Occupy everything
Etliche Wissenschaftler bezweifeln, dass aus der Occupy-Bewegung eine soziale Mobilisierung wie 1968 oder 1989 entstehen könnte. Welche politischen Interventionen heute überhaupt möglich sind, fragte Claus Leggewie in einem Lesart-Spezial aus dem Grillo Theater in Essen.
Claus Leggewie: Herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe von Lesart Spezial, der politischen Buchsendung von Deutschlandradio Kultur aus dem Café Zentral im Schauspiel Essen, gemeinsam mit der Buchhandlung "Proust" und unserem Medienpartner, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Ich bin Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts.
Protest: Vor ziemlich genau einem Jahr versammelte sich in New York erstmals die Occupy-Bewegung in einem Zeltcamp, die von dort aus alle Welt ergriff und im Jahr 2011 mit zahllosen Vorläufern und Nachahmern den Eindruck einer globalen Protestwelle erzeugte, die sich dem Finanzkapital, den arabischen Autokraten, den Krisenmanagern in Europa, in Israel, in Chile und sogar in China entgegenstellte.
Nur den Eindruck einer Protestwelle? Zum Jahrestag hat das Camp vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt seine Zelte abgerissen. Die Protestforscher urteilen: Daraus wird keine soziale Mobilisierung wie 1968 oder 1989. "Occupy Everything", wie wir unsere Sendung genannt haben, sei zu beliebig, zu bieder, zu beschränkt gewesen.
Und wir fragen: Welche politischen Interventionen sind überhaupt möglich im urbanen Raum, im virtuellen Raum? Oder ist wirklich alles alternativlos?
Zwei Gäste können uns da hoffentlich weiterhelfen: Wolfgang Kraushaar, der bewährte Chronist der Revolten, Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Wir sprechen als erstes über sein Buch "Der Aufruhr der Ausgebildeten. Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung". Guten Tag, Herr Kraushaar.
Friedrich von Borries ist Professor für Designtheorie an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, ist Architekt, Kurator, Romancier. Wir sprechen gleich über sein Forschungsprojekt "Urbane Intervention" und sein gerade daraus hervorgegangenes "Glossar der Interventionen. Annäherung an einen überverwendeten, aber unterbestimmten Begriff". Auch Ihnen herzlich Willkommen. Schön, dass Sie beide hier sind und mit uns und dem Publikum im Schauspiel Essen diskutieren werden.
Herr Kraushaar, Occupy – halb leer oder halb voll? Strohfeuer oder Zündfunken?
Wolfgang Kraushaar: Das ist sehr zugespitzt gefragt, ehrlich gesagt. Man ist ja in gewisser Weise in Verlegenheit, wenn man ein Jahr, nachdem Occypy Wallstreet als Schlachtruf sozusagen auserkoren worden war, noch mal über die Occypy-Bewegung spricht. In dieser Woche ist das ja sehr häufig geschehen, weil der 17. September ja der erste Jahrestag der Occypy-Wallstreet-Bewegung war. Das hat eigentlich alles schon mehr oder weniger die Form eines Nachrufs angenommen. Insofern ist das fast schon ein Euphemismus, von halb voll oder halb leer zu sprechen.
Ich würde sagen, die Bewegung selber ist nicht sonderlich lebendig. Es gibt sie noch und sie tut auch alles dafür, um nicht für tot erklärt zu werden, aber ich kann nicht erkennen, wo der zündende Funke momentan herkommen kann, um diese Bewegung wirklich voranzubringen.
Ich glaube, das Entscheidende besteht darin, dass die Occupy-Bewegung, wenn man sie als globales Phänomen betrachtet, ihren wirklich tragenden Stützpunkt bereits im November 2011 verloren hat, nämlich den Zuccotti Park, der damals besetzt worden war am 17. September. All das, was multimedial dann in die Welt gegangen ist und dann zur Initiierung vieler kleiner weiterer Protestcamps hat führen können, das hängt mit diesem großen Schaufenster Manhattan zusammen, mit der Wallstreet und mit der Besetzung des Zuccotti Parks.
Seitdem dies nicht mehr existiert, hat diese multimediale Maschine ihren Motor verloren und die Occupy-Bewegung ist in gewisser Weise wie ein großer Luftballon in sich zusammengestürzt.
Leggewie: Sie haben ja dieses Buch relativ schnell dann geschrieben. Es resümiert so ein bisschen die Protestwelle des Jahres 2011. Ich gehe mal ein bisschen durchs Buch durch: Sie suchen die Schauplätze auf vom Tahrir in Kairo bis eben zur Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Sie reden über die Akteure, die virtuellen Räume, können wir uns vielleicht noch drüber unterhalten, was Facebook und Twitter für diese Bewegung zu bedeuten haben. Sie reden über den Fall der arabischen Autokratie, die Verursacher der weltweiten Finanzkrise und kommen dann zu so einer – bevor Sie einen kleinen Abgesang machen – auf Ihre, glaube ich, zentrale These: Die Prekarisierten erproben den Protest.
Abgesehen von der Alliteration, die Prekarisierten erproben den Protest, was meinen Sie damit?
Kraushaar: Ja, es gab vor 15 Jahren von Pierre Bourdieu, dem berühmten französischen Soziologen, der inzwischen leider verstorben ist, die Prognose, dass die Prekarisierten nicht wirklich protestieren könnten, und zwar aufgrund ihrer objektiven Bedingungen. Sie würden in derartig schwierigen Arbeitssituationen, Lebenssituationen sich bewegen, dass sie gar nicht mehr die Traute, den Impuls hätten, um da rauszufinden.
Leggewie: Sagen Sie mal zwei Beispiele für Prekarisierung.
Kraushaar: Für Prekarisierung? Es bedeutet ja nichts anderes als eine totale Unsicherheit, was die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse anbetrifft. Das heißt, es sind Jobs, die nur über ganz kurze Zeit vereinbart werden und die diejenigen, die in diese Jobverhältnisse eintreten, vor allen Dingen in das Problem führen, dass sie keine Perspektiven entwickeln können. Das heißt, die soziale Ausformulierung von Arbeitsverhältnissen im Hinblick auf Sozialverhältnisse ist damit maßgeblich beschädigt. Und das ist ja zu einer Art Signum dieser Art marktradikalisierter Moderne geworden.
Und Bourdieu war der Ansicht, dass da eigentlich nichts zu erwarten sei. Und das Gegenteil ist eigentlich eingetreten. Es hat schon in Frankreich im Jahre 2000 eine Génération Précaire gegeben. Und es hat sich dann mehr und mehr durchgesetzt, dass diese Prekarisierten durchaus dazu in der Lage sind zu protestieren. Und ich glaube, dass die Occupy-Bewegung ein sehr, sehr gutes Beispiel dafür ist, dass sich das auch im Nu innerhalb kürzester Zeit dann international ausbilden und multiplizieren kann.
Leggewie: Der Titel des Buches ist ja "Der Aufruhr der Ausgebildeten". Das wäre ja auch revolutionshistorisch ganz konsequent. Diejenigen, die eigentlich höhere Aspirationen haben, die eigentlich einen guten Job haben wollen, die stellen dann fest, die Welt ist ein bisschen vernagelt, wir kommen nicht weiter. Wir sinken ins Prekariat ab. Nehmen Sie die jungen Leute, die in Madrid, auch infolge der Schulden- und Eurokrise jetzt arbeitslos, perspektivlos sind. Und dann ist das eigentlich das Motiv zum Aufstand.
Herr von Borries, Sie sind ein paar Jahre jünger. Wie haben Sie das Buch gelesen?
Friedrich von Borries: Erstmal fand ich es ein erstaunlich gut lesbares Buch. Es hat, auch wenn das zu dem Thema vielleicht nicht passt, Spaß gemacht, das zu lesen. Für mich war eine der Kernthesen, dass diese gegenwärtigen Protestbewegungen keine politischen sind, sondern primär ökonomisch motivierte. Das heißt, Sie beschreiben, dass es kein politisches Programm gibt, dass es vor allem ein Aufstand derer ist, wie ja auch eben beschrieben, die auf Wohlstand gehofft haben oder hoffen als gut Ausgebildete und dann aber an ihm möglicherweise nicht werden teilhaben können.
