"Occupy hat es nicht geschafft, eine organisatorische Struktur aufzustellen"
Ein Jahr nach der Geburt der Occupy-Bewegung hat der Protestforscher Peter Ullrich ein gemischtes Fazit der davon inspirierten Aktionen in Deutschland gezogen: Sie hätten eine neue Protestform etabliert, seien letztlich aber nur ein Strohfeuer gewesen.
Gabi Wuttke: "Besetzt die Wallstreet!". Empört und wütend war der Ruf, der heute vor einem Jahr in New York zum ersten Mal zu hören war. Ein Jahre später teilen die allermeisten Menschen noch immer das Anliegen von Occupy für eine gerechtere Gesellschaft wider die Macht der Finanzmärkte, aber Sammlungsorte gibt es kaum noch, Demonstrationen haben wenig Zulauf. Warum?
Peter Ullrich ist Protestforscher am Wissenschaftszentrum Berlin. Einen schönen guten Morgen!
Peter Ullrich: Guten Morgen!
Wuttke: Die Finanzkrise ist noch längst nicht zu Ende, aber es scheint, die Occupy-Bewegung ist am Ende. Warum?
Ullrich: Ich glaube, man muss da zwei interne und zwei äußere Gründe auseinanderhalten. Also offensichtlich ist die Bewegung mit einem großen Vorsprung an Aufmerksamkeit und Wohlwollen gestartet und vielleicht auch ein bisschen überfordert gewesen, das einzulösen, und dadurch umso schneller wieder gescheitert. Ich glaube, zu den äußeren Gründen gehört einmal ein Moment von Repression, das heißt, die meisten Camps wurden ja nicht freiwillig geräumt. Es gehört aber in der Bundesrepublik auch dazu, dass es hier eine Art der Krisenwahrnehmung gibt, die an Intensität und Stärke nicht ganz mit dem vergleichbar ist, wie es beispielsweise die südeuropäischen Länder betrifft oder die USA. Und das hat dazu geführt, dass es hier noch schneller quasi auch vorbei gegangen ist oder dass es schwieriger war, so eine Bewegung auf Dauer zu stellen.
Und zu den internen Gründen muss man sagen, dass die Occupy-Bewegung auf jeden Fall klar eine ziemliche Strukturschwäche hat. Sie hat es nicht geschafft, eine organisatorische Struktur aufzubauen, was eine ganz wichtige Voraussetzung ist, um Proteste auf Dauer zu stellen. Und was als letzter Punkt sicherlich auch noch eine Rolle spielt: Die Bewegung hat sich bewusst verweigert, klare Ziele zu formulieren, weil es erst mal darum ging, einem kollektiven Unwohlsein Ausdruck zu verleihen. Das hat aber auch erschwert, quasi positive Ziele zu formulieren, für die man sich konkret einsetzen kann. Das führt zu einer gewissen Zerfaserung und einer Schwierigkeit, so eine Bewegung wahrzunehmen.
Wuttke: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, was die Erfolgschancen anbelangt, da hat man in Stuttgart, also Stuttgart 21, alles richtig gemacht, aber Occupy Deutschland hätte von Stuttgart 21 lernen können?
Ullrich: Das ist schwer zu vergleichen, weil halt Stuttgart 21 ja wirklich ein ganz konkretes Projekt ist, und das lässt sich natürlich viel leichter angreifen. Und deswegen ging es Occupy ja ganz besonders darum, eine gewisse Unzufriedenheit auszudrücken, ein Wir-haben-jetzt-genug-davon, dass offensichtlich unglaublich viele Gelder zur Krisenintervention schnell bereitgestellt werden können, während Menschen obdachlos werden gleichzeitig. Das ist zwar irgendwie als eigene Unzufriedenheit ziemlich konkret, aber als Analyse dessen, was da passiert und was da falsch ist – das ist natürlich viel komplexer und deswegen nicht so einfach auf den Punkt zu bringen wie "Dieser Bahnhof soll nicht gebaut werden".
Wuttke: Ist es in diesem Zusammenhang wichtig, dass Aktivisten und Betroffene bei Occupy nicht deckungsgleich sind?
