrag mit fünfzehn Tonnen pro Hektar geringer als im Intensivanbau, dafür fallen aber auch nur ein Sechstel der Kosten an.

Geng seufzt leise. Das alte Lied. Er ist wieder mal zu erfolgreich. Das "Obst-Paradies" ist schon seine neunte Firma. Die anderen acht Firmen, darunter ein Öko-Zaun-Produzent im benachbarten Elsass und ein Unternehmen für Niedrig-Energiehäuser, hat er verkauft. An Mitarbeiter. Weil ihm irgendwann alles zu viel wurde, der ganze Stress.
Ein Mann mit roter Jacke steht vor Obstkisten und einem Autoanhänger auf seinem Hof.
Martin Geng gehört das "Obstparadies Staufen". Seine Anbaumethode hat mittlerweile Schule gemacht.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Der gelernte Zimmermann gibt sich einen Ruck: Jammern liegt ihm nicht. Erst recht nicht in Zeiten wie diesen. Die Coronapandemie habe sich auf die Umsätze eher positiv ausgewirkt. Führungen musste er allerdings absagen. Abgesagt hat der Rebell fürs erste auch seine Vorträge darüber, wie nachhaltiger Obstbau funktionieren kann.
Geng schüttelt den Kopf: Nicht abgesagt - verschoben: "In der Hoffnung, dass sich dieses Thema Corona irgendwann mal wieder bessert. Die Hoffnung stirbt zuletzt."

Heimat für die Insekten

Das Leben: Es kann so schön sein. Majestätisch zieht ein Bussard über dem "Birnenwäldle" seine Runden. Am Wegesrand rauschen die Bäume, jeder Baum eine alte Sorte. Geng liebt es, wenn im Winter das schneeweiße Hermelin-Pärchen an ihm vorbeiflitzt. Die verschiedenen Jahreszeiten.
"Man sieht jetzt auch die Wiese. Wir mähen zwischen den Bäumen erst spät, wenn die Bäume ausgeblüht haben. Aber wir mähen nicht alles, damit die Insektenwelt nicht plötzlich heimatlos ist."
Mit dem Vogel- und Insektensterben beschäftigt sich der Mann, der als Freier Wähler den Gemeinderat von Staufen aufmischt, schon eine halbe Ewigkeit. Vier von fünf Insekten, sprudelt es aus ihm heraus, seien schon verschwunden. Und genauso viele Vögel.
"Wir brauchen in all unseren Lebensbereichen viel zu viel Energie. Und das ist auch im Obstbau mittlerweile so. Da ist der offizielle Behandlungsindex mittlerweile schon über 31. Das heißt, wir brauchen im Durchschnitt 31 Spritzungen, um Äpfel zu produzieren und an den Handel zu verkaufen. Und von daher würde ich sagen: So wie wir das machen, funktioniert das zwar nicht für den großen Handel. Aber auch mit der regionalen Vermarktung kann man Obstbau betreiben."

Das "Modell Geng" hat Schule gemacht

Das "Modell Geng" - längst hat es Schule gemacht, Nachahmer gefunden, Preise eingeheimst: darunter letztes Jahr den Bundespreis für Ökolandbau aus der Hand von Bundesagrarministerin Julia Klöckner.
Der Obstbauer steigt in seinen Pick-up. Er will zurück auf den Hof. Äpfel sortieren. Für ihn kann es nichts Schöneres geben: "Und wenn ich dann am Freitagmittag höre, dass im Radio nur noch die Staus durchgeben werden, die länger als zwanzig Kilometer sind, dann denke ich: Ich bin wirklich im Paradies."
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