Vor dem Hintergrund hat mir aber ein Ereignis, für mich sehr wichtig, des Jahres 2011 gefehlt, wo ja auch manche sagen, es sei gar keine Protestbewegung, nämlich die Londoner Unruhen, wo ja auch Leute auf die Straße gegangen sind, auch nicht mit politischen Forderungen, sondern einfach in die Läden gegangen sind und sich das rausgeholt haben, was ihnen immer versprochen wurde.
Warum haben Sie die denn nicht drin?
Kraushaar: Ich kann Ihnen das genau sagen. Es gibt verschiedene Länder, die ich nicht aufgenommen habe. Ich habe zum Beispiel Chile porträtiert. Ich habe China porträtiert, die USA sowieso, wenn man über Occupy spricht, kommt man daran nicht vorbei, Spanien, Portugal, aber ich habe zwei Länder bezeichnenderweise draußen gelassen aus diesem Spektrum: zum einen Griechenland, was sehr nahe gelegen hätte, und zum anderen Großbritannien, Großbritannien deshalb, weil es in England eine Spaltung gegeben hat. Und zwar hat es in Großbritannien eine sehr starke Studentenbewegung gegeben in den Jahren 2009/2010. Und es hat dann im August 2011 diese Riots gegeben in den Vorstädten.
Das heißt, dort haben wir vor Augen gehabt eine Spaltung zwischen sozialen Protesten auf der einen Seite und Protesten von Hochqualifizierten auf der anderen Seite, die völlig voneinander getrennt waren. In anderen Ländern, wie Spanien zum Beispiel, ist das miteinander vermischt. Das finde ich sehr interessant daran. Und das hat in mein Schema und in den Ansatz, das zu interpretieren, nicht reingepasst. Und deshalb habe ich darauf verzichtet.
Von Borries: Ich fand diese Londoner Unruhen auch nach dem Lesen Ihres Buches noch mal besonders interessant, weil sie ja in radikalster Form versuchen, ihre Kritik am Kapitalismus mit einem Konsumverhalten durchzuführen und dass das ja ein wesentliches Merkmal der amerikanischen Occupy-Bewegung ist, auch darüber schreiben Sie ja, dass sie initiiert wurden von Kalle Lasn, einem Werbungskritiker, der aber selber aus der Werbung ursprünglich kommt, also Marketingexperte ist, und man ja an Occupy auch sieht, dass da sehr viel Marketing-Know-how dahinter steckt in den Strategien und man sich da ja auch fragt: Kann man den Kapitalismus oder den Neoliberalismus denn mit seinen eigenen Mitteln überhaupt kritisieren und schlagen?
Denn das ist ja letztlich das, was Occupy mit seiner Medienstrategie, den ganzen Aufmerksamkeitsmechanismen versucht.
Kraushaar: Im Grunde genommen ist es eine Form der immanenten Kritik. Kalle Lasn hat ja nichts anderes getan, als eine Art von Werbestrategie in Protestbewegung und Artikulation zu übersetzen. Von ihm stammt oder von seiner Redaktion, von der Redaktion der Zeitschrift Adbusters stammt ja der Aufruf "Occupy Wallstreet". Da ist dieser Funke hergekommen, der allerdings sich auch wiederum eines Anschlusses verdankt, der vom Tahrir-Platz in Kairo ausgegangen ist. Das fand ich daran sehr bemerkenswert, dass nämlich etwas vorexerziert worden war durch die wochenlangen Proteste und Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz, die zur Abdankung des Mubarak-Regimes geführt haben, das dann wiederum als vorbildlich angesehen wurde. Und Kalle Lasn und Adbusters haben dazu aufgefordert, einen Tahrir-Moment sozusagen herzustellen durch die Besetzung der Wallstreet. Das war der Auslöser.
Leggewie: Wenn man neue Medien – digitale Medien, so genannte neue Medien, sind uralt schon – wenn man digitale Medien zur Verfügung hat, welche Rolle spielt denn das? Es wird ja gerade in Bezug auf die arabische Rebellion sehr stark von der Facebook-Revolution gesprochen. Dazu äußern Sie sich ja auch.
Kraushaar: Ja. Also, das ist, glaub ich, ein sehr ambivalentes und zum Teil auch irreführendes Stichwort. Es ist unbestreitbar, dass diese Rebellionen in den arabischen Staaten sich in einem hohen Maße der unglaublich schnellen Vernetzung und Kommunikation über Social Media verdanken. Aber interessant ist, und dazu gibt es eine Studie eines arabischen Politikwissenschaftlers, der an einer amerikanischen Universität lehrt, die folgendes besagt, dass nämlich erst in dem Moment, als man in Ägypten seitens des Regimes alles getan hat, um jegliche Internet-Connection zu unterbinden, es tatsächlich zu einer sozialen Revolution gekommen ist – vorher nicht.
Vorher sind zwar auch Zehntausende oder Hunderttausende zusammengekommen, aber erst in dem Moment, als das alles abgeklemmt war, da waren die Protestierenden, die Revoltierenden dazu gezwungen in die Stadtteile auszuschwärmen. Und erst, als sie diese Leute, diese Teile der Bevölkerung aufgefordert und integriert hatten, hat das ein enormes Gewicht bekommen.
Insofern gibt es davon eine differierende These, die eigentlich sagt: Für den Anstoß sind diese Social Media ganz elementar wichtig gewesen, aber als Trägerschaft und auf Dauer gestellt, sind sie das nicht unbedingt. Und sie verführen gerade zu dem Anschein, und ich glaube, das ist auch das Tückische bei der Occupy-Bewegung, dass man den Eindruck hat, die Bewegung, die existiert und die ist so ausgebildet und so weiter und so fort. Wenn man in das Internet schaut und sieht sich diese Websites an, hat man tatsächlich den Eindruck. Aber an den Plätzen, an den Orten, wo das tatsächlich sozial sich sozusagen formieren sollte, ist kaum noch was los. Und diese Plätze konnten ja in Nullkommanichts abgeräumt werden.
Wenn früher zum Beispiel, was weiß ich, vor 30 Jahren Freie Republik Wendland, da gab’s eine Standschaltung von den Polizeikräften zum Bundeskanzleramt, um genau zu verfolgen, wie weit das gegangen ist. Das war ganz unsicher, ob die Polizeikräfte das schaffen würden. Heutzutage gibt’s doch eine Standleitung von der EZB zu Angela Merkel. Das ist längst vorbei. Das sind ganz andere Dimensionen.
Leggewie: Stichwort Angela Merkel, die liebt ja Occupy. Die hat ja gesagt, "Occupy ist eine ganz tolle Sache, die können wir gebrauchen." – Herr von Borries, sind Sie mal in einer Zeltstadt gewesen? Lieben Sie Occupy auch so sehr, dass Sie mal hingegangen sind?
Von Borries: Alle lieben Occupy. Ich bin trotzdem nicht der Typ, der jetzt selber campt. Ich bin kein Aktivistentyp. Deshalb war ich jetzt nicht, auch nicht im Berliner, auch nicht im Hamburger Occupy-Camp und hab mit körperlicher Präsenz meine politische Meinung kundgetan.
Wobei ich Ihnen in einem Punkt gerne widersprechen würde bei dem, was Sie eben über Facebook und Co. gesagt haben. Es ist natürlich absurd, dass ein kapitalistisches Unternehmen plötzlich als Träger einer Protest- oder von Protestbewegungen gefeiert wird. Das ist in sich absurd. Aber ich glaube, das Moment der körperlichen Präsenz im öffentlichen Raum, was ein ganz wesentliches Merkmal aller 2011er-Protestbewegungen war, ob jetzt Madrid oder Ägypten oder New York, das haben Sie ja auch sehr gut beschrieben, ist gerade in autoritären Regimen nur möglich durch die parallele Präsenz der – in Anführungszeichen – "Weltgesellschaft" durch die neuen Medien, durch das Sichtbarsein, durch das Gefilmt-Werden und das Ins-Netz-gestellt-Werden.
Insofern ist es nicht nur, glaube ich, diese Initialzündung, sondern auch der Schutz durch die Sichtbarkeit, die durch die neuen Medien in einer ganz anderen Art und Weise gegeben ist als vorher. Und das ist auch einer der Gründe, warum es überhaupt eine Bewegung sein konnte, bei der das Besetzen öffentlicher Räume, die strategisch eigentlich überhaupt nicht dafür geeignet sind, so eine wichtige Rolle gespielt haben. Die wurden ja ursprünglich angelegt, um genau so was zu vermeiden und in ihrer ganz großen Weite, um also kontrollierbare und räumbare Räume, Ebenen und Flächen zu haben. Und erst durch diese neuen Strategien der Sichtbarkeit haben sie diese Bedeutung bekommen, die Sie ihnen in ihrem Buch jetzt ja auch zuschreiben.