Ullrich: Das ist eigentlich bei sehr vielen Protesten der Fall. Wir wissen generell aus der Forschung, dass diejenigen, die protestieren, in der Regel jünger sind, dass sie besser gebildet sind als der Durchschnitt der Bevölkerung, und dass es sehr häufig nicht so eine Entsprechung derjenigen gibt, die vielleicht am härtesten von sozialen Einschnitten betroffen sind und denjenigen, die dagegen protestieren. Und das, finde ich, ist bei Occupy schon im Verlauf ein immer wichtigeres Moment geworden – interessanterweise ist es genau das, was kritisiert wurde häufig, dass nämlich die Camps im Verlauf ihrer Existenz immer mehr auch zu Orten wurden, an denen sich beispielsweise Obdachlose gewärmt haben oder so. Die nicht in erster Linie jetzt politisch agiert haben oder so, vielleicht sich nicht so in die Auseinandersetzung eingebracht haben, aber sie haben einen Anlaufpunkt gefunden, einen Ort, wo sie akzeptiert wurden, wo sie quasi auch ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen konnten.
Wuttke: Waren die Zustände in den Camps Vorwand für die Behörden, womit widerum ein Bild geprägt wurde, das viele Sympathien gekostet hat?
Ullrich: Also auf jeden Fall haben sich die Behörden ja an vielen Stellen lange zurückgehalten, und ich denke, das hängt sehr stark damit zusammen, dass es eine sehr, sehr positive Medienresonanz lange gab und für einen Teil der Anliegen des Occupy-Protestes eben auch eine ganz starke Unterstützung in der Bevölkerung. Und das war kein Klima, in dem solche Camps leicht hätten geräumt werden können. Aber sowie die Aufmerksamkeit zurückgegangen ist, war das quasi medial nicht mehr so interessant. Also, es gibt zwar jetzt zum ersten Geburtstag von Occupy eine sehr, sehr hohe Medienresonanz wieder, aber es war, so wie die Bewegung schwächer geworden ist, ist die Aufmerksamkeit dafür schwächer geworden. Und da ist quasi weniger öffentliche Unterstützung da. Und das macht es solchen Camps natürlich viel schwerer, sich zu halten.
Wuttke: Wenn Sie sagen, erster Geburtstag, dann gehen Sie davon aus, dass Occupy weiter lebt. Kann es was erreichen? Oder muss man nicht doch eigentlich bilanzieren, was ist denn erreicht worden in diesem Jahr?
Ullrich: Also ich würde schon sagen, Occupy hat etwas erreicht. Erstens hat Occupy dazu beigetragen, eine neue Protestform mit zu etablieren – also das ist nicht nur Occupy selbst, die haben das nicht erfunden, aber dass das Campen auf öffentlichen Plätzen, das Besetzen öffentlicher Plätze eine wichtige neue Protestform ist, das ist sicherlich mit auch ein Verdienst von denen. Und Occupy hat einfach es geschafft zu sagen, wir wollen eine solche Krisenpolitik, eine solche Umverteilungspolitik von unten nach oben nicht mitmachen. Und dafür haben sie es geschafft, eine mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen, sie haben es geschafft, dass sich die politische Klasse dazu verhalten musste, also damit haben sie schon etwas erreicht. Aber es war halt auf eine gewisse Art auch so ein Strohfeuer.
Wuttke: Aber ganz definitiv, Herr Ullrich, können Sie uns doch sicherlich die Frage beantworten, warum es besonders in Deutschland so aussichtslos ist, Massen für eine gerechte Gesellschaft zu mobilisieren?
Ullrich: Also, da kommen sehr, sehr viele Faktoren zusammen. Es gibt ohnehin in Deutschland keine Tradition des selbstbewussten Sozialprotestes. Also beispielsweise zu einem selbstbewussten zivilen Widerstand und so weiter, da gibt es keine Tradition. Es gibt eine sehr stark eingefleischte Sozialpartnerschaftsideologie, das heißt, die Vorstellung "Letztendlich ziehen wir alle an einem Strang". Und viele Deutsche haben Probleme mit der Vorstellung, dass es in der Gesellschaft gegensätzliche Interessen gibt, die auch gegeneinander antreten.
Dann hängt es auch damit zusammen, wie sich in der Bundesrepublik über die letzten Jahre die Krise bemerkbar gemacht hat. Das heißt, es gab schon in den letzten zehn, fünfzehn Jahren sehr, sehr starke soziale Einschnitte, das heißt, es gibt auch eine gewisse Gewöhnung, während gerade in Südeuropa in den letzten zwei, drei Jahren es so einen ganz akuten, massiven Einschnitt gab mit einer sehr akuten Krise. Auch Gewerkschaften, die eher moderat sind, Kirchen und so weiter, die sich weniger stark radikalisieren als in anderen europäischen Ländern, also – wenn man das alles zusammenrechnet, dann sieht man, dass es nicht so leicht ist, eine große, auch selbstbewusst und etwas radikal auftretende Protestbewegung in der Bundesrepublik wirklich auf Dauer zu stellen.