Kraushaar: Aber, womit sie begonnen haben, mit Facebook sozusagen, dass es eine Paradoxie sei, dass von einer Facebook-Revolution gesprochen wird, das halte ich für ein Missverständnis, weil natürlich nicht Facebook als Unternehmung, als Wirtschaftsmacht damit gemeint ist, sondern lediglich das Medium, das nämlich, wenn Sie so wollen, die Kunden, die dieses Medium benutzen und sich darüber in kommunikativen Akten austauschen und integrieren
Von Borries: Das ist eher ein Treppenwitz der Geschichte als eine Paradoxie.
Kraushaar: Okay.
Leggewie: Sie haben eben schon das Stichwort gesagt, Herr von Borries, "urbane Interventionen". Das ist das Thema des Projektes, das Sie gerade haben. Und Sie haben mal, glaub ich, resümiert ein so genanntes "Glossar der Intervention", also ein Wörterbuch. Es erschien im Merve Verlag. Warum haben Sie das gemacht?
Von Borries: Na, wenn man sich heute mit dem Begriff der Intervention beschäftigt und wie ich aus diesem Kontext Kunst, Architektur, Design kommt, dann hat man so eine komische Widersprüchlichkeit. Wir haben auf der einen Seite im politischen Bereich seit 20 Jahren eine häufige Verwendung des Interventionsbegriffs. Und das ist ja negativ belegt. Das hat lange gedauert, bis die Leute von Krieg gesprochen haben, aber wir wussten eigentlich alle, wenn humanitäre Intervention gesagt wird, ist eigentlich Krieg gemeint.
Im künstlerischen Kontext ist es aber ganz anders aufgeladen. Da gilt die Intervention als kritischer, subversiver Eingriff. Und deshalb haben wir in unserem Forschungsprojekt entschieden uns mal anzugucken: Was ist eigentlich die Begriffsentwicklung und die heutige Verwendung dieses Interventionswortes? Wo kommen eigentlich diese Mythen her, dass das so unheimlich wirksam ist?
Denn sowohl Politik und Militär glauben ja, dieses kurze schnelle Eingreifen sei irgendwie besonders effektiv, als auch die Künstler oder Architekten, die das anwenden, glauben, damit eine höhere Wirksamkeit als mit anderen Formen zu erreichen.
Und dann stößt man auf teilweise sehr lustige Begriffsverwendungen und teilweise natürlich auch auf Überlagerungen, die sehr viel über diesen Mythos verraten.
Leggewie: Wo kommt denn das Wort her?
Von Borries: Eigentlich heißt Intervenieren Dazwischengehen, Eingreifen, dann auch vor allem aus dem Völkerrecht kommend und da in seiner Bedeutung vor allem als Interventionsverbot . Es ist eine der großen Errungenschaften des modernen Völkerrechtes zu sagen, nein, wir greifen nicht in die Angelegenheiten eines anderen Staates ein, was sich dann ja aus nachvollziehbaren Gründen in der Gegenwart seit dem Zweiten Weltkrieg umformuliert hat zu der Frage: Gibt es nicht sogar eine Interventionspflicht? Gibt es manchmal innerstaatliche Zustände, wo wir eingreifen dürfen oder eingreifen müssen?
Und dann gibt es ein Ausbreiten in andere Bereiche – von der Psychotherapie zur Pädagogik bis hin zur Kunst, wo eigentlich immer gemeint ist, ich gehe irgendwo kurz rein und verändere dadurch was. In der Psychologie sind das die Interventionszentren oder die Interventionsmethoden die nach einem Umfall, einem traumatischen Erlebnis. Klar, ich brauche eine lange Betreuung, aber ich brauche auch sofort direkt nach dem Erlebnis was. Das ist die Akutintervention, die vorgenommen wird. Und immer ist das verbunden mit dieser Vorstellung, das sei besonders wirksam, wobei wir in der Politik ja gerade eigentlich sehen, diese Interventionen sind nicht so wahnsinnig kurz. Die dauern ganz schön lange – Afghanistan. Und ob sie besonders positiv wirksam sind, sei auch mal dahingestellt.
Leggewie: Wenn man das jetzt mal im Sinne dessen, was wir eben diskutiert haben, auf den urbanen Raum übertragen würde, wenn Sie mal urbane Intervention, die Sie heute so registrieren, sich anschauen, beginnend vielleicht auch mit solchen Phänomenen wie Occupy, aber das ausdifferenzieren in den künstlerischen Bereich, in andere urbane Bewegungen, würde der Interventionsbegriff da für Sie nützlich sein?
Von Borries: Es gibt einmal urbane Interventionen, bei denen es vor allem um Sichtbarkeit geht. Das beginnt mit künstlerischen Projekten, die sich mit Obdachlosigkeit beschäftigen und sagen, wir müssen diesen Obdachlosen auch eine Sichtbarkeit geben. Die verstecken sich ja oft oder werden versteckt. Und wir machen künstlerische Interventionen, ästhetische Maßnahmen, die das erstmal zeigen. Das ist eine klassische Form von künstlerischer Intervention.
Das gibt es aber auch von der anderen Seite im Bereich der Werbung, wo die Werbung sagt, das ist vielleicht viel effektiver, wenn wir in den alltäglichen Lebensraum der Leute gehen, nicht nur Print machen, nicht nur im Fernsehen Werbung zeigen, sondern in den städtischen Raum gehen und da Sachen versuchen zu verändern, um diese Lebenswirklichkeit durch einen Eingriff mit der Werbebotschaft aufzuladen.
Und das ist, glaub ich, die widersprüchliche Bandbreite heut auch von urbanen Interventionen – auf der einen Seite Künstler, die kritische Aufmerksamkeit erzeugen wollen, auf der anderen Seite Werbung, viel Stadtmarketing, die dann natürlich auch Kunst benutzt, um Sachen zu kommunizieren, um auf sich aufmerksam zu machen, oder politische Protestbewegungen, wo das ja auch urbane Interventionen sind in dem Sinn: Ich gehe in den Stadtraum und zeige etwas und werde sichtbar.
Leggewie: Herr Kraushaar, Sie haben ja dieses Büchlein auch gelesen. Können Sie was damit anfangen im Blick auf Ihr Thema?
Kraushaar: Ja, es hat bei mir sehr viele Assoziationen natürlich geweckt, weil der Begriff der Intervention für mich aus den späten 60er-Jahren besetzt gewesen ist und auch ein Begriff ist, der sich damals bereits verbraucht hatte, relativ rasch.
Zunächst sprach man von politischen Interventionen. Das hatte einen gewissen Beigeschmack, weil natürlich das große Schlagwort das der "Praxis" war. Man versuchte aus dem universitären Raum auszubrechen und alles musste irgendwie den praktischen Beweis antreten. Und es gab einen regelrechten Praxisfetischismus. Also, der Ruf war immer der, das muss jetzt ganz konkret gemacht werden, was man vorgeschlagen hat. Und Intervention war im Grunde genommen die Kategorie, die das abgedeckt hat, nämlich zielgerichtet praktisch werden, um dann eigentlich die Folgen auch beobachten, analysieren zu können.
Und das bedeutete gleichzeitig ein gewisses dezisionistisches Element, das da im Spiel war. Denn Intervention bedeutete ja, dass man vorher nachdenken konnte, in welchem Bereich man intervenieren sollte. Das war nicht durch eine reale Situation definiert, sondern das war eine Frage des politischen Bewusstseins und es wurde ganz anders sortiert und entschieden, was dann sozusagen ein Ort der Intervention werden würde.
Und irgendwann schlug das um und man sprach von Interventionismus. Da hatte sich nämlich diese Tour eigentlich schon totgelaufen. Was ich jetzt an diesem Buch gelernt habe, ist, dass es einen Riesenkosmos an Begriffsverwendungen gibt, die zum Teil mir auch irritierend erscheinen, zum Teil komisch erscheinen, zum Teil anregend. Aber ich habe mich natürlich gefragt aufgrund dieser unglaublichen Häufigkeit, ob es überhaupt sinnvoll ist, in all diesen Formen von Intervention zu sprechen.
Ich will mal ein Beispiel kurz zitieren. Da ist die Rede von "gekonnten Nichtinterventionen". Und man fragt sich: Was soll das eigentlich? Sozusagen das Gegenteil und das noch gekonnt? Also, was macht das für einen Sinn? Aber es macht durchaus einen Sinn. Und zwar im Jahre 2007 hat der Verein Freier Hebammen diesen Begriff verwendet. Und gemeint ist damit, dass sozusagen auf die natürlichen Kräfte von Frauen gesetzt wird und die Hebammen sich in ihrer Interventionskraft möglichst zurückhalten sollten und deshalb die gekonnte Nichtintervention darin besteht, dass die Frauen alleine gebären möglichst. – Das fand ich ganz interessant, dass ein solches Beispiel dort auch auftaucht. Aber es macht es natürlich auch gleichzeitig ziemlich absurd.
Von Borries: Ich liebe assoziatives Denken. Und wenn man parallel dann Texte liest über den politischen, geschichtlichen Hintergrund, wie Intervention verwendet wird, dann wird einem doch ganz klar, dass mancher Politiker, der sich als Geburtshelfer der weltweiten Demokratie versteht, vielleicht auch die Kunst der gekonnten Nichtintervention beherrschen sollte. Und so funktioniert eigentlich das ganze Buch. Wenn wir auf die göttliche Intervention kommen, auch wenn wir auf "Intervention Corrective", eine Creme gegen Hautfalten zu sprechen kommen, und dann doch auch wieder ganz ernste politische oder künstlerische Fragestellungen des Intervenierens behandeln.
Kraushaar: Es gibt eine Art Einleitung, wo dieser Begriff noch mal strategisch ausgeführt wird für alle Gebrauchsverwendungen. Und da ist die Rede davon, das haben Sie, Herr Leggewie, anfangs auch zitiert, dass es einerseits eine Überverwendung dieses Begriffs gibt, andererseits aber auch eine Unterbestimmtheit. Und dann ist die Rede davon, dass aber gleichzeitig im Spiel sei, je nach Verwendungskontext, ein extrem negativ besetzter Begriff. Und das würde ich bestreiten. Ich kann nicht erkennen, dass dieser Begriff, der zwar doppelbödig ist, der zum Teil auch ein Tarnwort darstellt, dass der aber insgesamt ein extrem negativ besetzter Begriff sei.
Leggewie: Ich will noch mal sagen, was ich in Zusammenführung der beiden Bücher am Schluss mir noch mal überlegt habe: Die Frage, die sich ja bei Occupy ebenso stellt wie bei vielen dieser Interventionen, jetzt reden wir nicht von der Hebammenintervention, sondern von dem, was hier als künstlerische, als politische Intervention im urbanen Raum gezeigt wird, ist ja eigentlich die Frage nach der berühmten Alternativlosigkeit. Also, im Grunde genommen sind sehr viele Begrifflichkeiten, sehr viele Aktionsformen haben sich gewissermaßen verschlissen. Das heißt, man merkt ihnen von vornherein diese gewisse Aura des Scheiterns oder des zwangsläufigen Misslingens oder so was an.
Und die Frage, die sich eigentlich stellt am Schluss, ist, ob es eigentlich tatsächlich über solche Aktionen, wie Sie sie beschreiben, oder über Occupy oder das Nächste, was wir als Phänomen erleben werden, sich dieser Eindruck der Alternativlosigkeit aufgelöst hat. Denn das wäre ja im Grunde genommen dann der Haupterfolg von Bewegungen wie Occupy, dass sie etwas, was als vollkommen naturgegeben schon fast schien, dass sie das infrage gestellt haben.
Ich habe eben einen Vorstandsvorsitzenden zitiert, der kritische Worte über den Kapitalismus verlieren muss. Das kann manipulativ sein, das kann aber auch die Einsicht sein, dass ein gewisses hegemoniales Modell vorüber ist. Vielleicht dazu noch eine kurze Einschätzung von Ihnen beiden:
Kraushaar: Ich würde das ganz anders sehen. Ich glaube, dass die Occupy-Bewegung eigentlich demonstriert hat, wie wenig man dagegen unternehmen kann. Und sie steht meines Erachtens in einer unfreiwilligen Parallele zur Antiglobalisierungsbewegung, die ja 1999 in Seattle begonnen hat und die ja ebenfalls – leider – gezeigt hat, dass alle Versuche, sozusagen eine Gegenkraft international zu etablieren, letzten Endes, ich will nicht sagen: gescheitert sind, aber doch weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. Und es hat ja auch eine gewisse Fusion zwischen Attac- und Occupy-Bewegung gegeben, aber es zeigt einfach, dass man mit diesen Mitteln, mit diesen Formen ganz offensichtlich keinen Hebel in die Hand bekommt, um einen spürbaren Druck auf die entscheidenden Kräfte auf den Finanzmärkten auszuüben.
Leggewie: Stimmen Sie zu, Herr Friedrich von Borries?
Von Borries: Ich bin insofern ein bisschen optimistischer, weil ich schon glaube, dass diese Bewegungen als auch diese ganzen Protestformen, diese kleinen Interventionen Ausdruck von einem Unbehagen sind und dass der Kapitalismus als ja hoch flexibles System mit diesem Unbehagen umgehen muss und umgehen wird. Und ich glaube, dass es nicht damit enden wird, dass die Manager bestimmte Worthülsen benutzen. Dass das alles keine Programme sind, das wissen wir. Und das werden die Aufgaben der Weiterentwicklung sein, solche Programme zu entwickeln. Das gilt für die Interventionen. Das gilt für die Protestbewegungen. – Aber ich bin da optimistischer.
Leggewie: Wie immer gibt es am Schluss unserer Sendung noch Literaturtipps von unseren Gästen. Herr Kraushaar empfiehlt – sehr zu meiner Freude – Tony Judt, "Das Chalet der Erinnerungen". Warum?
Kraushaar: Ja, Tony Judt ist ein begnadeter britischer Historiker jüdischer Herkunft gewesen. Er ist leider viel zu früh verstorben. Sein berühmtestes Buch ist vermutlich "Postwar" gewesen, eine Geschichte des Nachkriegseuropas, also nach 1945. Und jetzt hat er als sein letztes Buch "Das Chalet der Erinnerungen" vorgelegt. Und das Chalet ist eine Konkretion und eine Metapher zugleich. Er hat mit seinen Eltern in den 50er-Jahren oft die Ferien in einer Schweizerischen Berghütte verbracht. Und jetzt hat er in seinen letzten beiden Lebensjahren diese Berghütte noch mal wach gerufen und lässt dann in dieser Art von Muschel, in diesem Refugium seine Erinnerungen Revue passieren. Und das ist unglaublich, was er dort zu entwickeln vermag, nämlich auf der einen Seite ein sehr schweres Buch, auf der anderen Seite ein sehr leichtes Buch. Und ich glaube, dass er sich als Intellektueller, als Reflektierender wirklich ein Denkmal gesetzt hat.
Leggewie: Und es ist eines der besten Plädoyers für Europa, weil man es als Lebensform noch mal ganz deutlich in diesem Buch erkennt.
Herr von Borries, Sie haben sich einen Knaller ausgesucht.
Von Borries: Ja, "Limonow" von Emmanuel Carrère, eine Biographie über einen Mann, der in der Sowjetunion geboren, dort erst Dichter wird, sich als Dissident versteht, dann nach New York auswandert, sich dort als schwuler Stricher durch die Gegend schlägt, schließlich, als sein erster Roman auf Französisch erscheint, in Frankreich reüssiert, später Kämpfer im Ex-Jugoslawien, Serbien Krieger ist, schließlich nach Russland zurückkehrt, dort Mitbegründer der Nationalbolschewistischen Partei, einer kruden Mischung aus Neofaschismus und stalinistischer Verehrung, gründet und gegenwärtig Teil der Anti-Putin-Opposition und Protestbewegung ist.
Wie das alles zusammenpasst und welch merkwürdige Wendungen das Leben anscheinend ermöglichen kann, das erzählt dieses Buch, was auch sehr lesenswert ist.
Leggewie: "Limonow", erschienen im Matthes & Seitz Verlag. "Das Chalet der Erinnerungen" im Hanse Verlag. Die beiden Bücher, über die wir heute ausführlich gesprochen haben, sind Kraushaar:"Der Aufruhr der Ausgebildeten" in der Hamburger Edition und Von Borries: "Glossar der Interventionen" im Merve Verlag.