Wuttke: Ein Jahr nach Beginn der Empörung ist es still geworden um die Occupy-Bewegung. Warum, das hat im Interview der Ortszeit von Deutschlandradio Kultur der Protestforscher Peter Ullrich erläutert. Besten Dank dafür und schönen Tag!
Ullrich: Ja, Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Ullrich ist Protestforscher am Wissenschaftszentrum Berlin. Einen schönen guten Morgen!
Peter Ullrich: Guten Morgen!
Wuttke: Die Finanzkrise ist noch längst nicht zu Ende, aber es scheint, die Occupy-Bewegung ist am Ende. Warum?
Ullrich: Ich glaube, man muss da zwei interne und zwei äußere Gründe auseinanderhalten. Also offensichtlich ist die Bewegung mit einem großen Vorsprung an Aufmerksamkeit und Wohlwollen gestartet und vielleicht auch ein bisschen überfordert gewesen, das einzulösen, und dadurch umso schneller wieder gescheitert. Ich glaube, zu den äußeren Gründen gehört einmal ein Moment von Repression, das heißt, die meisten Camps wurden ja nicht freiwillig geräumt. Es gehört aber in der Bundesrepublik auch dazu, dass es hier eine Art der Krisenwahrnehmung gibt, die an Intensität und Stärke nicht ganz mit dem vergleichbar ist, wie es beispielsweise die südeuropäischen Länder betrifft oder die USA. Und das hat dazu geführt, dass es hier noch schneller quasi auch vorbei gegangen ist oder dass es schwieriger war, so eine Bewegung auf Dauer zu stellen.
Und zu den internen Gründen muss man sagen, dass die Occupy-Bewegung auf jeden Fall klar eine ziemliche Strukturschwäche hat. Sie hat es nicht geschafft, eine organisatorische Struktur aufzubauen, was eine ganz wichtige Voraussetzung ist, um Proteste auf Dauer zu stellen. Und was als letzter Punkt sicherlich auch noch eine Rolle spielt: Die Bewegung hat sich bewusst verweigert, klare Ziele zu formulieren, weil es erst mal darum ging, einem kollektiven Unwohlsein Ausdruck zu verleihen. Das hat aber auch erschwert, quasi positive Ziele zu formulieren, für die man sich konkret einsetzen kann. Das führt zu einer gewissen Zerfaserung und einer Schwierigkeit, so eine Bewegung wahrzunehmen.
Wuttke: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, was die Erfolgschancen anbelangt, da hat man in Stuttgart, also Stuttgart 21, alles richtig gemacht, aber Occupy Deutschland hätte von Stuttgart 21 lernen können?
Ullrich: Das ist schwer zu vergleichen, weil halt Stuttgart 21 ja wirklich ein ganz konkretes Projekt ist, und das lässt sich natürlich viel leichter angreifen. Und deswegen ging es Occupy ja ganz besonders darum, eine gewisse Unzufriedenheit auszudrücken, ein Wir-haben-jetzt-genug-davon, dass offensichtlich unglaublich viele Gelder zur Krisenintervention schnell bereitgestellt werden können, während Menschen obdachlos werden gleichzeitig. Das ist zwar irgendwie als eigene Unzufriedenheit ziemlich konkret, aber als Analyse dessen, was da passiert und was da falsch ist – das ist natürlich viel komplexer und deswegen nicht so einfach auf den Punkt zu bringen wie "Dieser Bahnhof soll nicht gebaut werden".
Wuttke: Ist es in diesem Zusammenhang wichtig, dass Aktivisten und Betroffene bei Occupy nicht deckungsgleich sind?
Ullrich: Das ist eigentlich bei sehr vielen Protesten der Fall. Wir wissen generell aus der Forschung, dass diejenigen, die protestieren, in der Regel jünger sind, dass sie besser gebildet sind als der Durchschnitt der Bevölkerung, und dass es sehr häufig nicht so eine Entsprechung derjenigen gibt, die vielleicht am härtesten von sozialen Einschnitten betroffen sind und denjenigen, die dagegen protestieren. Und das, finde ich, ist bei Occupy schon im Verlauf ein immer wichtigeres Moment geworden – interessanterweise ist es genau das, was kritisiert wurde häufig, dass nämlich die Camps im Verlauf ihrer Existenz immer mehr auch zu Orten wurden, an denen sich beispielsweise Obdachlose gewärmt haben oder so. Die nicht in erster Linie jetzt politisch agiert haben oder so, vielleicht sich nicht so in die Auseinandersetzung eingebracht haben, aber sie haben einen Anlaufpunkt gefunden, einen Ort, wo sie akzeptiert wurden, wo sie quasi auch ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen konnten.