Das war Lesart Spezial, die politische Buchsendung von Deutschlandradio Kultur aus dem Café Zentral im Schauspiel Essen mit der Buchhandlung Proust. Es verabschiedet sich Claus Leggewie und wünscht noch einen schönen Sonntag.
Protest: Vor ziemlich genau einem Jahr versammelte sich in New York erstmals die Occupy-Bewegung in einem Zeltcamp, die von dort aus alle Welt ergriff und im Jahr 2011 mit zahllosen Vorläufern und Nachahmern den Eindruck einer globalen Protestwelle erzeugte, die sich dem Finanzkapital, den arabischen Autokraten, den Krisenmanagern in Europa, in Israel, in Chile und sogar in China entgegenstellte.
Nur den Eindruck einer Protestwelle? Zum Jahrestag hat das Camp vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt seine Zelte abgerissen. Die Protestforscher urteilen: Daraus wird keine soziale Mobilisierung wie 1968 oder 1989. "Occupy Everything", wie wir unsere Sendung genannt haben, sei zu beliebig, zu bieder, zu beschränkt gewesen.
Und wir fragen: Welche politischen Interventionen sind überhaupt möglich im urbanen Raum, im virtuellen Raum? Oder ist wirklich alles alternativlos?
Zwei Gäste können uns da hoffentlich weiterhelfen: Wolfgang Kraushaar, der bewährte Chronist der Revolten, Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Wir sprechen als erstes über sein Buch "Der Aufruhr der Ausgebildeten. Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung". Guten Tag, Herr Kraushaar.
Friedrich von Borries ist Professor für Designtheorie an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, ist Architekt, Kurator, Romancier. Wir sprechen gleich über sein Forschungsprojekt "Urbane Intervention" und sein gerade daraus hervorgegangenes "Glossar der Interventionen. Annäherung an einen überverwendeten, aber unterbestimmten Begriff". Auch Ihnen herzlich Willkommen. Schön, dass Sie beide hier sind und mit uns und dem Publikum im Schauspiel Essen diskutieren werden.
Herr Kraushaar, Occupy – halb leer oder halb voll? Strohfeuer oder Zündfunken?
Wolfgang Kraushaar: Das ist sehr zugespitzt gefragt, ehrlich gesagt. Man ist ja in gewisser Weise in Verlegenheit, wenn man ein Jahr, nachdem Occypy Wallstreet als Schlachtruf sozusagen auserkoren worden war, noch mal über die Occypy-Bewegung spricht. In dieser Woche ist das ja sehr häufig geschehen, weil der 17. September ja der erste Jahrestag der Occypy-Wallstreet-Bewegung war. Das hat eigentlich alles schon mehr oder weniger die Form eines Nachrufs angenommen. Insofern ist das fast schon ein Euphemismus, von halb voll oder halb leer zu sprechen.
Ich würde sagen, die Bewegung selber ist nicht sonderlich lebendig. Es gibt sie noch und sie tut auch alles dafür, um nicht für tot erklärt zu werden, aber ich kann nicht erkennen, wo der zündende Funke momentan herkommen kann, um diese Bewegung wirklich voranzubringen.
Ich glaube, das Entscheidende besteht darin, dass die Occupy-Bewegung, wenn man sie als globales Phänomen betrachtet, ihren wirklich tragenden Stützpunkt bereits im November 2011 verloren hat, nämlich den Zuccotti Park, der damals besetzt worden war am 17. September. All das, was multimedial dann in die Welt gegangen ist und dann zur Initiierung vieler kleiner weiterer Protestcamps hat führen können, das hängt mit diesem großen Schaufenster Manhattan zusammen, mit der Wallstreet und mit der Besetzung des Zuccotti Parks.
Seitdem dies nicht mehr existiert, hat diese multimediale Maschine ihren Motor verloren und die Occupy-Bewegung ist in gewisser Weise wie ein großer Luftballon in sich zusammengestürzt.
Leggewie: Sie haben ja dieses Buch relativ schnell dann geschrieben. Es resümiert so ein bisschen die Protestwelle des Jahres 2011. Ich gehe mal ein bisschen durchs Buch durch: Sie suchen die Schauplätze auf vom Tahrir in Kairo bis eben zur Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Sie reden über die Akteure, die virtuellen Räume, können wir uns vielleicht noch drüber unterhalten, was Facebook und Twitter für diese Bewegung zu bedeuten haben. Sie reden über den Fall der arabischen Autokratie, die Verursacher der weltweiten Finanzkrise und kommen dann zu so einer – bevor Sie einen kleinen Abgesang machen – auf Ihre, glaube ich, zentrale These: Die Prekarisierten erproben den Protest.
Abgesehen von der Alliteration, die Prekarisierten erproben den Protest, was meinen Sie damit?
Kraushaar: Ja, es gab vor 15 Jahren von Pierre Bourdieu, dem berühmten französischen Soziologen, der inzwischen leider verstorben ist, die Prognose, dass die Prekarisierten nicht wirklich protestieren könnten, und zwar aufgrund ihrer objektiven Bedingungen. Sie würden in derartig schwierigen Arbeitssituationen, Lebenssituationen sich bewegen, dass sie gar nicht mehr die Traute, den Impuls hätten, um da rauszufinden.
Leggewie: Sagen Sie mal zwei Beispiele für Prekarisierung.
Kraushaar: Für Prekarisierung? Es bedeutet ja nichts anderes als eine totale Unsicherheit, was die Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse anbetrifft. Das heißt, es sind Jobs, die nur über ganz kurze Zeit vereinbart werden und die diejenigen, die in diese Jobverhältnisse eintreten, vor allen Dingen in das Problem führen, dass sie keine Perspektiven entwickeln können. Das heißt, die soziale Ausformulierung von Arbeitsverhältnissen im Hinblick auf Sozialverhältnisse ist damit maßgeblich beschädigt. Und das ist ja zu einer Art Signum dieser Art marktradikalisierter Moderne geworden.
Und Bourdieu war der Ansicht, dass da eigentlich nichts zu erwarten sei. Und das Gegenteil ist eigentlich eingetreten. Es hat schon in Frankreich im Jahre 2000 eine Génération Précaire gegeben. Und es hat sich dann mehr und mehr durchgesetzt, dass diese Prekarisierten durchaus dazu in der Lage sind zu protestieren. Und ich glaube, dass die Occupy-Bewegung ein sehr, sehr gutes Beispiel dafür ist, dass sich das auch im Nu innerhalb kürzester Zeit dann international ausbilden und multiplizieren kann.
Leggewie: Der Titel des Buches ist ja "Der Aufruhr der Ausgebildeten". Das wäre ja auch revolutionshistorisch ganz konsequent. Diejenigen, die eigentlich höhere Aspirationen haben, die eigentlich einen guten Job haben wollen, die stellen dann fest, die Welt ist ein bisschen vernagelt, wir kommen nicht weiter. Wir sinken ins Prekariat ab. Nehmen Sie die jungen Leute, die in Madrid, auch infolge der Schulden- und Eurokrise jetzt arbeitslos, perspektivlos sind. Und dann ist das eigentlich das Motiv zum Aufstand.
Herr von Borries, Sie sind ein paar Jahre jünger. Wie haben Sie das Buch gelesen?
Friedrich von Borries: Erstmal fand ich es ein erstaunlich gut lesbares Buch. Es hat, auch wenn das zu dem Thema vielleicht nicht passt, Spaß gemacht, das zu lesen. Für mich war eine der Kernthesen, dass diese gegenwärtigen Protestbewegungen keine politischen sind, sondern primär ökonomisch motivierte. Das heißt, Sie beschreiben, dass es kein politisches Programm gibt, dass es vor allem ein Aufstand derer ist, wie ja auch eben beschrieben, die auf Wohlstand gehofft haben oder hoffen als gut Ausgebildete und dann aber an ihm möglicherweise nicht werden teilhaben können.
Vor dem Hintergrund hat mir aber ein Ereignis, für mich sehr wichtig, des Jahres 2011 gefehlt, wo ja auch manche sagen, es sei gar keine Protestbewegung, nämlich die Londoner Unruhen, wo ja auch Leute auf die Straße gegangen sind, auch nicht mit politischen Forderungen, sondern einfach in die Läden gegangen sind und sich das rausgeholt haben, was ihnen immer versprochen wurde.
Warum haben Sie die denn nicht drin?
Kraushaar: Ich kann Ihnen das genau sagen. Es gibt verschiedene Länder, die ich nicht aufgenommen habe. Ich habe zum Beispiel Chile porträtiert. Ich habe China porträtiert, die USA sowieso, wenn man über Occupy spricht, kommt man daran nicht vorbei, Spanien, Portugal, aber ich habe zwei Länder bezeichnenderweise draußen gelassen aus diesem Spektrum: zum einen Griechenland, was sehr nahe gelegen hätte, und zum anderen Großbritannien, Großbritannien deshalb, weil es in England eine Spaltung gegeben hat. Und zwar hat es in Großbritannien eine sehr starke Studentenbewegung gegeben in den Jahren 2009/2010. Und es hat dann im August 2011 diese Riots gegeben in den Vorstädten.
Das heißt, dort haben wir vor Augen gehabt eine Spaltung zwischen sozialen Protesten auf der einen Seite und Protesten von Hochqualifizierten auf der anderen Seite, die völlig voneinander getrennt waren. In anderen Ländern, wie Spanien zum Beispiel, ist das miteinander vermischt. Das finde ich sehr interessant daran. Und das hat in mein Schema und in den Ansatz, das zu interpretieren, nicht reingepasst. Und deshalb habe ich darauf verzichtet.
Von Borries: Ich fand diese Londoner Unruhen auch nach dem Lesen Ihres Buches noch mal besonders interessant, weil sie ja in radikalster Form versuchen, ihre Kritik am Kapitalismus mit einem Konsumverhalten durchzuführen und dass das ja ein wesentliches Merkmal der amerikanischen Occupy-Bewegung ist, auch darüber schreiben Sie ja, dass sie initiiert wurden von Kalle Lasn, einem Werbungskritiker, der aber selber aus der Werbung ursprünglich kommt, also Marketingexperte ist, und man ja an Occupy auch sieht, dass da sehr viel Marketing-Know-how dahinter steckt in den Strategien und man sich da ja auch fragt: Kann man den Kapitalismus oder den Neoliberalismus denn mit seinen eigenen Mitteln überhaupt kritisieren und schlagen?
Denn das ist ja letztlich das, was Occupy mit seiner Medienstrategie, den ganzen Aufmerksamkeitsmechanismen versucht.
Kraushaar: Im Grunde genommen ist es eine Form der immanenten Kritik. Kalle Lasn hat ja nichts anderes getan, als eine Art von Werbestrategie in Protestbewegung und Artikulation zu übersetzen. Von ihm stammt oder von seiner Redaktion, von der Redaktion der Zeitschrift Adbusters stammt ja der Aufruf "Occupy Wallstreet". Da ist dieser Funke hergekommen, der allerdings sich auch wiederum eines Anschlusses verdankt, der vom Tahrir-Platz in Kairo ausgegangen ist. Das fand ich daran sehr bemerkenswert, dass nämlich etwas vorexerziert worden war durch die wochenlangen Proteste und Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz, die zur Abdankung des Mubarak-Regimes geführt haben, das dann wiederum als vorbildlich angesehen wurde. Und Kalle Lasn und Adbusters haben dazu aufgefordert, einen Tahrir-Moment sozusagen herzustellen durch die Besetzung der Wallstreet. Das war der Auslöser.
Leggewie: Wenn man neue Medien – digitale Medien, so genannte neue Medien, sind uralt schon – wenn man digitale Medien zur Verfügung hat, welche Rolle spielt denn das? Es wird ja gerade in Bezug auf die arabische Rebellion sehr stark von der Facebook-Revolution gesprochen. Dazu äußern Sie sich ja auch.
Kraushaar: Ja. Also, das ist, glaub ich, ein sehr ambivalentes und zum Teil auch irreführendes Stichwort. Es ist unbestreitbar, dass diese Rebellionen in den arabischen Staaten sich in einem hohen Maße der unglaublich schnellen Vernetzung und Kommunikation über Social Media verdanken. Aber interessant ist, und dazu gibt es eine Studie eines arabischen Politikwissenschaftlers, der an einer amerikanischen Universität lehrt, die folgendes besagt, dass nämlich erst in dem Moment, als man in Ägypten seitens des Regimes alles getan hat, um jegliche Internet-Connection zu unterbinden, es tatsächlich zu einer sozialen Revolution gekommen ist – vorher nicht.
Vorher sind zwar auch Zehntausende oder Hunderttausende zusammengekommen, aber erst in dem Moment, als das alles abgeklemmt war, da waren die Protestierenden, die Revoltierenden dazu gezwungen in die Stadtteile auszuschwärmen. Und erst, als sie diese Leute, diese Teile der Bevölkerung aufgefordert und integriert hatten, hat das ein enormes Gewicht bekommen.
Insofern gibt es davon eine differierende These, die eigentlich sagt: Für den Anstoß sind diese Social Media ganz elementar wichtig gewesen, aber als Trägerschaft und auf Dauer gestellt, sind sie das nicht unbedingt. Und sie verführen gerade zu dem Anschein, und ich glaube, das ist auch das Tückische bei der Occupy-Bewegung, dass man den Eindruck hat, die Bewegung, die existiert und die ist so ausgebildet und so weiter und so fort. Wenn man in das Internet schaut und sieht sich diese Websites an, hat man tatsächlich den Eindruck. Aber an den Plätzen, an den Orten, wo das tatsächlich sozial sich sozusagen formieren sollte, ist kaum noch was los. Und diese Plätze konnten ja in Nullkommanichts abgeräumt werden.
Wenn früher zum Beispiel, was weiß ich, vor 30 Jahren Freie Republik Wendland, da gab’s eine Standschaltung von den Polizeikräften zum Bundeskanzleramt, um genau zu verfolgen, wie weit das gegangen ist. Das war ganz unsicher, ob die Polizeikräfte das schaffen würden. Heutzutage gibt’s doch eine Standleitung von der EZB zu Angela Merkel. Das ist längst vorbei. Das sind ganz andere Dimensionen.
Leggewie: Stichwort Angela Merkel, die liebt ja Occupy. Die hat ja gesagt, "Occupy ist eine ganz tolle Sache, die können wir gebrauchen." – Herr von Borries, sind Sie mal in einer Zeltstadt gewesen? Lieben Sie Occupy auch so sehr, dass Sie mal hingegangen sind?
Von Borries: Alle lieben Occupy. Ich bin trotzdem nicht der Typ, der jetzt selber campt. Ich bin kein Aktivistentyp. Deshalb war ich jetzt nicht, auch nicht im Berliner, auch nicht im Hamburger Occupy-Camp und hab mit körperlicher Präsenz meine politische Meinung kundgetan.
Wobei ich Ihnen in einem Punkt gerne widersprechen würde bei dem, was Sie eben über Facebook und Co. gesagt haben. Es ist natürlich absurd, dass ein kapitalistisches Unternehmen plötzlich als Träger einer Protest- oder von Protestbewegungen gefeiert wird. Das ist in sich absurd. Aber ich glaube, das Moment der körperlichen Präsenz im öffentlichen Raum, was ein ganz wesentliches Merkmal aller 2011er-Protestbewegungen war, ob jetzt Madrid oder Ägypten oder New York, das haben Sie ja auch sehr gut beschrieben, ist gerade in autoritären Regimen nur möglich durch die parallele Präsenz der – in Anführungszeichen – "Weltgesellschaft" durch die neuen Medien, durch das Sichtbarsein, durch das Gefilmt-Werden und das Ins-Netz-gestellt-Werden.
Insofern ist es nicht nur, glaube ich, diese Initialzündung, sondern auch der Schutz durch die Sichtbarkeit, die durch die neuen Medien in einer ganz anderen Art und Weise gegeben ist als vorher. Und das ist auch einer der Gründe, warum es überhaupt eine Bewegung sein konnte, bei der das Besetzen öffentlicher Räume, die strategisch eigentlich überhaupt nicht dafür geeignet sind, so eine wichtige Rolle gespielt haben. Die wurden ja ursprünglich angelegt, um genau so was zu vermeiden und in ihrer ganz großen Weite, um also kontrollierbare und räumbare Räume, Ebenen und Flächen zu haben. Und erst durch diese neuen Strategien der Sichtbarkeit haben sie diese Bedeutung bekommen, die Sie ihnen in ihrem Buch jetzt ja auch zuschreiben.