Wuttke: Waren die Zustände in den Camps Vorwand für die Behörden, womit widerum ein Bild geprägt wurde, das viele Sympathien gekostet hat?
Ullrich: Also auf jeden Fall haben sich die Behörden ja an vielen Stellen lange zurückgehalten, und ich denke, das hängt sehr stark damit zusammen, dass es eine sehr, sehr positive Medienresonanz lange gab und für einen Teil der Anliegen des Occupy-Protestes eben auch eine ganz starke Unterstützung in der Bevölkerung. Und das war kein Klima, in dem solche Camps leicht hätten geräumt werden können. Aber sowie die Aufmerksamkeit zurückgegangen ist, war das quasi medial nicht mehr so interessant. Also, es gibt zwar jetzt zum ersten Geburtstag von Occupy eine sehr, sehr hohe Medienresonanz wieder, aber es war, so wie die Bewegung schwächer geworden ist, ist die Aufmerksamkeit dafür schwächer geworden. Und da ist quasi weniger öffentliche Unterstützung da. Und das macht es solchen Camps natürlich viel schwerer, sich zu halten.
Wuttke: Wenn Sie sagen, erster Geburtstag, dann gehen Sie davon aus, dass Occupy weiter lebt. Kann es was erreichen? Oder muss man nicht doch eigentlich bilanzieren, was ist denn erreicht worden in diesem Jahr?
Ullrich: Also ich würde schon sagen, Occupy hat etwas erreicht. Erstens hat Occupy dazu beigetragen, eine neue Protestform mit zu etablieren – also das ist nicht nur Occupy selbst, die haben das nicht erfunden, aber dass das Campen auf öffentlichen Plätzen, das Besetzen öffentlicher Plätze eine wichtige neue Protestform ist, das ist sicherlich mit auch ein Verdienst von denen. Und Occupy hat einfach es geschafft zu sagen, wir wollen eine solche Krisenpolitik, eine solche Umverteilungspolitik von unten nach oben nicht mitmachen. Und dafür haben sie es geschafft, eine mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen, sie haben es geschafft, dass sich die politische Klasse dazu verhalten musste, also damit haben sie schon etwas erreicht. Aber es war halt auf eine gewisse Art auch so ein Strohfeuer.
Wuttke: Aber ganz definitiv, Herr Ullrich, können Sie uns doch sicherlich die Frage beantworten, warum es besonders in Deutschland so aussichtslos ist, Massen für eine gerechte Gesellschaft zu mobilisieren?
Ullrich: Also, da kommen sehr, sehr viele Faktoren zusammen. Es gibt ohnehin in Deutschland keine Tradition des selbstbewussten Sozialprotestes. Also beispielsweise zu einem selbstbewussten zivilen Widerstand und so weiter, da gibt es keine Tradition. Es gibt eine sehr stark eingefleischte Sozialpartnerschaftsideologie, das heißt, die Vorstellung "Letztendlich ziehen wir alle an einem Strang". Und viele Deutsche haben Probleme mit der Vorstellung, dass es in der Gesellschaft gegensätzliche Interessen gibt, die auch gegeneinander antreten.
Dann hängt es auch damit zusammen, wie sich in der Bundesrepublik über die letzten Jahre die Krise bemerkbar gemacht hat. Das heißt, es gab schon in den letzten zehn, fünfzehn Jahren sehr, sehr starke soziale Einschnitte, das heißt, es gibt auch eine gewisse Gewöhnung, während gerade in Südeuropa in den letzten zwei, drei Jahren es so einen ganz akuten, massiven Einschnitt gab mit einer sehr akuten Krise. Auch Gewerkschaften, die eher moderat sind, Kirchen und so weiter, die sich weniger stark radikalisieren als in anderen europäischen Ländern, also – wenn man das alles zusammenrechnet, dann sieht man, dass es nicht so leicht ist, eine große, auch selbstbewusst und etwas radikal auftretende Protestbewegung in der Bundesrepublik wirklich auf Dauer zu stellen.
Wuttke: Ein Jahr nach Beginn der Empörung ist es still geworden um die Occupy-Bewegung. Warum, das hat im Interview der Ortszeit von Deutschlandradio Kultur der Protestforscher Peter Ullrich erläutert. Besten Dank dafür und schönen Tag!
Ullrich: Ja, Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.