Kraushaar: Aber, womit sie begonnen haben, mit Facebook sozusagen, dass es eine Paradoxie sei, dass von einer Facebook-Revolution gesprochen wird, das halte ich für ein Missverständnis, weil natürlich nicht Facebook als Unternehmung, als Wirtschaftsmacht damit gemeint ist, sondern lediglich das Medium, das nämlich, wenn Sie so wollen, die Kunden, die dieses Medium benutzen und sich darüber in kommunikativen Akten austauschen und integrieren
Von Borries: Das ist eher ein Treppenwitz der Geschichte als eine Paradoxie.
Kraushaar: Okay.
Leggewie: Sie haben eben schon das Stichwort gesagt, Herr von Borries, "urbane Interventionen". Das ist das Thema des Projektes, das Sie gerade haben. Und Sie haben mal, glaub ich, resümiert ein so genanntes "Glossar der Intervention", also ein Wörterbuch. Es erschien im Merve Verlag. Warum haben Sie das gemacht?
Von Borries: Na, wenn man sich heute mit dem Begriff der Intervention beschäftigt und wie ich aus diesem Kontext Kunst, Architektur, Design kommt, dann hat man so eine komische Widersprüchlichkeit. Wir haben auf der einen Seite im politischen Bereich seit 20 Jahren eine häufige Verwendung des Interventionsbegriffs. Und das ist ja negativ belegt. Das hat lange gedauert, bis die Leute von Krieg gesprochen haben, aber wir wussten eigentlich alle, wenn humanitäre Intervention gesagt wird, ist eigentlich Krieg gemeint.
Im künstlerischen Kontext ist es aber ganz anders aufgeladen. Da gilt die Intervention als kritischer, subversiver Eingriff. Und deshalb haben wir in unserem Forschungsprojekt entschieden uns mal anzugucken: Was ist eigentlich die Begriffsentwicklung und die heutige Verwendung dieses Interventionswortes? Wo kommen eigentlich diese Mythen her, dass das so unheimlich wirksam ist?
Denn sowohl Politik und Militär glauben ja, dieses kurze schnelle Eingreifen sei irgendwie besonders effektiv, als auch die Künstler oder Architekten, die das anwenden, glauben, damit eine höhere Wirksamkeit als mit anderen Formen zu erreichen.
Und dann stößt man auf teilweise sehr lustige Begriffsverwendungen und teilweise natürlich auch auf Überlagerungen, die sehr viel über diesen Mythos verraten.
Leggewie: Wo kommt denn das Wort her?
Von Borries: Eigentlich heißt Intervenieren Dazwischengehen, Eingreifen, dann auch vor allem aus dem Völkerrecht kommend und da in seiner Bedeutung vor allem als Interventionsverbot . Es ist eine der großen Errungenschaften des modernen Völkerrechtes zu sagen, nein, wir greifen nicht in die Angelegenheiten eines anderen Staates ein, was sich dann ja aus nachvollziehbaren Gründen in der Gegenwart seit dem Zweiten Weltkrieg umformuliert hat zu der Frage: Gibt es nicht sogar eine Interventionspflicht? Gibt es manchmal innerstaatliche Zustände, wo wir eingreifen dürfen oder eingreifen müssen?
Und dann gibt es ein Ausbreiten in andere Bereiche – von der Psychotherapie zur Pädagogik bis hin zur Kunst, wo eigentlich immer gemeint ist, ich gehe irgendwo kurz rein und verändere dadurch was. In der Psychologie sind das die Interventionszentren oder die Interventionsmethoden die nach einem Umfall, einem traumatischen Erlebnis. Klar, ich brauche eine lange Betreuung, aber ich brauche auch sofort direkt nach dem Erlebnis was. Das ist die Akutintervention, die vorgenommen wird. Und immer ist das verbunden mit dieser Vorstellung, das sei besonders wirksam, wobei wir in der Politik ja gerade eigentlich sehen, diese Interventionen sind nicht so wahnsinnig kurz. Die dauern ganz schön lange – Afghanistan. Und ob sie besonders positiv wirksam sind, sei auch mal dahingestellt.
Leggewie: Wenn man das jetzt mal im Sinne dessen, was wir eben diskutiert haben, auf den urbanen Raum übertragen würde, wenn Sie mal urbane Intervention, die Sie heute so registrieren, sich anschauen, beginnend vielleicht auch mit solchen Phänomenen wie Occupy, aber das ausdifferenzieren in den künstlerischen Bereich, in andere urbane Bewegungen, würde der Interventionsbegriff da für Sie nützlich sein?
Von Borries: Es gibt einmal urbane Interventionen, bei denen es vor allem um Sichtbarkeit geht. Das beginnt mit künstlerischen Projekten, die sich mit Obdachlosigkeit beschäftigen und sagen, wir müssen diesen Obdachlosen auch eine Sichtbarkeit geben. Die verstecken sich ja oft oder werden versteckt. Und wir machen künstlerische Interventionen, ästhetische Maßnahmen, die das erstmal zeigen. Das ist eine klassische Form von künstlerischer Intervention.
Das gibt es aber auch von der anderen Seite im Bereich der Werbung, wo die Werbung sagt, das ist vielleicht viel effektiver, wenn wir in den alltäglichen Lebensraum der Leute gehen, nicht nur Print machen, nicht nur im Fernsehen Werbung zeigen, sondern in den städtischen Raum gehen und da Sachen versuchen zu verändern, um diese Lebenswirklichkeit durch einen Eingriff mit der Werbebotschaft aufzuladen.
Und das ist, glaub ich, die widersprüchliche Bandbreite heut auch von urbanen Interventionen – auf der einen Seite Künstler, die kritische Aufmerksamkeit erzeugen wollen, auf der anderen Seite Werbung, viel Stadtmarketing, die dann natürlich auch Kunst benutzt, um Sachen zu kommunizieren, um auf sich aufmerksam zu machen, oder politische Protestbewegungen, wo das ja auch urbane Interventionen sind in dem Sinn: Ich gehe in den Stadtraum und zeige etwas und werde sichtbar.
Leggewie: Herr Kraushaar, Sie haben ja dieses Büchlein auch gelesen. Können Sie was damit anfangen im Blick auf Ihr Thema?
Kraushaar: Ja, es hat bei mir sehr viele Assoziationen natürlich geweckt, weil der Begriff der Intervention für mich aus den späten 60er-Jahren besetzt gewesen ist und auch ein Begriff ist, der sich damals bereits verbraucht hatte, relativ rasch.
Zunächst sprach man von politischen Interventionen. Das hatte einen gewissen Beigeschmack, weil natürlich das große Schlagwort das der "Praxis" war. Man versuchte aus dem universitären Raum auszubrechen und alles musste irgendwie den praktischen Beweis antreten. Und es gab einen regelrechten Praxisfetischismus. Also, der Ruf war immer der, das muss jetzt ganz konkret gemacht werden, was man vorgeschlagen hat. Und Intervention war im Grunde genommen die Kategorie, die das abgedeckt hat, nämlich zielgerichtet praktisch werden, um dann eigentlich die Folgen auch beobachten, analysieren zu können.
Und das bedeutete gleichzeitig ein gewisses dezisionistisches Element, das da im Spiel war. Denn Intervention bedeutete ja, dass man vorher nachdenken konnte, in welchem Bereich man intervenieren sollte. Das war nicht durch eine reale Situation definiert, sondern das war eine Frage des politischen Bewusstseins und es wurde ganz anders sortiert und entschieden, was dann sozusagen ein Ort der Intervention werden würde.
Und irgendwann schlug das um und man sprach von Interventionismus. Da hatte sich nämlich diese Tour eigentlich schon totgelaufen. Was ich jetzt an diesem Buch gelernt habe, ist, dass es einen Riesenkosmos an Begriffsverwendungen gibt, die zum Teil mir auch irritierend erscheinen, zum Teil komisch erscheinen, zum Teil anregend. Aber ich habe mich natürlich gefragt aufgrund dieser unglaublichen Häufigkeit, ob es überhaupt sinnvoll ist, in all diesen Formen von Intervention zu sprechen.
Ich will mal ein Beispiel kurz zitieren. Da ist die Rede von "gekonnten Nichtinterventionen". Und man fragt sich: Was soll das eigentlich? Sozusagen das Gegenteil und das noch gekonnt? Also, was macht das für einen Sinn? Aber es macht durchaus einen Sinn. Und zwar im Jahre 2007 hat der Verein Freier Hebammen diesen Begriff verwendet. Und gemeint ist damit, dass sozusagen auf die natürlichen Kräfte von Frauen gesetzt wird und die Hebammen sich in ihrer Interventionskraft möglichst zurückhalten sollten und deshalb die gekonnte Nichtintervention darin besteht, dass die Frauen alleine gebären möglichst. – Das fand ich ganz interessant, dass ein solches Beispiel dort auch auftaucht. Aber es macht es natürlich auch gleichzeitig ziemlich absurd.
Von Borries: Ich liebe assoziatives Denken. Und wenn man parallel dann Texte liest über den politischen, geschichtlichen Hintergrund, wie Intervention verwendet wird, dann wird einem doch ganz klar, dass mancher Politiker, der sich als Geburtshelfer der weltweiten Demokratie versteht, vielleicht auch die Kunst der gekonnten Nichtintervention beherrschen sollte. Und so funktioniert eigentlich das ganze Buch. Wenn wir auf die göttliche Intervention kommen, auch wenn wir auf "Intervention Corrective", eine Creme gegen Hautfalten zu sprechen kommen, und dann doch auch wieder ganz ernste politische oder künstlerische Fragestellungen des Intervenierens behandeln.
Kraushaar: Es gibt eine Art Einleitung, wo dieser Begriff noch mal strategisch ausgeführt wird für alle Gebrauchsverwendungen. Und da ist die Rede davon, das haben Sie, Herr Leggewie, anfangs auch zitiert, dass es einerseits eine Überverwendung dieses Begriffs gibt, andererseits aber auch eine Unterbestimmtheit. Und dann ist die Rede davon, dass aber gleichzeitig im Spiel sei, je nach Verwendungskontext, ein extrem negativ besetzter Begriff. Und das würde ich bestreiten. Ich kann nicht erkennen, dass dieser Begriff, der zwar doppelbödig ist, der zum Teil auch ein Tarnwort darstellt, dass der aber insgesamt ein extrem negativ besetzter Begriff sei.
Leggewie: Ich will noch mal sagen, was ich in Zusammenführung der beiden Bücher am Schluss mir noch mal überlegt habe: Die Frage, die sich ja bei Occupy ebenso stellt wie bei vielen dieser Interventionen, jetzt reden wir nicht von der Hebammenintervention, sondern von dem, was hier als künstlerische, als politische Intervention im urbanen Raum gezeigt wird, ist ja eigentlich die Frage nach der berühmten Alternativlosigkeit. Also, im Grunde genommen sind sehr viele Begrifflichkeiten, sehr viele Aktionsformen haben sich gewissermaßen verschlissen. Das heißt, man merkt ihnen von vornherein diese gewisse Aura des Scheiterns oder des zwangsläufigen Misslingens oder so was an.
Und die Frage, die sich eigentlich stellt am Schluss, ist, ob es eigentlich tatsächlich über solche Aktionen, wie Sie sie beschreiben, oder über Occupy oder das Nächste, was wir als Phänomen erleben werden, sich dieser Eindruck der Alternativlosigkeit aufgelöst hat. Denn das wäre ja im Grunde genommen dann der Haupterfolg von Bewegungen wie Occupy, dass sie etwas, was als vollkommen naturgegeben schon fast schien, dass sie das infrage gestellt haben.
Ich habe eben einen Vorstandsvorsitzenden zitiert, der kritische Worte über den Kapitalismus verlieren muss. Das kann manipulativ sein, das kann aber auch die Einsicht sein, dass ein gewisses hegemoniales Modell vorüber ist. Vielleicht dazu noch eine kurze Einschätzung von Ihnen beiden:
Kraushaar: Ich würde das ganz anders sehen. Ich glaube, dass die Occupy-Bewegung eigentlich demonstriert hat, wie wenig man dagegen unternehmen kann. Und sie steht meines Erachtens in einer unfreiwilligen Parallele zur Antiglobalisierungsbewegung, die ja 1999 in Seattle begonnen hat und die ja ebenfalls – leider – gezeigt hat, dass alle Versuche, sozusagen eine Gegenkraft international zu etablieren, letzten Endes, ich will nicht sagen: gescheitert sind, aber doch weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. Und es hat ja auch eine gewisse Fusion zwischen Attac- und Occupy-Bewegung gegeben, aber es zeigt einfach, dass man mit diesen Mitteln, mit diesen Formen ganz offensichtlich keinen Hebel in die Hand bekommt, um einen spürbaren Druck auf die entscheidenden Kräfte auf den Finanzmärkten auszuüben.
Leggewie: Stimmen Sie zu, Herr Friedrich von Borries?
Von Borries: Ich bin insofern ein bisschen optimistischer, weil ich schon glaube, dass diese Bewegungen als auch diese ganzen Protestformen, diese kleinen Interventionen Ausdruck von einem Unbehagen sind und dass der Kapitalismus als ja hoch flexibles System mit diesem Unbehagen umgehen muss und umgehen wird. Und ich glaube, dass es nicht damit enden wird, dass die Manager bestimmte Worthülsen benutzen. Dass das alles keine Programme sind, das wissen wir. Und das werden die Aufgaben der Weiterentwicklung sein, solche Programme zu entwickeln. Das gilt für die Interventionen. Das gilt für die Protestbewegungen. – Aber ich bin da optimistischer.
Leggewie: Wie immer gibt es am Schluss unserer Sendung noch Literaturtipps von unseren Gästen. Herr Kraushaar empfiehlt – sehr zu meiner Freude – Tony Judt, "Das Chalet der Erinnerungen". Warum?
Kraushaar: Ja, Tony Judt ist ein begnadeter britischer Historiker jüdischer Herkunft gewesen. Er ist leider viel zu früh verstorben. Sein berühmtestes Buch ist vermutlich "Postwar" gewesen, eine Geschichte des Nachkriegseuropas, also nach 1945. Und jetzt hat er als sein letztes Buch "Das Chalet der Erinnerungen" vorgelegt. Und das Chalet ist eine Konkretion und eine Metapher zugleich. Er hat mit seinen Eltern in den 50er-Jahren oft die Ferien in einer Schweizerischen Berghütte verbracht. Und jetzt hat er in seinen letzten beiden Lebensjahren diese Berghütte noch mal wach gerufen und lässt dann in dieser Art von Muschel, in diesem Refugium seine Erinnerungen Revue passieren. Und das ist unglaublich, was er dort zu entwickeln vermag, nämlich auf der einen Seite ein sehr schweres Buch, auf der anderen Seite ein sehr leichtes Buch. Und ich glaube, dass er sich als Intellektueller, als Reflektierender wirklich ein Denkmal gesetzt hat.
Leggewie: Und es ist eines der besten Plädoyers für Europa, weil man es als Lebensform noch mal ganz deutlich in diesem Buch erkennt.
Herr von Borries, Sie haben sich einen Knaller ausgesucht.
Von Borries: Ja, "Limonow" von Emmanuel Carrère, eine Biographie über einen Mann, der in der Sowjetunion geboren, dort erst Dichter wird, sich als Dissident versteht, dann nach New York auswandert, sich dort als schwuler Stricher durch die Gegend schlägt, schließlich, als sein erster Roman auf Französisch erscheint, in Frankreich reüssiert, später Kämpfer im Ex-Jugoslawien, Serbien Krieger ist, schließlich nach Russland zurückkehrt, dort Mitbegründer der Nationalbolschewistischen Partei, einer kruden Mischung aus Neofaschismus und stalinistischer Verehrung, gründet und gegenwärtig Teil der Anti-Putin-Opposition und Protestbewegung ist.
Wie das alles zusammenpasst und welch merkwürdige Wendungen das Leben anscheinend ermöglichen kann, das erzählt dieses Buch, was auch sehr lesenswert ist.
Leggewie: "Limonow", erschienen im Matthes & Seitz Verlag. "Das Chalet der Erinnerungen" im Hanse Verlag. Die beiden Bücher, über die wir heute ausführlich gesprochen haben, sind Kraushaar:"Der Aufruhr der Ausgebildeten" in der Hamburger Edition und Von Borries: "Glossar der Interventionen" im Merve Verlag.
Das war Lesart Spezial, die politische Buchsendung von Deutschlandradio Kultur aus dem Café Zentral im Schauspiel Essen mit der Buchhandlung Proust. Es verabschiedet sich Claus Leggewie und wünscht noch einen schönen Sonntag.